Warum tut Gabriel so etwas?

2016 in Teheran (Foto: Mohammad Hassanzadeh auf wikimedia ommons)

Sigmar Hartmut Gabriel, 1959 geboren, Kommunal- und Landespolitiker, Bundespolitiker, Vizekanzler, Parteivorsitzender, Außenpolitiker und Aufsichtsratsmitglied, Vorstandsvorsitzender könnte Vorzeige-Beispiel für sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg in der sogenannten Boomer-Generation sein. Er könnte beispielhaft die Überzeugung belegen, dass die Verhältnisse der alten Bundesrepublik unglaubliche Chancen boten, aufzusteigen; also auf solchen Wegen, etwas altmodisch beschrieben virtus et honor, Ansehen, Beachtung, Autorität zu erwerben. Hat er aber nicht. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie das zu erwarten gewesen wäre. Wie kommt das?

Gabriel hat sich zu vielen Dingen und Ereignissen zu Wort gemeldet, zu wichtigen und möglicherweise weniger wichtigen. Dem Westen empfahl er 2018: wir dürfen „uns auf gar keinen Fall durch die Ukraine in einen Krieg hineinziehen lassen“. https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-wollte-uns-in-einen-Krieg-ziehen-article20748908.html
Wenige Jahre später forderte er: „„Wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen, wie wir das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gemacht haben.“ Wenn es nicht anders gehe, dann auch durch Bundeswehr in der Ukraine. https://www.fr.de/politik/sigmar-gabriel-putin-russland-nato-scholz-bundeswehr-soldaten-truppen-ukraine-krieg-zr-93125130.html

Wie passt das  zusammen? Noch im Februar 2022, als Hunderttausende russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine aufmarschiert waren, verteidigte er North Stream 2 und den Verkauf des größten Gasspeichers der Republik an ein russisches Unternehmen als richtig. https://www.wiwo.de/unternehmen/energie/sigmar-gabriel-nord-stream-2-war-ein-richtiges-projekt/28032938.html

Bei dieser Gelegenheit äußerte er sich distanziert zum Treiben in den sogenannten sozialen Netzwerken. („…ich lasse mich grundsätzlich wenig von Kommentaren in sozialen Netzwerken leiten.“) Aber als der frühere Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise sich im Spiegel zu jungen, wie er meinte, arbeitsunwilligen jungen Leuten äußerte („Es gibt in Deutschland 260.000 junge Menschen zwischen 25 und 45, die seit längerer Zeit nicht arbeiten, obwohl sie alle Kriterien für Erwerbstätigkeit erfüllen. Das ist in dieser Dimension nicht hinnehmbar.“), war Gabriel offenkundig im Juli 2024 nicht mehr zu halten, er textete auf X: „Ich befürchte, er hat Recht….Und wer wohlhabend ist, macht auf Kosten von Mama und Papa nach der Schule erstmal ein ‚Sabbatical‘ und danach eine 4-Tage-Woche …“.  https://web.de/magazine/politik/sigmar-gabriel-schiesst-kinder-wohlhabender-39914004

Warum tut Gabriel so etwas?

Auf den ersten Blick bin ich geneigt, Gabriels „populistische Anwandlungen“ als etwas  spleenige Überheblichkeit zu werten. Aber das stimmt nicht. Der Mann hat am 16. Oktober in der FAZ einen Wortbeitrag geliefert, der zu einer anderen Erklärung führt. Er schrieb unter der Überschrift „Die besondere Wirklichkeit der SPD“: „Das Vertrauen großer Teile der deutschen Wahlbevölkerung in die Glaubwürdigkeit von Politik ist inzwischen so beschädigt, dass aus Politikverdrossenheit längst eine Politikerverachtung geworden ist.“ Beschädigung der Glaubwürdigkeit – Verdrossenheit – Verachtung. Ein Strang, der dorthin führt, ein bewegender Grund. „Sie“, schreibt er weiter, die Verachtung, „ist das Spiegelbild jener Verachtung, die sich hinter der Vermutung von Parteien verbirgt, die Wähler seien letztlich zu dumm, um die Kulissenschieberei ihrer Wahlkämpfe zu verstehen.“ Und Gabriel warnt die SPD davor, sich an Wählerverachtung zu beteiligen. Die FAZ-Rubrik, in der das  erschien, heißt übrigens „Fremde Federn“.

Wen meint Gabriel hier? Im Text taucht außer der SPD keine andere Partei auf, weder eine der Unionsparteien, FDP, Grüne noch BSW, AfD oder andere. Als Belege führt er Äußerungen von Ingeburg Bachmann (die sich nicht mehr wehren kann) und des Wissenschaftlers Steffen Mau an. Wenn Gabriel andere als die SPD meint: Warum nennt er sie nicht?

Ausgelöst wurde Gabriels Unmut durch ein jüngstes Wirtschaftspapier der SPD-Spitze, in welchem diese sich dafür aussprach, für die Masse der Steuerpflichtigen  („95 Prozent“) Steuern zu senken und für das „oberstes ein Prozent“ zu erhöhen. Gabriel nennt das, sich in die „scheinbar sicheren Wärmestuben sozialdemokratischer Steuerromantik zu verkriechen“. Das kann man nun lustig finden oder nicht; es wenig tauglich finden, ein solches Papier öffentlich so zu präsentieren. Aber was treibt den Vorstandssprecher von Bank und Betrieb Gabriel, den früheren Helfer des Fleischverarbeitungsfürsten Tönnies et cetera pp zu solchen Sottisen? Hat er Probleme mit der Einkommensteuererklärung, die er auf diese Weise „sublimiert“? Will er auf seine älteren Tage Rechenschaft ablegen? Methodisch, aber sicher nicht inhaltlich orientiert an Günter Eichs  Gedicht „Latrine“

„ Über stinkendem Graben,
Papier voll Blut und Urin,
umschwirrt von funkelnden Fliegen,
hocke ich in den Knien…?

Nein, gewiss nicht. Aber könnte nicht sein, dass zutrifft, was am selben Tag in der FAZ auf Seite 12 aus der Feder des Schriftstellers Alexander Estis zu lesen war: „Der Populismus ist der wichtigste Zuarbeiter des Rechtsextremismus.“ Das trifft es wohl.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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