Noch einmal strömten die Menschen, jung und alt, in das Arsenal und die Giardini in Venedig: Es ist das vorletzte Wochenende der 60. Biennale, die nach sieben Monaten am 24. November zu Ende gegangen ist. Welche Anziehungskraft diese Schau alle zwei Jahre doch immer wieder hat. Außerhalb des Trubels der Wochenenden ziehen Kinder und Jugendliche in großen und kleinen Gruppen durch die Hallen, sitzen im Kreis vor dem einen oder anderen Bild: der Kunstunterricht in der Lagunenstadt und auch weit darüber hinaus findet hier vor Ort statt. Doch was bleibt von dieser gigantischen Schau hängen mit dem Motto „Fremde überall“, „Foreigners everywhere“? Nicht ein künstlerischer, sondern ein politischer Blick sei gewagt: Es ist mein politischer Blick.
Wie immer streife ich zunächst durch das Arsenal, diese eindrucksvolle Schiffswerft, in der vor Jahrhunderten alle die Boote gebaut und mit Waffen ausgestattet worden sind, mit denen die Venezianer die damalige Welt um das Mittelmeer herum eroberten und ausbeuteten (vor allem mit Holz, dem Fundament der Serenissima). In dieser Stadt mit den engen, engsten Gassen und Gässchen ist allein die Größe dieser heutigen Militäranlage eine Demonstration von Macht. Und ganz am Ende, wo sich das Hafenbecken bereits zur Lagune hin öffnet und die Besucherschar überschaubar geworden ist, sind die letzten beiden Pavillons reserviert für zwei Staaten, die in Venedig die Macht haben: Formal Italien, tatsächlich China, das vom Flughafen, über Luxushotels in einstigen Palazzi bis zum Souvenirhandel seinen ökonomischen Einfluss in den letzten zwanzig Jahren ständig ausgeweitet hat.
Und die Selbstdarstellung dieses „Reichs der Mitte“ in der großen ehemaligen Werkshalle unterstreicht in einer Deutlichkeit einen Machtanspruch, der weit über das Künstlerische hinausgeht. Vorbei scheinen die Zeiten der Kulturrevolution zu sein, der Auslöschung von Religion, Tradition und Mythen. Alte mythische Figuren drehen sich auf Stelen im Kreis, zusätzlich groß bespiegelt in Videos; in Schaukästen sind kostbare Schriften und wertvolle Bücher ausgestellt. Mit alten und neuen Stempeln der traditionellen, aus dem Kalender des Kaiserreichs stammenden zwölf Tierkreiszeichen beglückten bildschöne, weißgekleidete Chinesinnen die Besucherinnen und Besucher bei der Eröffnung der Biennale im April (ein Video hielt dieses Ereignis fest): Dieses Jahr 2024 fiel wieder einmal auf den Drachen. Und diese Selbstdarstellung als eine alte Kultur(welt)macht findet im Katalog und im Internet ihre politische Begründung.
Die Zeit der Konflikte und der Konfrontationen, der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen sei vorbei, heißt es in der offiziellen Beschreibung in Englisch. Angesichts von bedrohter Umwelt und Mitmenschlichkeit müsse ein Paradigmenwechsel vorgenommen werden: in Weisheit und eingehüllt („embedded“) in die traditionelle chinesische Kultur gelte es, die Harmonie der Verschiedenheit zu verbreitern, eine harmonische Koexistenz und geteilte Schönheit anzustreben (Seite 383 im „kleinen“, internationalen Katalog, dem „short guide“). Welche Bedeutung haben solche Selbstdarstellungen auf einer Ausstellung wie der Biennale? Wird die Kunst zum Test für Machtansprüche?
„Every day war“ in Taiwan
Spätestens im Palazzo delle Prigioni, einen Steinwurf vom Markusplatz entfernt, ist von dieser “harmonious coexistence” und “harmony in diversity” nichts mehr zu spüren. Als „eventi collaterali“ zeigt der taiwanische Künstler Yuan Goang-Ming in sieben Videos die alltägliche Bedrohung durch den chinesischen Machtanspruch, der über dem Staat, der Hauptstadt Taipeh und seinen Bewohnern lastet: Über die menschenleere und erstarrte Stadt fliegt unter ständigem Luftalarm und Sirenengeheul eine Fotodrohne; in einem kleinen Arbeitszimmerr mit Bett und Laptop zerbrechen plötzlich mit lautem Knall die Fensterscheiben, die Glassplitter fliegen durch den Raum, eine Granate lässt schließlich den Raum in Flammen aufgehen. „Every day war“ nennt der Künstler, der 1997 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe seinen Master gemacht hat, seine Präsentation und fragt angesichts einer unwägbaren ständigen Bedrohung: Was ist Leben, was ist Sicherheit, was ist Freiheit?
Er stellt diese Fragen nicht in den offiziellen Räumen der Biennale. Dort sind die nahen und fernen Kriege weit weg: Russland hat seinen Pavillon Bolivien zur Verfügung gestellt. Das Land bedankt sich dafür überschwänglich und mit großem Pathos: Mit knallbunten Federbildern und in der hohen Halle schwingenden Federballons, Federn, die hoffentlich nicht von den wenigen Vögeln aus dem Urwald stammen, sondern von Hühnerfarmen. Geschlossen und von zwei schwer bewaffneten Soldaten bewacht ist und bleibt der israelische Pavillon: die Künstlerin Ruth Patir wollte ihre Kunst erst zeigen, wenn die Hamas die nach dem Massaker am 7. Oktober 2023 verschleppten Geiseln freigelassen hätte. Eine Geste, die auf dem Gelände der Giardini ohne jede Antwort blieb. Rund um das Gebäude gab es keinerlei Zeichen der Anerkennung oder der Empathie. Aber auch keine roten Dreiecke der Hamas-Unterstützer oder Aufkleber der Free-Palestine-Bewegung. Die brutalen Kriege in der Ukraine und Nahost blieben ausgeblendet.
Wäre da nicht Pavel Miguel. In einem der beiden winzigen Parks zwischen dem Arsenal und den Gardini steht seine überlebensgroße Pietá: zwischen kümmerlichen Bäumchen und vor der Kulisse der typischen venezianisch-roten Häuser sitzt eine riesige, eher abgehärmte Maria und hält auf ihrem Schoß einen ebenso riesigen toten Soldaten in schwerer Uniform und klobigen Stiefeln. Diese Maria sitzt auf keinem Himmelsthron, sondern auf einer grün-rostigen Waffenkiste. Ihre rechte Hand umfasst den Toten, die linke ist zu einer hilflosen Geste in der Luft erstarrt. Die Wucht, die von dieser Plastik des in Deutschland lebenden und arbeitenden Kubaners ausgeht, ist kaum zu beschreiben. Jeder, der in diesen Gardino di Ponente, meist zufällig, spaziert, hält inne, oft erschrocken oder irritiert, wie drei sehr junge deutsche Frauen, Studentinnen vielleicht. Sie wissen das Bild der Pietá, der trauernden Maria mit ihrem gekreuzigten, toten Sohn Jesus, nicht zu deuten: das geben sie im Gespräch mit mir in großer Offenheit zu. Aber sie wehren sich auch gegen die Wucht des Schmerzes und der Anklage, mit der sie sonst auf dieser Biennale kaum konfrontiert worden sind. „Ja“, sagen sie alle drei vor dieser Pietá, „diese Kunstausstellung bietet eine Bilderflut zum Wohlfühlen. Aber ist das falsch? Ist die Welt nicht schrecklich genug?“ Sie ist es, aber die Kunst sollte, darf ihr nicht ausweichen.