Dass sich der Ende Oktober verstorbene Edzard Reuter nach seinem Ausscheiden als Daimler-Chef mit großem Einsatz für eine lebendige Demokratie und kritischen Journalismus einsetzte, findet zwar in vielen Nachrufen bundesweit angemessene Erwähnung. Dass sich dieses Engagement in seiner langen Lebensspanne von 1996 (1987 bis 1995 war er Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG) bis zu seinem Tod jedoch ganz wesentlich darin konkretisierte, sich vehement gegen Stuttgart 21 zu stellen, bleibt durchweg unerwähnt. Reuter sah Stuttgart21 – und das ist die Aktualität seiner Positionierung – als „Verbrechen an der Demokratie“, als „politischen Betrug“ und als Musterbeispiel dafür, wie man politische Glaubwürdigkeit verspielen kann.
So antwortete Reuter 2020 in einem Video-Interview auf Fragen von Ex-Stadtrat Tom Adler:
„Stuttgart 21 ist für mich ein politisches Beispiel für eine Entwicklung, die es in Deutschland nicht geben darf, nicht geben sollte und hoffentlich nie wieder geben wird, nämlich die Geschichte eines politischen Betrugs. Dieses Stuttgart 21, angeblich legitimiert durch eine Mehrheit der Bevölkerung in Baden-Württemberg in dieser Volksabstimmung, die zu Stande gekommen ist und basierte auf vorgetäuschten Zahlen, die nicht stimmen, die damals schon nicht stimmten und von denen die politischen Verantwortlichen und auch die bei der Bahn Verantwortlichen, wussten, dass sie niemals stimmen. Es wurde der Bevölkerung vorgegaukelt, dass dieses Projekt 2 Milliarden kosten würde, in Wirklichkeit wird’s zum Schluss 10 Milliarden kosten. Dafür, dass plebiszitäre Demokratie, also unter Ausschaltung der Verantwortlichen repräsentativen demokratischen Gremien, ganz leicht zu einer Katastrophe führen kann, wenn die Daten die solchen Volksabstimmungen zu Grunde liegen, getäuscht, erfunden, herbei gelogen werden, und das ist das, was mich eigentlich so ärgert.“ (ObenbleibenTV/Martin Storz)
… oder in einer SWR-Talkrunde 2015:
„Mithilfe dieses Instrumentariums [manipulierter Kostenprognosen] ist das Projekt dann zum Schluss mit dem Brecheisen durchgesetzt worden. … Das ist etwas, dass dazu führt, dass die allgemeine breite Öffentlichkeit, Sie, ich, wir alle, einfach nicht mehr glauben, was uns oben erzählt wird. Das ist das ganze Thema der Glaubwürdigkeit und das zehrt an den Wurzeln unseres demokratischen Systems. Darum geht’s mir.“ (Aus SWR- Talkrunde 11/2015)
Empört hat Reuter als langjährigen Chef eines global tätigen Technologiekonzerns, wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel Stuttgart21 zu „einem Symbol für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ hochjubelte. Dass das auch unter tätiger Mithilfe seiner SPD geschah, darunter litt Reuter genauso wie sein Parteifreund und Verbündeter Peter Conradi. Die Art, in der S21 auch „von der Presse im Land, besonders wirkmächtig von der in Stuttgart ansässigen, hochgeschrieben wurde“, war wohl einer der Gründe, warum sich Reuter von Anfang an beim Aufbau der (medien-) kritischen Wochenzeitung kontext (mittwochs online, samstags als Beilage der bundesweiten taz) engagierte, langjährig dort als Vorsitzender des Medienbeirats und auch als Autor aktiv war.
Gern hätte man auch von Reuters langer und intensiver Freundschaft zu dem Bildhauer Peter Lenk gelesen, dessen obrigkeitskritische Skulpturen er bewunderte. Ins Bild passt da, dass die Stadtoberen dessen S21-karikierende Skulptur „Der schwäbische Laokoon – Chronik einer grotesken Entgleisung“ mit ihren vielen Lenk-typischen, teils nackten Portraitierungen der Verantwortlichen, 2020/21 nur wenige Monate in Stuttgart ertrugen. Das Vorwort zu dem Buch „Peter Lenk – Zoff im Spätzlesumpf“ schrieb – Edzard Reuter!
Co-Autor dieses Beitrags ist Martin Poguntke, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21.
Siehe auch
die Video Zusammenstellung „Edzard Reuter – ein kurzer Nachruf auf ein langes Leben“ von Klaus Gietinger und
„Es muss viel mehr gestritten werden„, ein Interview aus 2015
von Wolfgang Storz und Pit Wuhrer mit Edzard Reuter.
Da hat sich ein Zahlendreher eingeschlichen: 1928 ist Reuers Geburtsjahr.
@ Sascha A. Carlin: Danke für den Hinweis, ich denke, er bezieht sich auf die Formulierung „in seiner langen Lebensspanne von 1996 bis zu seinem Tod“. Sie ist in der Tat missverständlich und wurde jetzt konkretisiert.