Gerade nochmal gut gegangen?

Foto: M. Lucan auf wikimedia

Am Tag nach der Wahl: CDU und CSU sind mit dem zweitschlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte stärkste Fraktion im neuen Bundestag und werden voraussichtlich mit Friedrich Merz den nächsten Bundeskanzler stellen. Wahlsiegerin hingegen ist die AfD, die ihren Stimmenanteil verdoppeln konnte und in Ostdeutschland zur stärksten Partei gewählt wurde. Insgesamt entfielen auf die Parteien, die im Wahlkampf das Nationale, »unser Land« bzw. »Deutschland« in den Mittelpunkt ihrer Kampagne stellten, also AfD, Union und BSW, rund 55% der Stimmen. Demgegenüber erhielten die Parteien »links der Mitte« – SPD, Grüne, Linkspartei – nur knapp 37%, so wenige Stimmenanteile wie noch nie. Im Folgenden 13 Punkte: zunächst Bemerkungen zu politischen Tiefenströmungen, die sich im Wahlergebnis womöglich spiegeln, anschließend zu einigen Aspekten des Ergebnisses selbst.

Die SPD sank mit 16,4% auf einen historischen Tiefstand. Die Linkspartei feierte nicht zuletzt dank über einer Million Wählerinnen und Wähler von SPD und Grünen einen überraschend deutlichen Wiedereinzug in den Bundestag. FDP und BSW sind im neuen Bundestag nicht mehr vertreten. Im neuen Bundestag verfügen die CDU (164) und die CSU (44) zusammen über 208 Mandate, die AfD stellt 152 Abgeordnete, die SPD 120 und die Grünen 85. Die Linke errang 64 Sitze, 1 Sitz entfällt auf den SSW. Die absolute Mehrheit von 316 Stimmen können CDU/CSU und AfD (360 Mandate) und CDU/CSU und SPD (328 Mandate) erreichen. Koalitionsverhandlungen werden Union und SPD führen. Die AfD wird als autoritär-nationalistische Opposition den politischen Druck auf die Union hoch halten. Die Grünen werden Oppositionspartei und bilden, wenn man so will, zusammen mit der Linkspartei die »progressive« Opposition. Sie werden, je für sich, »Fortschritt« unter veränderten Rahmenbedingungen neu bestimmen müssen.1

Die höchste Wahlbeteiligung seit den 1980er Jahren zeigt, dass es für die Bürgerinnen und Bürger um eine wichtige Entscheidung ging. Das Ergebnis nun signalisiert, dass es dabei keine klare Polarisierung gab, sondern sich unterschiedliche Konfliktlinien überschneiden, so dass zunächst einmal nicht klar ist, welche Konflikte am Wahlabend wie entschieden worden sind. Gleichwohl zeichnen sich mit Blick auf die letzten Monate gesellschaftliche Tendenzen ab, die auch die Arbeit des neuen Bundestages beschäftigen werden. Im folgenden zunächst Bemerkungen zur politischen Tiefenströmungen, die sich im Wahlergebnis womöglich spiegeln, anschließend zu einigen Aspekten des Ergebnisses selbst. Wirtschaftswachstum, innere und äußere Sicherheit, Migration eindämmen – dominieren solche Themen im Wahlkampf, nutzt es regelmäßig konservativen und rechten Parteien. In diesem Wahlkampf passierte aber noch mehr, was die allgemeine Stimmungslage längere Zeit prägen könnte.

1 CDU: Stimmungs- statt Realpolitik

Kurz vor dem Wahltag barg mein Briefkasten Post von der CDU, in der es hieß: »Um Deutschland wieder nach vorne zu bringen, bitte ich um Ihr Vertrauen. Wählen Sie den Politikwechsel, damit wir bald wieder stolz auf Deutschland sein können. Herzliche Grüße Ihr Friedrich Merz.« Worauf »wir« »stolz« sein können und sollen, hatte Merz wenige Wochen zuvor ja gezeigt, als er im Bundestag eine Mehrheit für einen Entschließungsantrag suchte und fand, in dem u.a. die sofortige Inhaftierung von 40.000 ausreisepflichtigen Personen und die Zurückweisung von allen Migranten, die über andere EU-Länder oder ohne Papiere einreisen wollen, verlangt wurde. Also stolz: Auf die kollektive Verhärtung gegenüber individuellen menschlichen Schicksalen »stolz« sein? Auf den um sich greifenden Generalverdacht gegen »Afghanen«, »Syrier«, »Islam«-Anhänger? Dass »Migration« zu einem dominierenden Wahlkampfthema wurde, verdankt sich zu einem guten Teil auch der medialen Aufmerksamkeitslogik, die in Klickzahlen misst. Aber niemand zwingt Parteien diesseits der AfD, dieses Thema als einen Wettstreit um »Abschiebungen« zu bespielen (als wäre »Abschieben« die »Mutter aller Lösungen) statt darüber zu streiten, wie die wirklichen Probleme im Einwanderungsland Deutschland bewältigt und Recht durchgesetzt werden kann – das wird man von »Parteien der Mitte« erwarten dürfen, nennt man Realpolitik statt Stimmungspolitik.

2 Empathie und Kooperation : Gleichgültigkeit und Konkurrenz

Wird in einem Land über »Migration« verhandelt, klärt die Gesellschaft dabei, in welches Verhältnis sie sich zur Außenwelt begeben will. In der Menschheitsgeschichte war Migration ein wesentlicher Antrieb für Erfindungen, Entdeckungen, Entwicklung. Seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung setzt jede liberale Gesellschaft auf die Freiheit der Individuen, nach ihrem »Glück« zu suchen, nach Verbesserung ihres Lebens zu streben. Wer das nicht tut, gilt in der tief kapitalistisch durchwirkten Gesellschaft als antriebslos, als jemand, der aus seinem Leben nicht »etwas machen« will. Und, letzter Aspekt, die altindustriellen Gesellschaften wissen um die globalen Ungleichheiten, die zur Grundlage ihres wirtschaftlichen Erfolges und sozialen Zusammenhalts zählen. Sie wissen zumindest insgeheim auch, dass zweihundert Jahre industrielle Entwicklung zu großem Wohlstand hier und zu unbewohnbaren und unbewohnbar werdenden Landstrichen dort geführt haben.

Migrationspolitik kann getragen werden von einer Haltung der Verantwortlichkeit und Zuwendung denen gegenüber, die hier ein besseres Leben suchen: Schutz vor Verfolgung und kriegerischer oder patriarchaler Gewalt, bessere Einkommensmöglichkeiten usw. Dieser Blick ist immer verbunden mit einer Politik des Möglichen, der Bereitschaft zur Kooperation und der Fähigkeit zur Empathie. Migrationspolitik kann auch das genaue Gegenteil exekutieren: Gleichgültigkeit, Konkurrenz, Nationalismus – das Fernhalten der »Probleme anderer Leute«, weil wir ja »nicht die ganze Welt retten« können. Wer in der Migrationspolitik auf eine Politik der Abschottung vom »eigenen« Territorium setzt, der wird z.B. nicht in der Lage sein, in der Europäischen Union vorbehaltlos auf Kooperation zu setzen, sondern tendenziell immer nur den eigenen nationalen Vorteil, den Deal, im Auge haben. Und drittens: die Parteiführungen wissen um die wissenschaftliche Expertise, dass im Zuge des Klimawandels in den nächsten 50 Jahren rund 3,5 Milliarden Menschen zu Klimaflüchtlingen werden können, weil ihr Territorium für Menschen durch die Wirkungen des industriellen Fossilismus unbewohnbar geworden ist.

3 National- statt Klimapolitik

Seelisch Verhärten, sich Verpanzern, politisch und moralisch Verantwortlichkeit ignorieren, repressiv Abschotten gegen die »Anderen« »da draußen« – diesen gefühlspolitischen Tiefenströmungen hat die Union, unter tätiger Mithilfe anderer Parteien der »demokratischen Mitte« zu einer gesellschaftlichen Mehrheit verholfen, die Grundmuster der zukünftigen deutschen Politik und der Richtung, in der nach Lösungen gesucht wird, prägen kann – und wird? Im Wahlkampf 2021 dominierte mit dem Thema »Klima« nicht nur ein anderes Thema, sondern auch eine andere Haltung zur Welt. Wer vom Klima spricht, spricht immer auch von und über einen allgemeinen menschlichen Standpunkt, von einem Menschheitsproblem, und verabsolutiert nicht den nationalen Standpunkt. Und wer es ernst meint, muss immer auf Kooperation mit, nicht auf Konkurrenz gegen andere Staaten und Gesellschaften setzen. Die Verschiebung der dominierenden Themen zeigt den Nationalisierungsschub in den politischen Debatten.

4 Demokratische Selbstverständlichkeiten erodieren

Im oben angesprochenen Brief des Vorsitzenden der CDU steht auch: »Deutschland verdient eine stabile und handlungsfähige Regierung, die Probleme wieder löst.« Nach den Ereignissen des 29. und 31. Januar müssen wir annehmen, dass sich hinter diesem Satz eine gewisse Portion Trumpismus verbirgt, der in der Union nicht nur Merz anzieht. »Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen. Sie bleibt richtig.«, lautete die Merz’sche Maxime. Was das Richtige ist, entscheidet sich in Bauch und Kopf von Friedrich Merz, nicht im demokratischen Diskurs. Es bleibt auch dann richtig, wenn es mit geltendem Gesetz und europäischem Regelwerk kollidiert und wenn die Falschen als Geburtshelfer tätig werden müssen. Der Zweck heiligt die Mittel und das »Richtige« ist nicht notwendig das Rechtmäßige. Dieser Vorgang haftet einer Kanzlerschaft Merz nun an, mindesten als Erwartung von Teilen der Gesellschaft.

Merz will »Entschlossenheit« demonstrieren: Endlich macht einer mal was nach den lähmenden Streitereien unter dem zögerlichen, abwägenden Scholz. Er bedient sich dabei eines »konservativen Voluntarismus« (Judith Wittwer): Alles scheint möglich, wenn man nur will… Noch am Abend vor dem Wahltag unterstrich Merz in München seine Anleihen beim illiberalen Demokratieverständnis: Mit ihm werde endlich wieder »Politik für die Mehrheit« gemacht, für die, »die geradeaus denken«, soll wohl heißen: wo nicht nach rechts und links geschaut, sondern durchgezogen wird. Säulen der bisherigen Weltwahrnehmung – die transatlantische, europäische Sicherheitsarchitektur, Gewaltverzicht als Norm der internationalen Ordnung, anhaltende Erfolge eines exportorientierten Wirtschaftsmodells, eine funktionierende öffentliche Infrastruktur als Rückgrat von Alltagsleben und Ökonomie, demokratische Institutionen, die stark genug sind, den Problemen zu begegnen – diese »Selbstverständlichkeiten« erodieren, brechen zusammen.

5 Nicht Frieden ist das Ziel, sondern das gute Geschäft

Die mentale Landkarte im (auch eigenen) Kopf, die die Wahrnehmung der Welt ordnet und Wege definiert durch ihre sozialen und politischen Landschaften, hat sich seit der Obama-Administration zunächst schleichend verändert, die ersten Wochen der Trump-Administration haben sie zerschlagen und mit der Rede von James David Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde die Neuordnung begonnen. Es geschah nicht über Nacht, wollte aber zu lange nicht in die Deutungsmuster deutscher und europäischer Politik passen. Nicht der atlantische, sondern der pazifische Raum steht im Mittelpunkt des amerikanischen Interesses. Die USA kehren zurück zu einer Politik der territorialen Erweiterung ihres Herrschaftsgebietes (Panama, Kanada, Grönland, Gaza …) und verständigen sich unter Gleichen mit Putin über Einflusssphären, in denen »raumfremde Mächte«, wie Carl Schmitt sie nannte, sich raushalten. Nicht Frieden ist das Ziel, sondern das gute Geschäft.

Die NATO als »westliche Wertegemeinschaft«, die ihre globale Hegemonie mit moralischen Werten versah (was sie immer wieder immanent kritisierbar machte) hat ausgedient. Die europäischen Staaten, die in dieser Hegemonie nicht »Vasallen« waren, sondern Juniorpartner, werden zu Staaten wie alle anderen auch, mit denen man Geschäfte abschließt oder nicht. Was dabei noch stört, ist die Europäische Union, immerhin die Wirtschaftsgemeinschaft mit der global noch höchsten Konsumkraft. Sie stört mit ihren Regelwerken für digitale Plattformen, Datenverkehr und Künstliche Intelligenz. Diese widersprechen vorgeblich dem amerikanischen Verständnis von Meinungsfreiheit, tatsächlich aber behindern sie die Geschäftsziele des amerikanischen Tech-Feudalismus, der (große Teile der) Staatlichkeit durch KI-Algorithmen ersetzen will.

Nicht nur die außen- und sicherheitspolitischen Paradigmen haben sich verändert. Republikanische Werte und demokratische Traditionen bilden nicht mehr die Brücke zwischen den USA und Europa. Der Trumpismus will und muss die EU klein machen, zerstören allein schon aus innenpolitischen Gründen, bliebe die EU doch ein potentieller Partner, Bezugspunkt der demokratischen und sozialen Opposition in den USA. Das Mittel der Zersetzung ist der Nationalismus in den EU-Staaten.

6 „Wirtschaftskompetenz“ mit altbekannten Vorschlägen

Ebenfalls im Wahlkampf viel beschwiegen wurde die wirtschaftliche Lage. Vordergründig wurde natürlich über die wirtschaftliche Situation gesprochen, nicht aber über das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells, des Exportmodells, wie wir es nun nahezu 20 Jahre gelebt, manche auch kritisiert haben. Von jenen Parteien, die für sich die größte »Wirtschaftskompetenz« beanspruchen, kamen die altbekannten Vorschläge: Unternehmen von der »Last« der Steuern und der Bürokratie befreien, Technologieoffenheit statt »Verbrenner-Aus« und natürlich das Bürgergeld kürzen. Hätten diese Maßnahmen verhindert – nur als Beispiel – dass die VW-Manager sich finanzkapitalistisch motiviert an den Renditen der Quartalszahlen orientierten statt an langfristigen Investitionsentscheidungen und Absatzmöglichkeiten? Hätte es mit weniger Steuern und Bürokratie eine eigene Batterieproduktion gegeben, auf die immerhin 40% der Wertschöpfung bei E-Autos entfallen? Oder den Ausbau von Ladestationen? Der Kern der Krise des Exportmodells wurde im Wahlkampf nicht berührt: die Veränderung des chinesischen Absatzmarktes; der anhaltende Protektionismus der USA und infolge der Zusammenbruch des freien Welthandels nach WTO-Regeln; die Milliarden an staatlicher Unterstützung, die anderswo in die Dekarbonisierung des Kapitalstocks flossen; und die einsetzende erneute Revolutionierung der Arbeits- und Kommunikationsprozesse durch die nächste Digitalisierungs-Stufe.

Noch nicht die Rede ist hier vom Zustand der öffentlichen Infrastruktur, die ja eine wesentliche Voraussetzung nicht nur einer demokratischen, sozialstaatlichen Republik, sondern auch ihrer wirtschaftlichen Produktivität und Wertschöpfung ist; noch nicht gesprochen wurde von den Wirkungen der demografischen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialversicherungen, von den fehlenden Investitionen in Bildung und Demokratie als Lebensweise, vom Wohnungsmarkt.

7 Die Anrufung von Europa

Die deutsche Gesellschaft steht an mehreren Wegkreuzungen, in der Geschichte der Bundesrepublik vielleicht am ehesten vergleichbar mit Ende der 1960er, Beginn der 1970er Jahre: außen- und sicherheitspolitische Neuorientierung in der »Ostpolitik«, Veränderung der gesellschaftlichen Grundstimmung, Ende des Bretton-Wood-Systems fester Wechselkurse, unter dessen Fittichen das »Wirtschaftswunder« stattfinden konnte, ja und dann noch der »Ölpreisschock«.

Geht es um europäische Sicherheitspolitik oder die Verhandlungsmacht in den bevorstehenden Geschäftsverhandlungen mit den USA, taucht im deutschen Parteiendiskurs immer die Anrufung von »Europa«, »europäischer Ge- und Entschlossenheit« und »europäischer Souveränität« auf – allerdings ohne die wichtigste Zutat: Was eine deutsche Bundesregierung denn bereit wäre, in den wirtschaftlichen, (sicherheits-)politischen und moralischen Zusammenhalt Europas zu investieren. Mehr geschlossene Grenzen? Mehr nationales Interesse im Aushandeln europäischer Kompromisse? Eine Europäische Verteidigungsarmee oder mehr rüstungsindustrielle Integration der nationalen Armeen? Fragen über Fragen, die in den Parteiführungen nicht erst spätestens seit der ersten Trump-Regierung auf dem Tisch liegen. Der Wahlkampf und das Wahlergebnis haben die gesellschaftspolitische Grundstimmung, eine mögliche Bereitschaft, politisch, wirtschaftlich und finanziell in europäische Kooperation und dann in europäische Zusammenarbeit mit afrikanischen und asiatischen Staaten zu »investieren«, alles andere als gefördert.

8 Hohes gesellschaftspolitisches Konfliktpotential

Die kommende Bundesregierung wird keine starke Regierung sein. Ihr Handeln wird vermutlich von harten politischen Auseinandersetzungen begleitet werden: Wehrpflicht, Priorisierung der Staatsaufgaben, neues Wirtschaftsmodell, Demografie – Themen mit hohem gesellschaftspolitischen Konfliktpotential nicht nur zwischen recht und links, sondern auch quer zur traditionellen Politikachse. Die Vorstellung, in einer pluralistischen, demokratisch verfassten Gesellschaft zu leben, in der Minderheiten Rechte haben, in der Mehrheiten durch Argumente und Diskurse von einer Sache überzeugt werden, in der sich Institutionen qua Gewaltenteilung wechselseitig begrenzen, wird auf eine schwere Probe gestellt werden, wenn das »Richtige« nicht schnell oder nur durch Kompromisse »verwässert« in die Welt kommt…

9 Abwägungen und Gewichtungen der Stimmabgabe

Infratest dimap fasst die in Befragungen ermittelte die Grundstimmung im Land wie folgt zusammen und diese Beschreibung kann sich auf eine Vielzahl von demoskopischen Befunden aus den letzten Monaten stützen:

»Schwache Konjunkturzahlen, fiskalische Probleme wie Investitionsdefizite, Zuwanderungsdebatten, aber auch internationale Konflikte und geo-ökonomische Spannungen machen die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag zur Krisenwahl in unsicheren Zeiten. Für die große Mehrheit der Bundesbürger liefern die derzeitigen Verhältnisse in Deutschland Anlass zur Sorge. Nur wenige üben sich in Zuversicht. Wie zuletzt bei Bundestagswahlen in den 2000er Jahren herrscht ein mehrheitlich kritisches Urteil zur wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik vor. Wie damals überwiegt zugleich die Ansicht, dass es in Deutschland ungerecht zugeht. Diese negative Stimmung spiegelt sich in den aktuellen Sorgen der Deutschen: Immerhin jeder sechste Arbeitnehmer sorgt sich derzeit um seinen Arbeitsplatz. Deutlich größeren Stellenwert als 2021 haben Ängste um den eigenen Lebensstandard, die jeden Zweiten betreffen. Etwa ebenso viele sind beunruhigt angesichts steigender Preise und möglicher Geldprobleme im Rentenalter. An Gewicht gewonnen haben gegenüber der letzten Bundestagswahl Sorgen aufgrund hoher Zuwanderungszahlen, die vor der Wahl jeder Zweite betont. Die Sensibilität gegenüber dem Klimawandel hat demgegenüber nachgelassen. Der Klimawandel bleibt auf der Sorgenliste der Bundesbürger allerdings abermals weit oben, übertroffen von der Annäherung zwischen der Trump-Administration und Putin, Sorgen um den Zustand von Demokratie und Rechtsstaat sowie Zweifeln an einer stabilen Regierungsbildung nach der Bundestagswahl.«

Da man davon ausgehen muss, dass den Wähler, die Wählerin nicht nur ein Thema beschäftigt, sondern meist mehrere, wird sich schwerlich ergründen lassen, welche Abwägungen und Gewichtungen letztlich die Wahlentscheidung bestimmt haben.

10 Die AfD als Disziplinierungsmittel

Im neuen Bundestag gibt es eine satte rechnerische Mehrheit von Union und AfD. Die AfD wird alles versuchen, die konservativen Teile der Union, die offen für eine Zusammenarbeit sind, zu stärken. Die Folie hat Friedrich Merz in der letzten Januarwoche selbst geliefert. Die rechnerische Mehrheit mit der AfD bleibt für einen Kanzler Merz mindestens ein Disziplinierungsmittel gegenüber dem Regierungspartner. Welche Rolle es spielen wird, lässt sich angesichts der sich neu sortierenden Weltlage nicht übersehen. Umgekehrt erlaubt es der gebeutelten SPD, eine Zusammenarbeit mit der Union als notwendiges Übel zur Verhinderung der AfD zu erklären. Lassen sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Union und AfD bei den Themen Migration und gesellschaftspolitischen Fragen (»Genderwahn«) finden, so werden sie dominiert von den Unterschieden in der Wirtschafts-, Europa- und Sicherheitspolitik, die für das Selbstverständnis der Union (noch?) entscheidender sind.

11 Hilflos gegenüber der Bullshit-Strategie

Der Wahlerfolg der AfD ist Ausdruck ihrer zunächst medialen und dann auch politischen Normalisierung. Wenn ihre Kanzlerkandidatin gleichberechtigt neben den anderen sitzt, wenn man sich wechselseitig die Hand reicht, dann verliert ihre Charakterisierung als »in Teilen gesichert rechtsextrem« jegliches politisches Gewicht. Es hat sich auch die Hilflosigkeit gezeigt, mit der von Journalisten und Journalistinnen wie von den politischen Gegnern auf die »Bullshit«-Strategie der Partei bisher reagiert wird. Der (weitere) Zerfall einer gemeinsa demokratischen Öffentlichkeit und die Herausbildung von einander abgeschotteter Weltdeutungskulturen verstärkte sich in diesem Wahlkampf. Es wird nicht mehr ausreichen, die AfD als »Gefahr für unsere Demokratie« zu brandmarken. Vielmehr muss darum gestritten werden, was »unsere Demokratie« auszeichnet.

Was sind eigentlich die demokratischen, republikanischen Tugenden, die da verteidigt werden: Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit und öffentlicher Rundfunk, Gewaltverzicht, Wahrheitskriterium Wissenschaft bzw. Diskurs. Demonstriert werden muss, dass parlamentarisch-demokratische Gefahren und Gewaltenteilung gleichwohl in der Lage sind, gute Lösungen und Ergebnisse hervorzubringen, also dem wachsenden Bedürfnis nach »Knoten durchschlagen« und »Disruption« zu begegnen. Dafür wird es auch ein paar demokratische Reformen brauchen: zum Beispiel mehr Handlungsmacht auf der lokalen Ebene, neue Formen der Partizipation.

12 Wiederauferstehung der Linken

Die Linke schafft überraschend souverän und überzeugend den Einzug in den Bundestag. Sie stellt bundesweit sechs Wahlkreisbeste in Berlin, Erfurt und Leipzig. In Berlin wird sie mit einem Fünftel der Zweitstimmen zur stärksten Partei. Die Stimmenzuwächse kommen vor allem von jüngeren Wählerinnen und Wählern, die eher in Städten als auf dem Land wohnen und eher höhere Bildungsabschlüsse (Abitur, Hochschule) haben. Bei den 18-24jährigen steigt laut Infratest dimap der Stimmenanteil von 8% auf 25%, bei den 25-34jährigen von 7% auf 16%, bei den über 45jährigen bleibt er mit 4-5% nahezu gleich. Ähnlich die Forschungsgruppe Wahlen: 23% bei den unter 30jährigen, 10% bei den 30-44jährigen, 6% bei den 45- 59jährigen und 4% bei den über 60jährigen. Zusammen mit der Eintrittswelle vorwiegend jüngerer Menschen – die Mitgliederzahl stieg um rund die Hälfte – ergibt sich ein faszinierendes Bild: Die Partei wird von einer neuen Generation »besetzt«, die sich womöglich anschickt und die Gelegenheit erhält, eine neue Linke zu formen.

Eine gelungene Wahlkampagne ist noch kein Parteiaufbau. Bei dieser »Wiederauferstehung« spielten interne und externe Faktoren erfolgreich zusammen. Zu den internen Ursachen zählen: zunächst die Abspaltung des nationalstaatlich und am fossilen Wirtschaftsmodell orientierten Flügels, wodurch die lähmenden und letztlich abstoßenden Debatten, die seit 2017 um die grundsätzliche Richtung der Partei geführt wurden, geklärt erschienen. Dann wurde alles getan, was man tun sollte, wenn es darum geht, bei Wahlen Stimmen zu maximieren: Geschlossenheit statt Zerstrittenheit zeigen, Konzentration auf wenige Themen des »Markenkerns« (Mieten, Preise), aktivierende Wahlkampagne, professionelle Konzentration der materiellen und personellen Ressourcen auf zu gewinnende Wahlkreise (»Mission Silberlocke«), wodurch zugleich signalisiert wurde, dass Zweitstimmen für die Partei auf jeden Fall zählen würden; gezielte Nutzung der Algorithmen der Sozialen Medien. So gelang es, dass im Januar bei einigen Instituten die Partei sich der 5%-Marke näherte, ein Aufwärtstrend sichtbar wurde.

Zu den externen Faktoren, die die Partei nicht beeinflussen, aber als »günstige Gelegenheiten« nutzen (oder verspielen) konnte, zählten: die Konzentration der Wettbewerber auf die Themen Migration und Wirtschaft, so dass die sozialen Themen des Alltags keine wahrnehmbare Rolle spielten; hinzu kam, dass ein wahrscheinlicher Kanzler Merz ankündigte, auch mit Kürzungen im Sozialbereich Haushaltslöcher schließen zu wollen. Die Linke geriet so in die Rolle der sozialen Opposition zu einer wirtschaftsfreundlichen Union und ihren möglichen Koalitionspartnern Grüne oder SPD. Die zweite externe Dimension eröffnete Friedrich Merz, als er mit einer Zusammenarbeit mit der AfD spielte. Wem es bei der Wahl darauf ankam, sowohl eine andere Haltung in gesellschaftspolitischen Fragen – und die Migrationsfrage steht für mehr als nur Migration – als auch seine Ablehnung eines Kanzlers Merz auszudrücken, der konnte in der Linken (statt wie bei den Wahlen zuvor in den Grünen) den entschiedenen Gegenpol zur allgemeinen Rechtsentwicklung sehen.

Die Linke gewann 600.000 Stimmen von den Grünen, 540.000 von der SPD und 320.000 von Nichtwählern. Politische Gelegenheiten zu nutzen, heißt am Ende auch vor der Aufgabe zu stehen, möglichst viele dieser »Gelegenheitsstimmen« längerfristig zu binden. (Wie schnell sie binnen dreier Jahre sich anders orientieren können, wissen FDP und Grüne zu berichten.) Nicht demoskopisch erhoben wurden Daten zu einem möglichen dritten externen Faktor: das Agieren der neuen US-Administration. Trump und Musk, so war es auch auf etlichen Pappschildern auf den Demonstrationen von Hunderttausenden gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD zu lesen, stehen nicht nur für Autoritarismus, sondern auch für den exzessiven Gebrauch politischer Macht zu geschäftlichen Zwecken. »Milliardäre abschaffen« bzw. sich mit den »Konzernen anlegen« wurde womöglich nicht nur als soziale Opposition, sondern auch als demokratische Opposition gegen zügellose wirtschaftliche Macht über das Alltagsleben verstanden, die Machtverhältnisse hinter den Verteilungsverhältnissen zu adressieren.

13 Repräsentationslücke

Nicht bestätigt haben sich Annahmen, dass es eine größere »Repräsentationslücke« für eine verteilungspolitisch »links« und gesellschaftspolitisch »konservativ« ausgerichtete Politik und einen Bedarf für eine entsprechende Partei wie das BSW gibt. Eine andere systematische Lücke in der politischen Partizipation lässt sich indes einigermaßen beziffern. In Deutschland leben gut 13 Mio. Menschen ohne deutschen Pass, etwa 11 Millionen sind im Wahlalter, dürfen aber nicht wählen. Mehr als zwei Drittel verfügt über ein zeitlich unbefristetes Aufenthaltsrecht. Etwa 9 von 13 Millionen leben bereits länger als fünf Jahre im Land. Rund 15% der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind Ausländer, die Beiträge in die Sozialkassen einzahlen. Ausländer zahlen auch Steuern in die nationalen Kassen. Von der Entscheidung, wie und wofür ihre Steuern und Sozialbeiträge verwendet werden, sind sie ausgeschlossen


1  Siehe: https://linksdings.ghost.io/das-grosse-roll-back-blockierte-transformationskonflikte-gespenster-zukunft/ http://www.horstkahrs.de/2025/01/06/planetares-paradigma-blockierte-transformationskonflikte?und-die-erneuerung-des-parteiensystems/

Der Beitrag steht unter dem Titel „Neue alte Mehrheiten in einer veränderten Gesellschaft – Gerade noch mal gut gegangen?“ auch auf der Website von Horst Kahrs

Wahltag in Deutschland, Sonntag, 23. Februar 2025, 18h: Die Wahllokale schließen, erste Prognosen flimmern über den Bildschirm. SPD 16% meldet die ARD, SPD 16,5% das ZDF. Noch am Tag vor der Wahl sagt Olaf Scholz, »ich glaube nicht an Wunder, sondern an einen Wahlsieg«. Für den historischen Abstieg der SPD (bestes nationales Wahlergebnis 1972 mit 45,8 %) gibt es sicher ein ganzes Ursachenbündel. Auf einen der Gründe macht der Bruchstücke-Beitrag „Ich, Olaf Scholz“ aufmerksam.

Horst Kahrs
Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Von 1995 bis 2021 hat er in verschiedenen Funktionen für die PDS, DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet. Heute betreibt er mit Tom Strohschneider den Blog »linksdings – Der Schlüssel steckt von innen« https://linksdings.ghost.io/

1 Kommentar

  1. Unter den zahllosen bedeutenden Aspekten, die Horst Kahrs hier verdichtet und zugespitzt hat, will ich zwei, die ich für besonders wichtig halte, herausgreifen.
    Erstens: Die CDU/CSU hat ihren Zielgruppen mehr Nationalismus und geringere Steuern versprochen, die SPD ihrer Klientel vor allem mehr Geld im Beutel. Mitten in Europa gelegen wird auch die CDU/CSU, nicht einmal mit einem trumpistischen Merz, mehr Nationalismus durchsetzen können. Zudem: In der Konkurrenz von Pflege- und Klimanotstand, Förderung von Digitalisierung und KI und vor allem unabweisbarer enormer Rüstungsaufwendungen wird für die klassische Sozialpolitik der SPD und die Steuersenkungsprogramme der CDU/CSU kein Geld überbleiben. Also: Die haltlosen Versprechen vor der Wahl detonieren politisch sofort danach. Wie kann eine von vornherein politisch sehr schwache Koalition aus CDU/CSU und SPD, die groß zu nennen sich verbietet, gegen diesen enormen Vertrauensverlust, der sich sofort spür- und sichtbar einstellen wird, standhalten? Bordmittel werden dazu nicht reichen. Eine Notstands-Regierung mit noch breiterer Mehrheit oder eine von Parteien und Experten?
    Zweitens: Am Rande erwähnt Kahrs in seiner These zur Bullshit-AfD: „Es wird nicht mehr ausreichen, die AfD als »Gefahr für unsere Demokratie« zu brandmarken.“ Es liegt seit langem auf der Hand, dass die verbreitete Strategie, unsere sehr fehlerhafte Demokratie pauschal gegen die AfD zu verteidigen, ein politischer Rohrkrepierer ist. Müssten die Demokraten nicht besser überlegen, wie sie dieses parlamentarisch-demokratische System demokratischer und damit attraktiver machen? Eine Konsequenz: Diese Demokratie muss zusammen mit ihrer ineffizienten Staatsbürokratie komplett umgebaut werden. Zwei Maßnahmen: Verlagerung von sehr viel mehr Rechten und Finanzen auf die unterste Ebene, die Kommunen. Und die Einführung von Volksabstimmungen zu bedeutenden Sachfragen wie in der Schweiz.

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