Handlungsbereit oder depressiv und regressiv


Welche sind die beiden wichtigsten Aufgaben, die sich der neuen Bundesregierung stellen und welche Koalition hätte die Kompetenz, sie mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen?
So lautet die zweite Frage zur politische Lage, die das Bruchstücke-Team sich und einem Kreis seiner Autor:innen gestellt hat. Dazu zehn Antworten.

Hans-Jürgen Arlt: Millionenfache Beschlüsse jenseits der Politik

Wichtigste Aufgabe der Regierung im besonderen und der Politik im allgemeinen wäre, zu begreifen und öffentlich klarzustellen, was sie kann und was nicht kann. Stattdessen befindet sie sich ständig in der Lage, leisten zu sollen und zu wollen, was gar nicht in ihrer Reichweite liegt. Soweit ich es überblicke, sehe ich in den meisten Ländern offene oder staatlich unterdrückte Politikverdrossenheit (und lasse diktatorische Regime im weiteren außen vor). Von demokratisch-parlamentarischer Politik werden fast nur noch Enttäuschungen erwartet, Politiker:innen-Bashing ist zum Volkssport geworden, tagtäglich angeheizt auf Online-Plattformen und von Boulevard-Redaktionen wie die deutsche BILD&Co. Das muss Ursachen haben, die tiefer liegen als handwerkliche Defizite, lobbyistische Fehlleitungen oder parteiliche Engstirnigkeiten des Regierungshandelns.
Regieren hat in einer modernen repräsentativen Demokratie völlig andere Voraussetzungen als die feudale herrschaftliche Macht, die mit Krone und Gottes Segen schalten und walten konnte; ihr Wort war Befehl und ihre Tat wurde kurzerhand zur Gewalttat. Auch modernes Regieren trifft Entscheidungen, die für alle verbindlich sind, und setzt sie, notfalls mit Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit, durch. Aber sie hat in jedem Fall und zu jeder Zeit zu berücksichtigen, dass alle Organisationen und alle Personen ihrerseits das Recht und die Freiheit haben, eigene Entscheidungen in ihren eigenen Angelegenheiten zu treffen. Obwohl also millionenfache Beschlüsse darüber, wie es mit uns und unserer Gesellschaft weiter geht, nicht vom Staat, nicht von der Politik gefasst werden, wird dem politischen System die Gesamtverantwortung für sämtliche Probleme und Schwierigkeiten zugeschrieben – und die Politiker:innen sind, insbesondere im Wahlkampf, so doof und auch noch stolz darauf, diese Allzuständigkeit anzunehmen.
Politik wird so (zur Adresse ellenlanger Forderungskataloge und Wunschzettel und) zum Schlachtfeld, auf dem die gesellschaftlichen Konflikte ausgetragen werden – obwohl die allermeisten Risiken und Gefahren, Fehler und Schäden auf anderen gesellschaftlichen Feldern entstehen und auch nur dort behoben werden könnten. Nach dem Verantwortlichkeitsprinzip wären zuvörderst die (wirtschaftlichen, massenmedialen, wissenschaftlichen, pädagogischen, kulturellen) Organisationen zu adressieren. „In modernen Gesellschaften ist das politische System der Spezialist für das Ganze.“ (Helmut Willke). Aber das darf nicht damit verwechselt werden, dass die Politik alles auf sich zu nehmen und zu richten hätte. Von Politik wird, wie auch von der Öffentlichkeit, der permanente Überblick über alles erwartet. Während aber niemand auf die Idee kommt, die Öffentlichkeit müsste die Probleme, die ihr auffallen, auch selbst lösen, wird genau dieser Anspruch an Politik und Staat gerichtet, gesellschaftliche Nöte und Schwierigkeiten anstelle der und für die Gesellschaft zu beseitigen. Dass die Politik Probleme aufgreift und zusammen mit der übrigen Gesellschaft Lösungen sucht und auf den Weg bringt ist nicht dasselbe wie deren „Verstaatlichung“.
Abgesehen von ihrer Realitätsferne leitet die Unterstellung einer politischen Gesamtzuständigkeit und -verantwortlichkeit für jegliche gesellschaftliche Missstände Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus, denn der wirft bei seinen propagandistischen Attacken gegen amtierende Regierungen alles in einen Topf: keine Verbitterung, die nicht am Regierungssitz abgeladen wird. Die Säcke voller Wünsche und die Mülltonen voller Frust sind zwei Seiten derselben Irrationalität.

Hendrik Auhagen: Für sozialen Ausgleich sorgen

Erstens: Die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens und das trifft sowohl auf den Problemteil der Migration als auch die übrigen administrativen Mehrfachblockaden zu. Schon allein das Gefühl einer ernsthaften Handlungsbereitschaft könnte die depressiv-regressive Stimmung im Land wenden.
Zweitens: Objektiv und mental für einen sozialen Ausgleich zu sorgen. Durch Überwindungsforderungen nach dem Gegenseitigkeitsprinzip. Und zwar an BEIDEN Polen. Sowohl auf der Seite der Transfer-Empfänger als auch der Seite der Vermögenden. Also sowohl deutlich stärkere Arbeitsintegration von Bürgergeldempfängern als auch eine allgemeine Vermögensabgabe, um das Gemeinwesen handlungsfähig zu machen. 

Frank Hoffer: Von der Selbstfesselung befreien

Die sozialverträgliche ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft in Frieden, Sicherheit und Freiheit sollte der Maßstab aller Entscheidungen sein.
Dafür ist es unerlässlich, die Schuldenbremse zu reformieren, staatliche Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und die EU in der Sicherheits-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik zu einem handlungsfähigen Staatenbund weiter zu entwickeln, in dem wichtige Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheiten getroffen werden können.
Angesichts des Wahlergebnisses wird es eine  Schwarz-Rote Koalition geben. Die kann nur gelingen, wenn es substantiellen finanziellen Spielraum für Investitionen in Verteidigung, Wohnungsbau, Infrastruktur und ökologische Modernisierung gibt. Linke und Grüne sollten unmittelbar zeigen, dass sie eine kritische, aber konstruktiver Opposition sind und der neuen Regierung ihre Unterstützung bei der Verfassungsänderung zur Reform der Schuldenbremse anbieten, wenn dadurch auch substantielle Mittel für Wohnungsbau und ökologische Modernisierung bereitgestellt werden. Dass viel Geld für mehr Militärausgaben ausgegeben werden wird, kann die Linke nicht verhindern; aber sicherstellen, dass trotzdem massiv in den Wohnungsbau investiert wird, eventuell schon. Eine an realistische Bedingungen geknüpfte Zustimmung zur Reform der Schuldenbremse ist die beste, wenn nicht die einzige Chance beider Parteien aus der Opposition heraus eine makroökonomische Politik zu unterstützen, die die Wirtschaft durch Investition statt durch angebotsorientierten Ökologie- und Sozialabbau ankurbelt. Es wäre ein Signal, dass alle Parteien außer der AFD die Verantwortung für das Gemeinwesen über die Parteiinteressen stellen. Die SPD müsste gleichzeitig erklären, dass sie nur in eine Koalition eintritt, wenn Merz bereit ist, auf  beide demokratische Oppositionsparteien zuzugehen, um Deutschland von der Selbstfesselung durch die investitionsfeindliche Schuldenbremse zu befreien.

Klaus Lang: Innen- und außenpolitischer Konsens möglich

In der komplexen Situation lässt sich das Handeln der Bundesregierung verantwortungsvoll nicht auf zwei Aufgaben, sondern bestenfalls auf zwei Handlungsfelder beziehen. Dabei muss immer auch der nächste Wahltermin, bestenfalls 2029, im Auge behalten werden.
Das innenpolitische Handlungsfeld verlangt, den gesellschaftlichen Nährboden für die AfD zu verringern. Dazu gehört zum einen ein unmittelbar sichtbarer und nachvollziehbaren Schub zur Belebung der Wirtschaft und zur Sicherung der Arbeitsplätze durch Investitionen in Infrastruktur und Industrie sowie zur Reduzierung der Preissteigerung; zum anderen, die stärkere Regulierung der Migration auf europäischer Ebene und die Verteilung der Migrant*innen innerhalb der EU sowie ein Maßnahmenbündel zur besseren Integration der hier lebenden 3,5 Millionen Geflüchteten in Wohnung, Bildung, Gesundheit und Arbeit.

Das außenpolitische Handlungsfeld verlangt das Engagement Deutschlands für eine wirtschaftlich und auch militärisch besser gesicherte europäische Autonomie in einer ihres Sinngehalts entleerten NATO und gegenüber der neu belebten Großmacht- und Schutzraumpolitik der USA und Russlands. Und natürlich die Fortsetzung der Unterstützung der Ukraine auf allen Ebenen.

Nach Lage der Dinge können diese Aufgaben nur in einer Koalition von Unionsparteien und SPD erfolgreich bewältigt werden. Hier ist am ehesten ein Konsens möglich, der innen- und außenpolitisch tragfähig ist. In der Migrationsfrage wird sich, wie in einigen Bundesländern schon geschehen, die SPD auf die Unionsparteien zubewegen müssen. In der Frage von Innovation und Investition sollten die Unionsparteien mit ihrer schon bekundeten Lockerung gegenüber der Schuldenbremse noch im jetzigen Bundestag dazu kommen, eine Änderung der Grundgesetzartikel zur Schuldenbremse umzusetzen. Außerdem wird die SPD hier einen Rückfall zu Lasten sozialer Gerechtigkeit und der Pariser Klimaziele verhindern müssen.

Dieter Pienkny: Die Wirtschaft muss ihre Hausaufgaben machen

Teile der Wirtschaftselite haben permanent die ökonomische Situation schlecht geredet, sogar von Deindustrialisierung fantasiert. Trotz aller Unkenrufe bleibt Deutschland aber auf Platz 3 im weltweiten Ranking. Der Chefökonom der Allianz erläutert in der Süddeutschen Zeitung, etliche Unternehmen legten ihr Kapital lieber am US-Finanzmarkt an anstatt in Deutschland zu investieren. Sie müssen ihre Hausaufgaben machen, die Rahmenbedingungen (Energie, Infrastruktur, Bildung) muss aber die zukünftige Bundesregierung vorrangig verbessern.

Wolfgang Rose: Migration begrenzen, Wirtschaft beleben

Glaubt man den Demoskopen, dann bestimmen die illegale Migration und die Sorge um die wirtschaftliche Zukunft das Denken der Menschen in Deutschland. Innenpolitisch werden daher diese zwei Fragen die Diskussion um einen Koalitionsvertrag entscheidend prägen: Die wirtschaftliche Belebung und die Migrationsdebatte. Beide Fragen müssen vordringlich angegangen werden. Außenpolitisch wird eine Verständigung keine großen Probleme bereiten.

Schaut man auf das Wahlergebnis, dann hat sich eine Mehrheit des Wahlvolkes in der Frage der (illegalen) Migration für einen Kurswechsel ausgesprochen (CDU/CSU 28,5 %, AfD 20,8 % BSW knapp 5 %) Teilt man die Einschätzung, dass mit der AfD zwar keine Regierung gebildet werden darf, die Motive ihrer Wähler aber nicht völlig ignoriert werden sollten, dann ist eine neue Ausrichtung der Migrationspolitik unumgänglich. Hier scheinen mir die Schnittmengen zwischen den Wählerinnen und Wählern von CDU/CSU und SPD relativ groß. Ob das auch für das „Parteiestablishment“ gilt, steht auf einem anderen Blatt. Ob und wie kompromissfähig die Führung der SPD nach der verlorenen Wahl in dieser Frage ist (sein kann), wird die nahe Zukunft zeigen. Zu wünschen wäre es der SPD, sich hier in keinen unversöhnlichen innerparteilichen Streit zu verlieren.

Mit Blick auf die Rezepte zu Belebung der Wirtschaft liegen die Dinge komplizierter. Entscheidend für die Koalitionsbildung wird es daher sein, ob es ganz schnell gelingt, einen Kompromiss zur Frage der „Aussetzung der Schuldenbremse“ zu finden und einen Haushalt für das Jahr 2025 aufzustellen. Davon hängt es ab, ob wirtschaftliche Belebung, Investitionen in die Infrastruktur, soziale Gerechtigkeit, die Umweltpolitik, der Verteidigungshaushalt sowie die militärische Unterstützung der Ukraine angemessen bedacht werden können. Da aber auch nach der (vorübergehenden) Aussetzung der Schuldenbremse die zur Verfügung stehenden Mittel endlich sein werden, muss die SPD den Spagat zwischen den Erwartungen an eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und den Herausforderungen, die uns der Klimawandel abverlangt, in mögliche Koalitionsverhandlungen einbringen. Die CDU/CSU wird sich in der Frage der Schuldenbremse nicht verweigern können. Die SPD wird Zugeständnisse bei den staatlichen Transferleistungen machen müssen.
Ebenso unklar erscheint es, wie eine Reform der Schuldenbremse gelingen kann. Dazu ist eine 2/3 Mehrheit erforderlich, das sind mindestens 420 Stimmen. CDU/CSU, SPD und Bündnis90/Die Grünen bringen es gemeinsam auf 413 Abgeordnete. Wer die Schuldenbremse reformieren will, benötigt dazu also die Zustimmung der Partei Die Linke. Ob und zu welchem Preis die zu haben ist, wird eine spannende Frage.

Klaus Vater: Den Klimawandel verlangsamen, aber…

Diese Frage ist tatsächlich seriös nicht zu beantworten, weil die Problem-Ebenen und die Erfordernisse im Zeit-Ablauf zu unterschiedlich sind. Ich möchte das am Beispiel darstellen: Zweifellos ist die Aufgabe der Verlangsamung des Klimawandels sowie der daraus folgenden Umkehr unserer Lebens- und Verbrauchsweisen die wichtigste. Sie wird aber  noch schwieriger, weil die Staaten Europas gezwungen sind und sein werden, einen beträchtlichen Teil ihrer ökonomischen Ergebnisse in Rüstung und Krieg (Sofortabschreibung) zu stecken. Also Gegenläufiges zu tun. Das Wichtigste hier in Europa ist ein lückenloses und nicht zu durchbrechendes, politisches und operatives „Unterhaken“. Gleichzeitig  müssten wir einüben, wie Staaten mit staatlich organisierten „Raubtieren“ klarkommen können. Das alles in einem Dreier-Bündnis zusammen mit den Grünen.

Thomas Weber: Den Raum des Rechts und der Freiheit stärken

Die wichtigste Aufgabe, mit der Deutschland jetzt konfrontiert ist, ist Europa als Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit zu stärken und – auch gegen die Angriffe der US-Administration – zu verteidigen. Da es jetzt so kurz nach der Wahl überhaupt noch unklar ist, ob es zu der noch verbliebenen rechtsstaatlichen Koalition zwischen Union und SPD kommt, stellt sich nicht wirklich die Frage, welche Koalition diese Aufgabe am besten bewältigen kann.

Andreas Wittkowsky: Sicheres Europa, sozialer Zusammenhalt

So wenig eine Steuerreform auf einen Bierdeckel passt, so wenig wird die neue Bundesregierung sich mit zwei Prioritäten begnügen können. Aber wenn es denn sein muss: Erstens wird die europäische Sicherheit im Vordergrund stehen müssen – und leider auch viele Mittel binden. Zweitens geht es um soziale Kohärenz als Metathema: Realismus bei den Herausforderungen der Zukunft, Ehrlichkeit bei den Kosten, soziale Gerechtigkeit bei deren Verteilung und Resilienz gegen populistische Verlockungen.

Detlef zum Winkel: Schon im Ansatz falsch

Frieden/Abrüstung und Klima sind die beiden wichtigsten Aufgaben. Alles was Union und SPD als künftige Koalitionspartner hierzu anbieten, ist meiner Meinung schon im Ansatz falsch, d.h. rundum falsch. Wenn ich einen bescheidenen Wunsch äußern könnte, dann wäre es, den Südschleswigschen Wählerverband SSW mit seinem einzigen Abgeordneten in die Koalition einzubeziehen. So gäbe es wenigstens einen Stachel im Elefantenfleisch.

Siehe auch die beiden anderen Nachwahl-Fragen und Antworten unter
Erstarrte Stimmung, erwartbare Abstimmung“ sowie „Die Demokratie mobilisieren

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke