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Das Brisante am „Fall Pelicot“, den »viols de Mazan«, wie er im Französischen genannt wird, war, in der Sprache des „petit Nicolas“ von Sempé, „dass das wahr war“, was über Jahre geschah. Wenn man die Subjekte meint: dass Menschen so gehandelt hatten, Männer. Wenn man weniger die Empörung ausdrücken will als vielmehr die Realität: dass es Menschen waren wie du und ich, »des hommes ordinaires«, wie es in Le Monde in der Ausgabe vom 24./25. November 2024, immerhin mit einem Fragezeichen versehen, heißt.
Um der Tatsächlichkeit des Geschehenen Rechnung zu tragen, ist in der Öffentlichkeit auf die psychologische Erklärung weitgehend verzichtet, an der soziologischen dagegen tüchtig gearbeitet worden. Im Ping-Pong zwischen der Tat des Einzelnen und dem herrschenden Männerbild entstand so ein stimmiges Bild der Gesellschaft, gleichwohl ein lückenhaftes Bild der Wirklichkeit.
Zwar war die Gesellschaft von den Vorgängen in Mazan angefasst und zur Selbstkritik entschlossen. Aber nicht sie stand vor dem Richter, sondern ein Einzelner, der als coaccusé, Mitangeklagter, auf bizarre Weise immer schon als gesellschaftliches Wesen definiert war. Sollte er nicht nur als Anhängsel des Hauptangeklagten oder pars pro toto einer anzuklagenden Gesellschaft bestraft werden – Letzteres war in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen −, musste er ein Mensch mit Eigenschaften sein, ein wirklicher Mensch. Auch wenn seine Einlassungen seine Schuld verundeutlichen und die Befriedigung über das Verfahren, letztlich über das Urteil, mindern würden, mussten sie doch zur Kenntnis genommen werden.
Im Wesentlichen bezogen sie sich auf den Komplex des Fühlens und Glaubens, der Wahrnehmung und der Einschätzung − im O-Ton „ich habe gedacht“, „ich habe geglaubt“ bis „ich habe vertraut“ −, und wurden mühelos als Schuldabwehr verbucht. Aber am Ende rächte sich die gewollte Einseitigkeit. In den Plädoyers der Verteidigung geschah nämlich etwas Merkwürdiges, schien es doch, als sei die Wirklichkeit auf die Seite der Täter gewechselt. Da die Gesellschaft in der Regel über die Einzelnen und ihre Dramen erklärt wird, hätte der Seitenwechsel durchaus mit Erleichterung quittiert werden können, wären die Taten nur weniger skandalös gewesen und hätten nicht ihre eigene Sprengkraft gehabt, die zielte auf die Gesellschaft in toto.
Ein dramatischer Moment
Überwältigt von der Drohung, die in der gesellschaftlichen Verfasstheit des Komplexes „männliche Sexualität“ steckte, vergaß man, mit Foucault zu sprechen, die Sorge um das Individuum. Auf die Tatsächlichkeit fixiert – „dass das wahr war“ −, glaubte man sich über die Umstände hinwegsetzen zu können. Aber neben der Tatsächlichkeit hat die Wahrheit noch einen anderen Bezugspunkt: Vollständigkeit. In ihr verbirgt sich die Wirklichkeit. Sie setzt eigene Verfahren in Gang und bringt einen eigenen Imperativ ins Spiel, denn nichts darf außenvor bleiben. Zieht die Wirklichkeit den Kürzeren, tritt das Unvermeidliche ein, das man sich durchaus in den Dimensionen des Jüngsten Gerichts vorstellen darf: Die Wahrheit wird gewogen und zu leicht befunden.
Im gewöhnlichen Prozess finden die Umstände meist doch noch Berücksichtigung und die Enttäuschung über die Relativierung der kruden Tat schürt nicht selten Ressentiments. In diesem Prozess kommt das versöhnliche Schema an seine Grenzen. Steht die Gesellschaft hier nicht für die Umstände? Müsste ihr Anteil nicht die Schuld des Einzelnen verringern? Oder ist die Situation so bedrohlich, dass man auch und gerade den Mitangeklagten, diese seltsame Person, die zusammen mit dem Hauptangeklagten und stellvertretend für die Gesellschaft angeklagt wird, unnachsichtig bestrafen muss? Als am Ende des Pelicot-Prozesses eine die Symbiose von Normen und Normalität verteidigende Anklage einer Verteidigung gegensteht, die sich der Spaltung der Gesellschaft im Innern ihrer Glieder stellt, ist das ein dramatischer Moment; er müsste allerdings als solcher begriffen werden.
Rückblickend wird das Spiel der Verwandlungen deutlich, das den gesamten Prozessverlauf durchzieht, die beständige Umverteilung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Gewichtung, die von den Medien befördert wird. Am Ausgangspunkt richtet sich die Anstrengung auf die Zertrümmerung der gängigen Illusion, die Taten seien Einzeltaten, die Täter Ungeheuer, die Verbrechen außerhalb aller Ordnung. Man erinnere sich an die spektakuläre Seite 17 in Le Monde vom 29./30. September 2024, die sich die Reintegration der ausgesonderten Täter ins Gesamt der Gesellschaft zur Aufgabe machte, indem sie unter der Überschrift »Qui sont les 50 coaccusés de Dominique Pelicot« 50 leere, wie flüchtig hingestempelte Köpfe aufführte samt Wohnsitz und Tätigkeit, ersterer so gut wie durchweg in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen. Nach bürgerlicher Einteilung und räumlicher Nähe handelt es sich um „Menschen wie wir“, man kann ihnen, im Grunde auch sich selbst nicht entkommen.
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Peinliche Einlassungen, messerscharfe Plädoyers
Sind die Taten anerkannt, kommen die relativierenden Umstände in den Blick; 50 coaccusés müssen schließlich gehört und auf irgendeine Weise müssen sie auch verstanden werden. Der Ablauf ist durch das Verfahren vorgegeben. Gewöhnlich setzt an dieser Stelle ein Schaukelvorgang ein, bei dem Entrüstung und Sympathie abwechseln. In diesem besonderen Fall gilt: Es darf nicht „geschaukelt“ werden! Umso erratischer, ich hätte beinahe gesagt, rührender der Eindruck der gleich doppelt isolierten Täter. Ausgeschlossen aus der menschlichen Gemeinschaft, eingeschlossen in ihr System von Rechtfertigungen und Richtigstellungen, sind sie, jeder für sich, wie ein Überbleibsel, eine Erinnerung, aber woran eigentlich? An eine Zeit, als „ich dachte“ zu sagen, zur Erklärung der Sache beitragen konnte?
Wer eine Schwäche für den Spannungsbogen hat, kann nicht genug bewundern, wie er sich von den peinlichen Einlassungen der Mitangeklagten bis zu den messerscharfen Plädoyers ihrer Verteidiger spannt, darunter nicht wenige Frauen (zur Verteidigung: „Viols de Mazan: La défense plaide la manipulation“, Le Monde, 7.12.2024, S. 13). Beide verhandeln ja nicht nur dieselbe Sache, sie stehen auch auf derselben Seite; was sich zwischen ihnen abspielt, ist eine feinsinnigere Angelegenheit als der ermüdende Gegensatz von Anklage und Verteidigung. Mag die Selbstverteidigung der coaccusés in der 50fachen Wiederholung und Variation der Beschönigung als Tiefpunkt menschlicher Armseligkeit erscheinen, so ist die Position der Verteidigung durch ihre Kleinschrittigkeit, ihre gewollte Spitzfindigkeit erratisch.
Angesichts der gezielten Verklammerung der handfesten Taten mit ihren Formbestimmungen, ihrer formalen Möglichkeit, mag einem der erboste Vorwurf der Rechtsverdrehung in den Sinn kommen, aber er greift nicht. Vielmehr entsteht der Eindruck, es werde nicht nur das übliche Schlupfloch für die Angeklagten gesucht, vielmehr auch Rache an der Gesellschaft geübt. Was die sich mit der Konstruktion des Subjekts als Keimzelle der Gesellschaft eingebrockt hat, das soll sie gefälligst auslöffeln!
Nach den zum Schuldkomplex zusammengefassten Kategorien, so die Argumentation der Verteidigung, haben die Taten, derer die Mitangeklagten in der Mehrzahl überführt wurden, stattgefunden, aber nicht als ihr Verbrechen. Der subjektive Faktor fehlt. Gehört nicht auch zur Vergewaltigung ein »élément intentionnel« und zu diesem ein »libre arbitre«, eine Absicht und ein freier Wille, ein Bewusstsein, dass man weiß, was man tut? Dann darf die Beweisführung den Fragen nach der Übereinstimmung von Tat und Bewusstsein aber nicht ausweichen. Die Verteidigung widmet sich ihnen mit Engagement, zugleich auf befremdliche Weise, so als wäre das Ziel das gleiche wie in der Forensik: Spurensicherung. Dabei ergeben sich Inkongruenzen, Mängel vor allem in der Rhythmisierung von Wahrnehmung und Tun.
Doppeldeutiges schleicht sich ein
Me de Palma, Anwalt einiger Mitangeklagter, legt den Finger in die Wunde: Ab wann genau kann man bei ihrem Angeklagten voraussetzen, dass er die Situation begriffen hat, am Anfang des Vorgangs, in der Mitte, an seinem Ende? In welcher Minute, Sekunde? Wann genau weiß er, dass er dabei ist, eine Vergewaltigung zu begehen? (»Au début, au milieu, à la fin? Qui peut dire: à la 38e seconde, on voit bien que M. L. est au courant qu’il est en train de commettre un viol?« (Ebd.) Die Täterperson − unverzichtbar, wenn Unrecht bestraft werden soll −, ist dank der löchrigen Beziehungen zwischen ihrem Tun und ihrem Bewusstsein nicht mehr zu fassen. Unsicherheit greift Platz: Soll man nun die Vorstellung oder die Tat anklagen? Selbst wenn es »impossible«, unmöglich, ist, »de nier la matérialité des faits (ebd.)«, den Tatbestand zu leugnen, so ist die Frage so schwerwiegend, als ginge es nicht bloß um unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Tat, sondern um verschiedene Welten. »Dans cette salle, nous sommes censés avoir tout su, mais à l‘époque, nous ne savions rien«, sagt einer der Mitangeklagten. (Ebd.) Hier im Saal sollen sie alles gewusst haben, aber damals haben sie gar nichts gewusst. Wer nur eine »altération du discernement«, wie sie die Verteidigung ins Spiel bringt (ebd.), eine Trübung des Urteilsvermögens, in Rechnung stellt und nicht eine konkrete Anwesenheit, den „Äther“ dahinter gewahrt, über den die diffusen, auch die unannehmbaren Wünsche zur konkreten Machbarkeit gelangen, dem entgeht womöglich die gesamte jüngste Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, worldwide, versteht sich.
Wer von ihm abstrahiert, bezahlt das Festhalten an der Autonomie des Subjekts mit einer Verschiebung im Apparat der Begriffe. Doppeldeutiges schleicht sich ein, das, so absurd wie offenkundig realitätshaltig, auf der justiziablen Ebene bestreitet, was es auf der pragmatischen einräumt. »Viol involontaire«, unfreiwillige Vergewaltigung, ist ein Begriff, der wie eine Fehlleistung, gar ein Hohn auf das Rechtsgefühl wirkt, zugleich wie das Produkt einer Anstrengung, die Wirklichkeit auszudrücken. »C‘était un viol volontaire ou involontaire«, fragt auch der Richter (29./30.9.) Der Wirklichkeit ist er jedenfalls näher als das logifizierte »il ne peut y avoir de crime sans intention de le commettre«, woran die Verteidigung erinnert (ebd.): Es gibt kein Verbrechen ohne die Absicht, es zu begehen. Für die Täter, die sich erinnern, wie sie da hineingetappt sind, wäre es zwar ein absichtsloses Verbrechen, aber immerhin eins, für das Strafrecht, so wie die Verteidigung es auslegt, keins. »Je reconnais le viol, mais pas l’intention«, haben gleich mehrere Angeklagte gesagt (ebd.) Von allen Bezügen befreit, mutterseelenallein, steht die Untat im Raum.
Nicht nur Verbrechen, auch gute Absichten sind durch Strategien geprägt, sie tragen ihre Spuren. »Le consentement«, die Einwilligung, ist ein Begriff sozusagen der zweiten Generation, ein Produkt der gesellschaftlichen Verarbeitung von Vergewaltigung: Erst kommt die Vergewaltigung, dann die Verhinderung durch Einwilligung. Die Verteidigerin eines Angeklagten, für den die Anklage 13 Jahre, sie Freispruch fordert, dreht den Spieß um. »…si le consentement est l’éléphant au milieu de la pièce, parlons-en«, schlägt sie vor. »Qui a consenti à quoi le 12 décembre 2019?« (7.12.) Wenn die Einwilligung der Elephant im Raum sei, dann gelte sie auch für den Täter, und zwar in den von ihr einzeln aufgeführten Phasen seiner Tat und ihrer Vorbereitung: »Est-ce qu’il a consenti […] Est-ce qu’il a consenti […] Est-ce qu’il […]?« Da mag man Zynismus am Werk sehen, wo wohl eher ein Zirkelschluss, vom Wort zur Tat und zurück zum Wort, vorliegt.
Unsichtbare Prozessbeteiligte: Wahrheit und Wirklichkeit
Ein Angeklagter drückt es weniger spitzfindig aus: Er habe, als er sich auf den Weg machte, in keinem Moment an Vergewaltigung gedacht, »ce jour-là, en prenant ma voiture, je ne me suis jamais dit „je vais aller violer cette dame“« (29./30.). Als er an dem Tag das Auto nahm, habe er doch in keinem Moment gedacht, ich werde gleich diese Frau vergewaltigen. Einwilligung, der Begriff und was er bedeutet, wäre ihm hier nützlich gewesen. Er hätte ihm geholfen, in der sauberen Welt zu bleiben, in die er jetzt vermittels peinvoller Gewissenserforschung und respektvoller Ausdrucksweise zurückstrebt. Er hätte einfach die in der Einwilligung formulierte Regel beachten müssen. Der Bürgermeister von Mazan, dessen Gemeinde so in Verruf gekommen ist, dass man ihren Namen gar nicht mehr aussprechen mag, rückt die Dinge auf seine Weise zurecht. »Après tout, personne n’est mort«, erklärt er in einem Interview mit der BBC. Um ein Fait divers handele es sich, nicht mehr und nicht weniger. Kein Kind sei schließlich involviert, kein Mensch zu Tode gekommen. (tf1info.fr, 18. September 2024)
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Wenn über einen Gegenstand verhandelt wird, der jedes Maß vermissen lässt, dann stellt sich die Frage nicht nur nach den Fakten, auch nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit. Sie sind die beiden unsichtbaren Prozessbeteiligten. Ihr Verhältnis muss erkundet werden. Ihre uneinholbare Einheit ist das Ziel der Aufgabe. Im geschützten Raum des Gerichts darf die Gegensätzlichkeit offen ausgetragen werden. Dabei bestätigt sich: Es gibt keinen Verstoß gegen die Wahrheit, keine Lüge, nur Defizite im Bezug. Wird der Zusammenhang geleugnet, kann es passieren, dass das gerechteste Urteil das mit dem geringsten Wirklichkeitsgehalt ist, umgekehrt, das realistische unmittelbar zynisch. Es kann dies die Stunde der Berichterstattung sein – und ist der Grund, warum die eine oder andere Gerichtsreportage legendär geworden ist −, wenn sie Verantwortung übernimmt und, während die einander widersprechenden Argumente, die einander ausschließenden Erklärungen hin und her wogen, den Sinn fürs Ganze bewahrt.
Im Kontext ihrer Darstellung muss das komplizierte Verhältnis des Einzelnen zu seiner Schuld nicht länger Inbegriff eines lügenhaften Verhältnisses sein, es kann als der Maßstab für das Verständnis der Gesellschaft erscheinen. Während Letztere im alltäglichen Leben stets nur halb begriffen und doppelt ausagiert wird, sollte sie in der Ausnahmesituation des Prozesses in die Perspektive der Begreifbarkeit gerückt werden und die Proportion sich umkehren. Das muss das fixe Ziel der heroischen Anstrengung sein, das je zu fällende Urteil ist nur ein in sich beweglicher Punkt.