Archie Shepp ist eine Ikone des freien Jazz . Er war ein enger Freund und Weggefährte des stilbildenden Saxofonisten John Coltrane und u.a. an den wichtigen Coltrane-Platten, “A Love Supreme“ und “Ascension“ beteiligt. Außerdem ist Shepp einer der herausragenden Intellektuellen der Black Community der vergangenen 50 Jahre. Als Aktivist, Musiker und langjähriger Professor für Afroamerikanische Studien hat er Generationen von insbesondere schwarzen Jazzmusikern maßgeblich mitgeprägt. Anlässlich des Enjoy Jazz Festivals 2016 – das Festival findet jährlich im Oktober und November in den Städten der Rhein-Neckar-Region Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen statt – führte Enjoy Jazz mit Archie Shepp kurz nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten ein Interview, das noch heute von erstaunlicher Aktualität ist.
Shepp sagt von sich selbst, dass er einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat. Der komme daher, dass seine Großmutter und seine Eltern ihm den Respekt vor den Menschen mitgegeben und ihn sensibilisiert hätten für eine insbesondere rassistisch motivierte Respektlosigkeit, für Armut und für Ignoranz mitgegeben haben. Der Weg, überhaupt etwas in den USA zum Positiven zu verändern, führe ganz sicher über eine Auseinandersetzung, die auf einem grundlegenden Respekt vor dem Menschen und dem Menschlichen beruhe. Aber er gibt offen zu, dass es ihm häufig immer noch sehr schwer fällt, seinen Zorn und seine Enttäuschung zurückzuhalten.
Das Scheitern Barack Obamas
Den Wechsel zu Präsident Barack Obama bei den Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten 2009/2012 nennt Shepp einen „gewaltigen Schritt“. Er ist der Ansicht, dass insbesondere die weiße Arbeiterschaft, aber auch Teile der weißen Mittelschicht Obama nie als Präsidenten angenommen haben. Er habe es auch nicht geschafft, diese Leute später an sich zu binden. Im Gegenteil: gerade die rassistisch bedingte Kluft innerhalb der Gesellschaft wurde eher größer in Obamas Amtszeit. „Vereinfacht gesagt, wurden die Hoffnungen darauf enttäuscht, Geld in neue Jobs für eben diese Benachteiligten zu stecken.“ Denn faktisch habe die Obama-Administration das Geld vor allem in die Aufrechterhaltung des Bankensystems gesteckt. Bei denen, die ihm ohnehin schon skeptisch gegenüberstanden, sei letztlich nichts angekommen.
Hinzu kam, dass er natürlich immer gegen die republikanische Mehrheit im Kongress regieren musste. Dies habe seinen Spielraum extrem eingeschränkt. Selbst so offensichtlich wichtige Neuerungen wie Obama Care, die allgemeine Krankenversicherung, trafen vor allem am rechten politischen Rand auf erbitterten Widerstand.
Gescheitert sei Obama aber vor allem an seiner Job- und Bildungspolitik. Auch unter Obama setzte sich eine unheilvolle Spirale fort, dass die Armen immer ärmer und die Reichen reicher wurden.
Weiße Männer und ihre Angst vor Frauen
Archie Shepp war der Überzeugung, dass der Wahlerfolg von Donald Trump im Jahr 2016 vor allem darauf basierte, dass viele, vor allem aber die weiße Bevölkerung das liberale Experiment mit einem schwarzen Präsidenten als gescheitert betrachteten. Sie wollten „kein erneutes vermeintliches Risiko“ eingehen, nämlich die Wahl der ersten weiblichen Präsidentin. In der damaligen Situation, so Shepp, wäre es klüger gewesen, Hillary Clinton vor diesem problematischen Hintergrund besser nicht aufzustellen. Damals sei bereits klar gewesen, dass eine sehr gewichtige Säule der Wählerschaft, nämlich weiße Männer, ihr die Gefolgschaft versagen würden. Ihr Ansehen in dieser Gruppe war schlechter, als das von Obama jemals war.
Archie Shepp weist auf ein Grundproblem in der Geschichte der Vereinigten Staaten hin: Schwarze Männer erhielten das Wahlrecht im Jahre 1865, weiße Frauen erst 1920. „Man könnte also sagen: historisch und politisch gesehen, haben weiße Männer in den USA mehr Angst vor ihren eigenen Frauen als vor schwarzen Männern.“ Soweit die Analyse Archie Shepps.
2024 – eine andere Situation?!
Es gibt Gründe, dass die Aufstellung von Kamala Harris als Präsidentschaftskandidatin in diesem Jahr eine gute Entscheidung ist und sie größere Aussichten hat, zur ersten Präsidentin der USA gewählt zu werden. Donald Trump war während seiner Amtszeit bekanntlich in eine Vielzahl von Skandalen verwickelt. Er ist ein diskreditierter Politiker und Bürger. Dennoch scheint er, wenn die Meinungsumfragen in den USA irgendeinen diagnostischen Gebrauchswert haben, nicht chancenlos zu sein.
Dies scheint damit zu tun zu haben, dass jeder Skandal, den er überstanden hat, gegen weitere Ansteckung immunisiert. Alle, die gegenwärtig insgeheim hoffen, dass die Vielzahl der Skandale Trumps ein triftiger Grund gegen seine Wahl sind, könnten sich irren. Denn wenn sich Donald Trump als ein politischer Überlebenskünstler erweist, könnte sich das Blatt zu seinen Gunsten, oder besser gegen die Demokraten wenden: weil sie „unfähig“ waren, die Sterne vom Himmel zu holen.
Die demokratische Partei in den Vereinigten Staaten weiß offenkundig um diese Gefahr. Denn sie tut alles, um eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Alles wird wohl darauf ankommen, wie die Wahler:innen, die zu keinem der beiden Lager gehören, zu grundlegenden demokratischen Tugenden stehen. Und ob sie die Auffassung der diesjährigen Nobelpreisträger für Wirtschaft teilen, die gezeigt haben, dass eine demokratische Verfassung das Beste für die Zukunft eines Staates ist.