Klaus West [„Alter und neuer Glaube an große Männer„] moniert, eine übertriebene Personalisierung führe zu Vereinfachungen von „komplexen politischen Verhältnissen“, damit zu fahrlässigen Fehleinschätzungen des Zeitgeschehens und in Folge zu irreführenden Debatten in Gesellschaft und während Wahlkämpfen. Heute sei das wieder so: „Eine übermäßige Fixierung auf die Person sei … bedauerlicherweise sehr verbreitet.“ Die Ursachen für diesen gravierenden Missstand sieht West in der abnehmenden Bereitschaft in Teilen der Bevölkerung, bedeutende, auch komplexe politische Inhalte aufzunehmen und intellektuell zu verarbeiten. Eine Folge: Massenmedien passten sich dem an, personalisierten mehr denn je und setzten auf mehr Buntes. Die digitalen „unsozialen“ Medien verstärkten diese Tendenz, schufen sie doch mit leichter Hand für alle, die wollten, „Plattformen für den Rückzug in abgeschirmte Echoräume von Gleichgesinnten“ und damit zahllose miteinander konkurrierende kleine Öffentlichkeiten.
Den Darlegungen kann im Prinzip nicht widersprochen werden. Der übermäßig negativen Bewertung von Personalisierung und der übertriebenen Darstellung von Gefahren übertreibender Personalisierung sollen jedoch deren überwiegende Vorteile entgegengehalten werden.
Gibt es eine Alternative?
Was ist problematisch daran, wenn sich BürgerInnen an Söder, Habeck, Scholz, Baerbock, Rehlinger, Prien, Kretschmer, Weidel und Wüst und deren Entscheidungen, Reden und Tun orientieren? Nichts. Zumal diese ihnen auf den Laufstegen der Politik in Herkunft, Typ, Leistung, Idee, Erfahrung, Charakter fass- und sichtbare sachliche und emotionale Alternativen anbieten. Zumal der Wählerschaft in einer Demokratie, in der über Wahlen einzelne Menschen in Ämter gewählt werden, um Aufgaben der Allgemeinheit zu erledigen, gar nichts anderes übrig bleibt, um sich zu orientieren. Wie sich orientieren ohne Personalisierung? Gibt es eine Alternative?
Zumal es gerade in einer repräsentativen Demokratie einen ebenso pragmatischen wie angemessenen Impuls, oft ein tiefes Bedürfnis der Wahlbevölkerung gibt, die Verantwortung für Entscheidungen, für Tun und Unterlassen konkret zuzuordnen und zuzurechnen. Und das geht nur über Personalisierung. Oder? Gerade in Angesicht einer zunehmend undurchschaubar werdenden Mehr-Ebenen-Politik von Gemeinde, Region, Land, Bund, EU und weiteren internationalen Organisationen, die erlaubt, Aufgaben, Verantwortung, Verdienst und Verschulden nach Belieben zu verschieben. Wie anders als über eine, auch übertriebene Personalisierung soll ein normaler berufstätiger Wahlbürger in dieser Welt Verantwortung und Verantwortliche dingfest machen. Ein aus Sicht der Wahl-BürgerInnen ebenso unaufwändiges wie wirkungsvolles demokratisches Instrument, das ihnen eine permanente Bewertung des Tun und Lassen von letztlich unerreichbaren PolitikerInnen ermöglicht.
Und worin liegt denn der Schaden einer übertriebenen Personalisierung? Dass öffentlich ein bisschen zu lange und zu intensiv über Hemdfarbe, Mimik, Umfrage- und Beliebtheitswerte geredet wird? Das mag sein, ist aber allemal verkraftbar.
Als omnipotent inszenieren
So hilft nicht, die potentiellen Gefahren der übermäßigen Personalisierung zu übertreiben, es hilft jedoch, dieses Instrument in vielerlei Hinsicht zu ergänzen und zu vervollkommnen. West selbst macht einen guten Vorschlag, anhand eines Beispiels, das Kanzler Scholz betrifft. Zitat: „Der Bundeskanzler hätte mit dem Zeitenwende-Projekt von Anfang an plausibel machen sollen, welche Bedingungen und Vollmachten er benötigte, insbesondere für einen erfolgreichen ökologischen Umbau der Gesellschaft.“ So hätten, West weiter, „die Bürger:innen etwas von den Begrenzungen des Handlungsspielraums eines Bundeskanzlers verstehen können“. Prima. Denn das gehört zur Personalisierung: Der Amtsträger macht klar, eigentlich will ich das erreichen, aber dafür reichen meine Befugnisse nicht oder die Ressourcen oder ein anderer ist zuständig oder was auch immer. Zurück zum Beispiel: Was hindert den amtierenden Bundeskanzler daran, dies offenzulegen? Nichts und niemand. Klaus West klagt: „Selten wird die Frage öffentlich erörtert, welchen Einschränkungen Präsident:innen und Ministerpräsident:innen unterworfen sind.“ Tja, dann sollen die Betroffenen es eben öffentlich sagen, die PolitikerInnen haben dazu alle kommunikativen Möglichkeiten. Warum tun sie es nicht oder nach Analyse von West viel zu selten? Vielleicht weil sie sich zu gerne zu oft öffentlich als omnipotent inszenieren wollen.
Ein weiteres aktuelles Beispiel wie Personalisierung sinnvoll begrenzt beziehungsweise verlagert werden könnte: In diesen Wochen tun alle führenden PolitikerInnen so, als hätten sie Kraft und Kompetenz die deutsche Autoindustrie und deren Arbeitsplätze zu retten. Haben sie die Kraft? Nein. Ist es ihre Verantwortung? Nein. Sie sprechen trotzdem nicht aus, was jede vernünftige Bürgerin, jeder vernünftige Bürger weiß: Es sind die Manager und Eigentümer, am Rande auch die Gewerkschaften, die — jahrelange Warnungen ignorierend — als Geisterfahrer in ihren teuren Verbrennerautos den zunehmend wuchtigeren Markttrends entgegenbretterten. Geld genug haben sie damit verdient: Allein 2023 schütteten die drei Konzerne VW, BMW und Mercedes 13 Milliarden Euro an Aktionäre aus. Personalisierung heißt in diesem Fall: Die Politiker grenzen sich ab und stellen die auf die Bühne, die das Desaster an erster Stelle zu verantworten haben, die auch vor allem Verantwortung, Geld und Kompetenzen haben, um doch noch die Kurve zu kriegen — das sind Oliver Blume, VW-Vorstandsvorsitzender, seine Vorgänger, seine Autokonzern-Kollegen.
Einfach nur komisch
Noch ein Beispiel von Klaus West, das sich um Olaf Scholz dreht. Er merkt kritisch an: „Olaf Scholz gilt in Medienkreisen bekanntlich als zaudernder, zögernder, wortkarger Medienmuffel. Wenn die Wahrnehmung eines Regierungschefs auf dieses Gleis gerät und sich eine personalisierende, psychologisierende Betrachtungsweise breit macht, hat man sich vom Interesse an den Handlungsmöglichkeiten der Politik verabschiedet.“ Auch das ist meines Erachtens eine viel zu negative Sicht auf die Methode Personalisierung. Hängen schließlich Auftreten eines Politikers und sein Handlungsspielraum in Wechselwirkung engstens miteinander zusammen. Denn was ist eines der wichtigsten Machtinstrumente eines demokratischen Politikers: die Sprache, das Reden, das Überzeugen, das Mobilisieren, die Kraft sich öffentlich auch harten Auseinandersetzungen zu stellen.
Donald Trump mobilisiert seine Anhänger und mehrt sie, mit seinen — diplomatisch formuliert — ungewöhnlichen Ideen, seiner Aggression, seiner Sprache. Britische Politiker führten ihr Land, was als undenkbar galt, aus der EU. Es geht hier nicht darum, ob Ziele und Entscheidungen richtig und gut sind. Es geht hier darum zu zeigen, was demokratische PolitikerInnen mit demokratischen Instrumenten bewegen können. Zurück zum Beispiel: Was bedeutet das in Sachen Olaf Scholz? Das heißt, wer versucht zu überzeugen, wer sich müht, wer sich den Konfrontationen stellt, der erntet Anerkennung, Respekt und mehrt damit seine politische Kraft, der weitet seinen Handlungsspielraum, bei den Verbänden, bei Wahlen, auch in den bürokratischen Apparaten der Politik. So ist die von Klaus West zusammengefasste Analyse des öffentlichen Verhaltens von Kanzler Scholz zutiefst politisch und wertvoll für Auseinandersetzungen in einer repräsentativen Demokratie. Denn wer zur Ukraine-Militärhilfe sagt: Erstens sage ich nichts, zweitens sage ich, dass Ich das mache, was Joe Biden entscheidet. Denn wer zu der Petition der 1,5 Millionen BürgerInnen wegen eines Böller-Verbots sagt: Ach, ein Böller-Verbot, na ja, das sei doch „einfach komisch“. Wer das als öffentliches Argumentieren, als öffentliches Auseinandersetzen versteht, der ist nicht einmal nur zaudernd muffelig, der ist einfach nur komisch. Und sollte möglichst wenig Handlungsspielraum haben.