Politik ist (k)ein Spiel

Bild: geralt auf Pixabay

„Politik ist kein Spiel“, verkündete der Bundeskanzler im Brustton der Empörung an die Adresse der FDP. Olaf Scholz sagte es genau in dem Moment, in dem er mit der Vertrauensfrage – spielte. Bei der für ihn selbst wichtigsten Frage, die ihm sein Amt zu stellen erlaubt, machte er, was man im Spiel immer macht: Er tat so als ob. Wie Kinder Stühle in Ponys und Stöcke in Laserschwerter verwandeln, so nutzte er die Vertrauensfrage als Instrument, um sich das Misstrauen aussprechen zu lassen. Wie in jedem Spiel musste er sich dabei darauf verlassen, dass die anderen mitspielen. „Wir alle spielen Theater“ ist sehr viel mehr als ein bekannter Buchtitel von Erving Goffmann1, nämlich eine Lieblingsmetapher der Literatur und eine Grunderfahrung modernen Lebens. Die Politik hat ein echtes Problem damit.

Man weiß ziemlich genau, was das ist, ein Spiel, wann es anfängt und endet, aber sobald man es formulieren soll, beginnt das Stottern. Sagen wir für den Einstieg mal so:
Spielen heißt, im Modus eines unverbindlichen Tuns als ob freiwillig, zeitlich, oft auch räumlich markiert, immer wieder neu mit Unerwartetem umzugehen.2
Die Gemeinsamkeit, der Eindruck eines (Schau-)Spiels liegt in unserem Fall im Als ob, der entscheidende Unterschied im Adjektiv unverbindlich. Hätten Scholz und der Deutsche Bundestag tatsächlich nur gespielt, stünden keine vorgezogenen Neuwahlen an.

Weit über die klassische Metapher von der Welt als Bühne hinaus – „Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frauen und Männer bloße Spieler“ heißt es bei Shakespeare – werden an normalen sozialen Beziehungen, in Interaktionen, an Organisationen und Institutionen, immer öfter ludische Elemente entdeckt. Am schnellsten und häufigsten fällt das „Tun als ob“ ins Auge. Jeder Werbespot, tausendundeine Inszenierung, offline wie online, mit und ohne Agenturberatung, leben davon. Aber auch der „Umgang mit dem Unerwarteten“ (wer weiß, wie die Würfel fallen, die Kugel rollt, die Karten liegen, die Bälle fliegen, der nächste Spielzug aussieht?) gehört zum modernen Alltag und verlangt laufend Entscheidungen, wie es jetzt weitergehen soll.

Nach der Schlammschlacht Arm in Arm

Doch wir wollen uns auf Politik konzentrieren. Schon öfter ist aufgefallen, dass einige bekannte Politiker eine Vergangenheit bei Film, Fernsehen und Theater haben, etwa der Präsident der Ukraine, auch Ronald Reagan, Arnold Schwarzenegger und Donald Trump, übrigens auch Clint Eastwood, der, wie Wikipedia weiß, als Bürgermeister seines kalifornischen Heimatortes Carmel sein Wahlversprechen einlöste, den Verkauf von Speiseeis auf öffentlichem Grund wieder zu erlauben. Politik hat das Problem, dass ihre Praxis spielerischem Verhalten besonders nahe kommt und es zugleich Politiker:innen besonders übel genommen wird, wenn es so aussieht, als verhielten sie sich wie Spieler. Der Vorwurf mangelnden Verantwortungsbewusstseins, der Leichtfertigkeit, der Rücksichtslosigkeit schwingt dabei mit. Man sieht Hasardeure vor sich, die sich auf ihr Glück verlassen und auf den Zufall hoffen, statt mit Sachkenntnis und Fachkompetenz aufzufallen, Scharlatane, die vorgaukeln, sich für das Allgemeinwohl einzusetzen, während sie nur ihre persönliche Karriere verfolgen. Nicht selten wird ein Bild von Politik gezeichnet „als Nebeneinander von Illusionstheater und schmutzigen Geheimnissen“ (Claus Offe3).

Dass das öffentlich präsentierte Verhalten von Politiker:innen nicht ernst gemeint sein und nicht ernst genommen werden kann, dieser Eindruck drängt sich am stärksten im Wahlkampf auf. In der Konkurrenz um Wählerstimmen setzen die Parteien immer auch auf negative campaigning mit gegenseitigen Vorwürfen, Verdächtigungen, Skandalisierungen, mit Schimpf und Schande. Das wäre vergleichbar mit Werbekampagnen des deutschen Lebensmittelhandels, in welchen Rewe den Konkurrenten Aldi und Kaufland vorwirft, gesundheitsgefährdende Produkte zu führen, während Aldi völlig überzogene Preise bei der Schwarz-Gruppe und bei Rewe anprangert, während Kaufland die Ausbeutung der Mitarbeiter:innen bei Rewe und Aldi kritisiert. Verdrossenheit und tiefes Misstrauen wären Kunden-Reaktionen. Aber in Wirklichkeit machen sie alle lupenreines positive campaigning.

Die politischen Kandidat:innen verlassen sich im Wahlkampf offenbar nicht darauf, dass ihnen getraut und Gutes zugetraut wird, sondern scheinen in erster Linie darauf zu hoffen, dass ihre Konkurrent:innen noch schlechter dastehen als sie selbst. Am Ende wird eine Schlammschlacht aufgeführt, der das Wahlpublikum mit einiger Verwunderung folgt – und sich dann abwendet, um sich nach der Wahl die Augen zu reiben, wie Kontrahenten sich zu Koalitionsverträgen zusammenfinden (unter Titeln wie „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, „Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert“ oder auch „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“) und Arm in Arm eine Regierung bilden.

Stolz auf den schwarzen Peter

Der Modus des Als ob ist für die Politik fast so selbstverständlich wie das Tragen einer Maske auf der Theaterbühne – unverzichtbar für die Inszenierung. In Dauerschleife spielt die Opposition der Öffentlichkeit das Stück vor, sie wäre die bessere Regierung. Die Regierenden wiederum tun am liebsten so, als ob es zu ihren Entscheidungen keine Alternative gäbe, als ob pure Sachlogik diese und keine andere Beschlussfassung zulasse.

Hinzu kommt ein häufig unrealistischer Umgang mit dem Unerwarteten. Nach politischen Entscheidungen, nach dem Staat wird nicht gerufen, wenn „alles in Ordnung“ ist, sondern wenn Routinen zusammenbrechen, wenn der gewohnte Geschäftsgang eines wichtigen Leistungsfeldes, etwa des Gesundheits-, des Bildungs- oder des Mediensystems, nicht mehr funktioniert. Bricht das Unerwartete aus – Krisen sind der klassische Fall –, wird von Regierungen erwartet, dass sie damit umzugehen wissen und die Gesellschaft auf die Erfolgsspur zurückführen. Dem Gesundheitssystem droht Überlastung, auch die Medizin, doch vor allem die Politik ist gefordert. Das Finanzsystem crasht, nicht die Banken, die Politiker sollen es auffangen. Die Wirtschaft lahmt, nicht die Unternehmer, die Regierenden werden verantwortlich gemacht. Das Klima gerät außer Rand und Band, nicht die Ausbeutung der Natur wird zum großen Thema, sondern das Versagen der Politik. Und die Politik hat nichts besseres zu tun, als sich geehrt zu fühlen, dass sie den schwarzen Peter in der Hand hat und das Publikum voller Erwartung auf sie schaut. „Das ist unsere Stunde“, glaubt und sagt sie und verspricht, „keine Experimente“, sondern „Freiheit, Wohlstand, Sicherheit“. Neues Spiel, neues Glück.

Die Kluft zwischen Ansprüchen (sowohl von außen als auch an sich selbst) und faktischen Fähigkeiten dürfte auf keinem anderen Gebiet so groß sein wie auf politischem. Nur Politiker, die zu allem fähig sind, aber sonst zu nichts, schaffen es, (manchmal ziemlich viele) Menschen glauben zu machen, sie könnten diese Kluft überspringen.


1  Erving Goffman (2003/1959). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Piper Verlag
2  Fabian Arlt & Hans-Jürgen Arlt (2020). Spielen ist unwahrscheinlich. Eine Theorie der ludischen Aktion (S. 33). Springer VS
3  Claus Offe (2005). Vorwort zur Erstausgabe von 1976. In Murray Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns (S. VIII). Campus

Bisher erschienen:
(1) Gute Zeichen, schlechte Zeichen: Das Tarifergebnis bei VW, der Wahlkampf und die Parteiprogramme
(2) Seltsame politische Blüten entfalten sich da
(3) America first und Germany first mögen sich

Fabian Arlt
Fabian Arlt (far) arbeitet in Berlin im Bereich Gamification an der Erforschung, Konzeption, Gestaltung und Realisation von Spielen und schreibt an der Universität der Künste an einer Doktorarbeit über „Entscheidungsspiele: Leadership in Games und Unternehmen“. alivetoplay.weebly.com

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