Erstarrte Stimmung, erwartbare Abstimmung

Drei Fragen zur politischen Lage nach der Bundestagswahl hat das Bruchstücke-Team sich und einem Kreis der Blog-Autor:innen gestellt. Die Antworten publizieren wir in drei aufeinander folgenden Beiträgen, beginnend mit den Reaktionen auf diese erste, zweiteilige Frage: Die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 fand unter sehr besonderen Umständen statt: Putins Russland führt in Europa einen Angriffskrieg. Die Folgen des Klimawandels werden auch in Europa zunehmend spürbar. Die US-Regierung unter Trump unterstützt offen rechtsradikale Parteien, scheint mit Russland zu kooperieren und droht, Europa den militärischen Beistand zu entziehen. Stimmen Sie dieser Beschreibung zu? Haben sich diese außergewöhnlichen Umstände im Wahlergebnis niedergeschlagen?

Detlef zum Winkel: Ein Reichstagsbrand in seriellen Portionen?

Die Beschreibung des politischen Rahmens, der diese Bundestagswahl maßgeblich beeinflusst hat, ist unvollständig. Ich möchte das an meinem subjektiven Erleben verdeutlichen. Am 13. Juli 2024 wusste ich definitiv, dass die US-Wahl entschieden war, obwohl es noch fast vier Monate bis zum Wahltag waren. Sodann war mir am 20. Dezember 2024 klar, dass die Bundestagswahl entschieden war, das war zwei Monate vorher. Kamala Harris und Olaf Scholz konnten sich abstrampeln, wie sie wollten – sie hatten schon verloren, bevor sie anfingen (und sie wussten es auch!). Allenfalls zwei, wenn’s hochkommt zweieinhalb Prozent konnten sie noch beeinflussen. Joe Biden und Boris Pistorius wäre es übrigens genauso ergangen, wenn sie zur Wahl gestanden hätten. Ach so, bei all dem hastigen politischen Geschehen haben es viele schon wieder vergessen: am 13.7.24 verübte ein junger Amerikaner ein Attentat auf eine Wahlkundgebung von Donald Trump in Butler (Pennsylvania). Am 20.12.24 fuhr ein Syrer in die Menschenmenge auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt. Wenn der böse Geist, von dem diese Psychopathen besessen sind, zu dem Glauben gelangt, dass die verübten Verbrechen noch nicht ausreichen, um rechte und rechtsextreme Parteien oder Kandidaten an die Macht zu pushen, dann gibt es Folgetaten wie in Aschaffenburg und München.

Hier geht es nicht darum, 38 Prozent für die AfD in Thüringen oder 37 Prozent für die AfD in Sachsen und Sachsen-Anhalt (Zweitstimmen) zu erklären. Nur die jeweils letzten 5 Prozent kommen so zustande. Ist es ein Reichstagsbrand, der in seriellen Portionen serviert wird? Ich weiß es nicht, aber es muss beantwortet werden. Denn hier geht es darum, ob man eine politische Richtungsentscheidung, und mehr noch: eine Entscheidung über das Schicksal von Abertausenden Menschen migrantischer Herkunft faktisch in die Hände einer kleinen Gruppe von Psychopathen legt.

Andreas Wittkowsky: Der Wahlkampf bediente Wunschdenken

Ich stimme der Beschreibung zu. Im Wahlkampf haben aber Sicherheitspolitik und Klimawandel – trotz „Zeitenwende“ – nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Insgesamt wirkte der Wahlkampf über weite Strecken wie eine haushalterische Debatte. Allerdings wurden dem Rechtspopulismus Zugeständnisse gemacht, die sich dann nicht ausgezahlt haben, aber das gesellschaftliche Klima weiter belasten. Ungeachtet dessen werden Klima und Sicherheit die nächste Bundesregierung erheblich fordern. Der Großteil der Parteien meinte, dies sei den Wählerinnen und Wählern nicht zuzumuten.

Die Dauerkampagne der Opposition gegen „grüne Verbotspolitik“ hat selbst bei Bündnis 90/Grünen dazu geführt, dass ihr Kernthema Klima im Wahlkampf eine Nebenrolle spielte und die unbestreitbaren Erfolge der Energiewende untergingen. Kanzlerkandidat Robert Habeck hat aber den Mut gezeigt, seiner Klientel erhöhte Rüstungsausgaben zuzumuten. Die anderen Parteien haben hier den Ball eher flach gehalten. Kanzlerkandidat Friedrich Merz hielt zwar eine beachtliche Rede vor der sicherheitspolitischen Community in der Körber-Stiftung. Im offenen Wahlkampf hat dann sein Schwenk zur Migrationspolitik und die Bereitschaft, den entsprechenden Antrag im Bundestag nur mit Stimmen der AfD verabschieden zu können, dem rechtspopulistischen Diskurs weiteren Aufwind verschafft. Sein Wahlergebnis hat es nicht verbessert.

Das Bestreben der SPD, das Thema Frieden nicht den Ohnemichels an den politischen Rändern zu überlassen, hat in seiner konkreten Ausformung die Erfordernisse der Zeitenwende untergraben, weil die Besonnenheitskampagne von Kanzler Olaf Scholz unterschwellige Ängste vor russischen Eskalationen verstärkte und die Unterstützung der Ukraine gegen soziale Belange ausspielte. Profitiert davon haben andere.

Selbst wenn in der nächsten Legislaturperiode Umweltstandards aufgeweicht werden sollten, wird sich Deutschland nicht aus der europäisch und international vertraglich vereinbarten Klimapolitik verabschieden können. Und die Trumpsche Periode der Zeitenwende wird erhebliche Sicherheitsanstrengungen notwendig machen. Statt die Bevölkerung auf die damit verbundenen Herausforderungen kommunikativ vorzubereiten, wurde über weite Strecken Wunschdenken bedient.

Thomas Weber: Erstarrungsreaktion eines verunsicherten Landes

Die in der Frage beschriebenen außergewöhnlichen Umstände haben sich seit dem Amtsantritt von Donald Trump am 20. Januar dramatisch verschärft und müssen in der Beschreibung um die Abkehr der US-Administration von der Herrschaft des Rechtes und deren Angriffe auf den Rechtsstaat ergänzt werden. Das Wahlergebnis vom 23. Februar lässt mit Ausnahme des Ergebnisses der Linken bei allen Parteien kaum Veränderungen gegenüber den Umfragen seit einem Jahr erkennen. Man kann diese für Wahlkämpfe in meiner Erinnerung außergewöhnliche Stimmungserstarrung durchaus als Erstarrungsreaktion eines verunsicherten Landes auf außergewöhnliche Umstände verstehen.

Klaus Vater: Eine Melange, die fassungslos macht

Nach meinem Eindruck waren die in der Frage angeführten Punkte nicht entscheidend. Entscheidend ist nach meiner Auffassung, dass sich ein beträchtlicher Teil der Wahlberechtigten nicht wirklich für die Regeln in der repräsentativen Demokratie, für deren Institutionen und auch nicht für Pflichten in diesem Zusammenhang interessiert. Da hat sich eine Melange aus Bequemlichkeit, Trägheit, auch aus Faulheit gebildet, die mich fassungslos macht.

Wolfgang Rose: Das Wahlergebnis ist hausgemacht

Keine Frage, die Wahl stand unter besonderen Vorzeichen. Ob Putin, Trump, oder der drohende Klimawandel das Wahlverhalten entscheidend beeinflusst haben, kann man aus dem Ergebnis nicht herauslesen. Der Anstieg des Stimmenanteils für die AfD war erwartbar. Dass die hohe Wahlbeteiligung der AfD eher genutzt hat, zeigt, wie verfestigt deren politische Positionen mittlerweile in Teilen der Bevölkerung sind. Dagegen haben der Dauerstreit und das damit verbundene Scheitern der Ampel, die Langmut des Kanzlers und daraus abgeleitet der viel zu späte Rauswurf von Lindner sowie der Umstand, dass die drei führenden Protagonisten (Scholz, Habeck und Lindner) sich erneut um ein Regierungsmandat beworben haben, die Wahlchancen ihrer Parteien erheblich beeinflusst.

Als das Bundesverfassungsgericht der Ampel den finanziellen Boden unter den Füßen weggezogen hat (immerhin ging es um 60 Milliarden), wären neue Koalitionsverhandlungen verbunden mit dem Risiko des Scheiterns unumgänglich gewesen. Dann wäre die Regierung entweder damals schon geplatzt oder es hätte eine neue Grundlage für das zukünftige Regierungshandeln gegeben. Stattdessen hangelte sich die Ampel mühsam von einem öffentlich ausgetragenen Streit zum nächsten. Im Ergebnis führte dies dazu, dass die medial genüsslich immer wieder kommunizierten offenen Flanken bei der Bevölkerung einen verheerenden Eindruck hinterlassen haben. Dass diese öffentliche Wahrnehmung durch einen engagierten Wahlkampf hätte vergessen gemacht werden können, gehört zu den Irrtümern, denen insbesondere die SPD aufgesessen ist. Dazu kamen persönlich zuzurechnende politische Fehler. (Lindner – D-Day und Schuldenbremse; Habeck – Heizungsgesetz und Migrationspolitik; Scholz – Fehleinschätzung zur wirtschaftlichen Lage und mangelhafte Kommunikationsbereitschaft). Dabei kam es weniger darauf an, ob die „Vorwürfe“ berechtigt waren, sondern vielmehr darauf, dass sie ständig im Raum standen und dagegen angekämpft werden musste.

FDP, Bündnis90/Die Grünen und SPD hätten sich leichter getan, wenn sie mit „unverbrauchtem Personal“ angetreten wären. Dass dies keine realistische Option war, ergibt sich aus der Logik des Politikbetriebes – wäre es doch ein Eingeständnis des jeweiligen Scheiterns gewesen. Diesen Vorteil des „unverbrauchten Personals“ konnte die CDU/CSU mit Friedrich Merz für sich verbuchen und damit die programmatischen Schwächen und Widersprüche sowie den radikalen Kurswechsel zur „Merkel CDU“ übertünchen. Selbst der „Tabubruch“ konnte dem Kanzlerkandidaten nichts anhaben.

Fazit: Das Wahlergebnis war hausgemacht. Äußere Einflüsse haben den ein oder anderen Trend verstärkt, aber waren nicht wahlentscheidend. Beruhigend war und ist, dass fake news Kampagnen, die es aus vielen Richtungen gegeben hat, kaum Einfluss auf das Wahlverhalten hatten.

Dieter Pienkny: Aus der politischen Apathie gerissen

Ein in weiten Teilen überfordertes, reformunwilliges Volk, durch Klimawandel, Ukraine-Krieg und Migration aus der politischen Apathie gerissen,  geht im Osten rechten Rattenfängern auf den Leim und erwärmt sich für politische Scheinlösungen, die einen faschistoiden Beigeschmack haben.

Klaus Lang: Schon länger festgefügte Parteipräferenzen

Die Beschreibung trifft zu. Die aufgeheizte Migrationsdebatte und der Tabubruch der Unionsparteien unter Friedrich Merz, sich für einen Entschließungsantrag zur Migration von der Zustimmung der AfD abhängig zu machen, kommen hinzu. Aber der Einfluss dieser Ereignisse auf die Entscheidung der Wählerinnen und Wahler scheinen gering. Deren Parteienpräferenzen scheinen schon zum Ende der Regierungszeit der Ampel festgefügt gewesen zu sein und haben sich auch durch die Ereignisse im Januar und Februar 2025 kaum verändert. Auch der hohe Anteil der zunächst Unentschlossenen hat sich fast in gleicher Weise verteilt. Die Mobilisierung gegen die AfD und der Tabubruch haben aber wohl das Ergebnis der Linken deutlich verbessert und verhindert, dass das BSW sein Ziel erreicht hat, die Linke zur Bedeutungslosigkeit zu bringen.

Frank Hoffer: Bewegt hat die Leute das Gewürge der Ampel

Der Krieg gegen die Ukraine dauert schon drei Jahre, die Gefahren des Klimawandels sind seit Jahrzehnten bekannt und werden täglich offensichtlicher, die USA richten spätestens seit Obama ihr Augenmerk verstärkt gegen China und wollen, dass Europa mehr für Waffen ausgibt, und rechte Demokratieverächter gewinnen seit der ersten Wahl Berlusconis an Einfluss. All dies sind eher Dauerzustände als besondere Umstände und sie waren gemessen an ihrer Bedeutung dann doch nur Randthemen im Wahlkampf.
Bewegt hat die Leute das Gewürge der Ampel, die Unfähigkeit angesichts vieler Herausforderungen zu regieren und politisch zu führen. Kulminiert ist der Frust über fehlende Regierungskompetenz dann in der Migrationsfrage, bei der alle Parteien außer der Linken den Eindruck vermittelt haben, dass die öffentliche Sicherheit durch Migranten bedroht ist und das Problem durch entschlossenes Abschieben gelöst werden kann. Bei diesem Wettbewerb um größtmögliche Repression statt Prävention und Integration gewinnen dann diejenigen, die die Sehnsucht nach harter Hand gegen die Schwächsten am radikalsten bedienen.

Hendrik Auhagen: Der problematische Teil von Migration

Zustimmen kann ich der Feststellung, dass die internationalen Veränderungen dramatisch sind. Objektiv! Nur für die Wahl entscheidend war neben der wirtschaftlichen Verunsicherung vor allem das Thema, das von der linken Mitte immer noch meistens schön geredet und thematisch verbogen wird: Der problematische TEIL von Migration, der nicht nur eingebildet ist, sondern die Lebensrealität großer Teile der Einheimischen zunehmend überschattet. 

Hans-Jürgen Arlt: Keine (Wahl-)Entscheidung ohne Gefühle

Wahlfreiheit basiert auf Meinungsfreiheit. Welche Umstände die Meinung von Wählerinnen und Wählern auf welche Weise beeinflussen, dazu lassen sich Indizien sammeln, wissenschaftliche Untersuchungen durchführen und Vermutungen anstellen – wissen kann es niemand, sonst brauchte man ja nicht zu wählen und das Ergebnis mit Spannung erwarten. Der Frage ist anzusehen, dass sie die Rationalitätsfiktion bedient, mit der wir alle unsere Entscheidungen schmücken: Wer will vor sich selbst und vor anderen schon zugeben, sich von Emotionen und Vorurteilen leiten zu lassen. Tatsächlich fällt keine Entscheidung, auch keine Wahlentscheidung, ohne dass Gefühle und Moralisierungen im Spiel sind. Das ist der große Trumpf von Rechtspopulisten, sie sprechen Gefühle an, vor allem das Ressentiment, den heimlichen Groll, und mobilisieren Moral, vor allem die Missachtung. Ob sie dafür faktenfreien Unsinn und beweisbare Lügen einsetzen, darauf kommt es nicht an, solange sie Gefühlslagen treffen. „Aber gleich unter der Oberfläche liegt dieses Gefühl von Unterlegenheit auf der Lauer, das aus allem eine Beleidigung macht“, lese ich in einem Krimi von Asa Larsson und habe die Deutschlandkarte mit den parteipolitischen Farben der Wahlkreise vor Augen. Zumindest auf der Suche nach den Ursachen für das Brandgefährliche am Wahlergebnis, die 20,8% AfD-Stimmen, kommt man mit der Bruchstücke-Fragestellung nicht besonders weit.


Die beiden anderen Fragen, deren Antworten Bruchstücke publizieren wird, haben diesen Wortlaut:

2. Welche sind die beiden wichtigsten Aufgaben, die sich der neuen Bundesregierung stellen und welche Koalition hätte die Kompetenz, sie mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen?
3. Soll/kann es in der deutschen Politik jetzt wie gewohnt weitergehen mit zähen Koalitionsverhandlungen und einer Regierungspraxis mit langen Abstimmungs- und Entscheidungswegen oder bedarf es, Stichwort Ausnahmezustand, anderer politisch-institutioneller Wege und welche könnten es sein?

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