
Seit anderthalb Wochen liegt ein politischer Vertragsentwurf zwischen den drei koalitionswilligen Parteien CDU, CSU und SPD auf dem Tisch. Er besteht aus einer Sammlung von Vorhaben und dem gegenseitigen Versprechen, die aufgeschriebenen Vorhaben im Licht der Haushaltsregeln und der finanzpolitischen Möglichkeiten umzusetzen. Ein Koalitionsvertrag ist also keine Bibel und auch keine Reißbrett-Zeichnung, die nun zentimetergenau von Handwerkern realisiert werden müsste. Seit einer Woche wird der Vertragsentwurf aus verschiedenen Blickwinkeln kritisiert. Die einen sagen, der Koalitionsentwurf strahle soziale Kälte aus; andere vermissen große Reformversprechen. Am häufigsten wird an diesem Papier kritisiert, dass sich die Vertragschließenden in vielen Teilen und Aussagen nicht sicher festgelegt hätten. Man vermisst also Gewissheiten.
Das beste Beispiel ist die gegenwärtige Diskussion um einen Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde. Alle Vertragsparteien sprechen sich für einen höheren Mindestlohn aus, sie weisen im Vertragsentwurf auch darauf hin, dass Voraussetzungen für einen Mindestlohn in dieser Höhe im Jahr 2026 günstig seien. Die Entscheidung fällt aber nicht in einer Koalition, sondern in einer gesetzlich vorgeschriebenen, nicht weisungsgebundenen Kommission. Gewissheit liegt, wenn man es ironisch beschreiben will, hier im Möglichen, aber nicht im bereits Beschlossenen.
Mir fiel auf, was keine Rolle in der Öffentlichkeit spielt. Die drei Parteien haben sich darauf geeinigt, das Arbeits- und das Arbeitsvertragsrecht fast nicht anzurühren – sieht man von einer geänderten Höchst-Stundenzahl auf Wochenbasis ab. Nach all den Erzählungen und Versprechungen aus den Unternehmer- Abteilungen der beiden C-Parteien sowie aus dem Lager der Arbeitgeber hatte ich erwartet, dass sie auf den genannten Feldern das Ruder herumwerfen wollen würden. Davon kann keine Rede sein. Auch im großen Bereich der gesetzlich festgelegten sozialen Leistungen wird es keinen „Kehraus“ geben. Es wird ferner kritisiert, dass der Vertragsentwurf zu kleinteilig geraten sei. Das ist aber nun mal so in einer Gesellschaft, die sich so differenziert hat wie die bundesdeutsche.
„Reformstau“ und „Teuro“
Stimmungsmäßig erinnert mich die anstehende Legislaturperiode an die letzten Jahre vor und die ersten Jahre nach der Jahrhundertwende: Die Kosten der deutschen Einheit – netto aus den westdeutschen Steuer- und Beitragsgeldern für den Osten gerechnet – näherten sich der Marke von einer Billion Euro. Gut 100 Milliarden wanderten damals jährlich von West nach Ost. Die Massenarbeitslosigkeit ließ sich aber nicht stoppen. Sie stieg von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus, sie wurde enorm erhöht durch die tiefen strukturellen Schwächen der Unternehmen im Osten. Arbeitsmarktpolitisch gesehen hatten die Regierungen fast nichts Erfolgversprechendes auf der Pfanne. Die Zinsen waren verhältnismäßig hoch, viele Unternehmen hatten begonnen, über Investitionen und Produktion anderswo nachzudenken. Das Wort des Jahres lautete übrigens 1997 „Reformstau“ und 2002 „Teuro“.
Heute ist das Land besser auf Krisen vorbereitet – Dank einer Reihe Reformen zwischen 2000 und 2005; auch wegen der Erfahrungen aus der Bankenkrise und der Euro-Krise. Das gilt für die Arbeitsmarktpolitik, ebenso für die Verbesserung der Investitionsförderung und anderes mehr. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Kosten- und Strukturkrise der Jahre 1992 bis 1993, in deren Folge eine Viertelmillion bis dato produktive Arbeitsplätze im Westen unseres Landes verschwanden, hatte keine Folgen.
Was nun und in der Zukunft tatsächlich auf die Bundesrepublik und auf Europa insgesamt zukommt, ist nicht sicher zu beurteilen. Man muss sich nur die Wirkungen der jüngsten Trumpschen Zollpolitik vor Augen halten: Rasch entstand die Gefahr einer weltweiten Schwächung des Wirtschaftswachstums, einer weltweiten Rezession.
Problembündel voller Ungewissheiten
Der Clou hierbei, sofern es einen solchen gibt: Nicht die Staatengemeinschaften auf dem Planeten haben Trump vorerst gestoppt, sondern das waren die Finanzmärkte, die den US-Präsidenten in den Abgrund haben schauen lassen. Die Finanzmärkte, Inbegriff kapitalistischen Verhaltens. Und noch hat Trump sich nicht von einem ökonomischen „Suizid“ verabschiedet, sondern den lediglich aufgeschoben.
Wir wissen auch nicht, was uns der Krieg Putins noch alles abverlangen wird. Johann Wolfgangs beruhigende Worte sind jedenfalls endgültig passe: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen….“
Sind wir – drittens – tatsächlich darauf vorbereitet, dass in fünf oder zehn Jahren oder bereits morgen Wetter- und Klimaverschlechterungen über uns hereinbrechen wie die Dürreperioden, die mittlerweile Landstriche rund um das Mittelmeer quälen? Ich sehe diese Vorbereitung nicht.
Haben wir Ideen, wie wir in Europa verfahren, wenn die Zahl der autokratisch regierten und orientierten Staaten wächst? Wenn neben der Slowakei und Ungarn weitere Staaten Demokratie und europäischen Zusammenhalt schwächen. Anpassen oder widerstehen? Das Schauspiel, welches Politiker wie Jens Spahn und Michael Kretschmer mit Blick auf die AfD aufführen, ist alles andere als beruhigend.
Die nach meiner Ansicht entscheidende Frage, die zu beantworten ist, lautet: Bietet der nun vorliegende Vertragsentwurf Chancen, den angerissenen Problem-Bündeln erfolgreich zu begegnen? Was Besseres finde ich jedenfalls gegenwärtig nicht.
Klaus Vater hat es auf den Punkt gebracht. Mir geht es wie ihm: ich wüsste nicht, woher etwas Besseres kommen könnte.
Endlich jemand, der nicht die ewige Litanei vom Versagen der Politik singt. Stammtische, Journalismus und, seit es sie gibt, digitale Plattformen lamentieren ohne Unterlass darüber, dass die Politik die Probleme nicht löst. Es sind von der Klimakrise bis zu tiefen sozialen Ungerechtigkeiten vor allem solche Probleme, die ihre Ursache im Verhalten und Unterlassen der Organisationen und Personen haben, denen es gut geht. Und das sind hierzulande nicht wenige, sondern eindeutig die Mehrheit vom großen Unternehmen bis zum kleinen Rentner, der gerade touristische Pläne schmiedet. Der Mechanismus ist immer derselbe: Die Politik darf die Probleme nicht anfassen, soll sie aber lösen. Gewählt werden stets die Parteien, bei denen man sich darauf verlassen kann, dass sie im Großen und Ganzen alles beim Alten lassen. Kleingehalten, abgestraft werden solche Parteien wie (einst) die Grünen oder die Linke, die ankündigen, ernsthaft etwas ändern zu wollen. Ob sie es tatsächlich vermöchten, lassen wir mal dahingestellt. Aber nichts verfolgen der Lobbyismus der Organisationen, allen voran der Unternehmen und Verbände, und die versammelte Wählerschaft konsequenter, als zu verhindern, dass größere Veränderungen überhaupt in Angriff genommen werden können. Notfalls bleibt die Flucht in die braunen Arme der AfD.
„Etwas Besseres“ ist m.E. notwendig und möglich.
Der Entwurf des „Koalitionsvertrags“ „Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 21. Legislaturperiode“ enthält das, was zwischen Union und SPD derzeit als Kompromiss möglich erscheint. In Inhalt und Form bewegt er sich im vertrauten und erprobten Rahmen früherer Koalitionsverträge. Das ist nicht sehr viel, aber nach diesem Wahlkampf auch nicht wenig.
Mit diesem Vertrag könnte eine Koalition arbeiten, wenn es denn eine richtige Koalition geben könnte. Die gibt es aber nicht. Die anstehende Koalition ist – und darin unterscheidet sie sich von früheren Koalitionen im in der Bundesregierung – keine Koalition auf Augenhöhe, sondern vielmehr eine „Pseudokoalition“. Denn die Koalitionsparteien können zwar einen Kanzler wählen, sie könnten ihn aber vor dem Hintergrund der schwarzblauen Mehrheit im Bundestag nur zum Preis der Selbstzerlegung der Union durch ein Misstrauensvotum stürzen.
Das bedeutet, dass der jetzt ausgehandelten Koalitionsvereinbarung eine wirkliche Koalition, die diese Vereinbarung auch in die Regierungspolitik umsetzen kann, fehlt.
Faktisch wird die schwarzblaue Mehrheit im Bundestag bei jeder internen Regierungsdiskussion und -abstimmung direkt und indirekt ihre Wirkung entfalten: Dies wird dazu führen, dass die SPD nur das wird durchsetzen können, was die Union ohnehin will. Was die SPD will, aber die Union nicht will, wird nicht stattfinden.
Die bereits jetzt auftretenden unterschiedlichen Interpretationen einzelner vereinbarten Punkte lassen jetzt schon deutlich werden, dass die SPD in dieser „Koalition“ nicht wirklich konfliktfähig sein wird. Sie wird sich zwar auf den Koalitionsvertrag berufen können, wird aber keine wirkliche Möglichkeit haben, das Vereinbarte auch durchzusetzen.
Zum Charakter dieser „Pseudokoalition“ enthält der Koalitionsvertrag nichts. Und in den Parteiführungen von Union und SPD herrscht dazu dröhnendes Schweigen. Und das ist eindeutig zu wenig.
Dass diese Schieflage ignoriert wird, ist kein Schönheitsfehler, sondern eine grundsätzliche strategische Schwäche bei Union und SPD, die zwar zur Performance der letzten Wochen und Monate passt, Unangenehmes so lange wie möglich zu ignorieren, aber für die künftige Regierung nichts Gutes verheißt.
Solange dieses Schweigen anhält, ist der Koalitionsvertrag aus meiner Sicht nicht zustimmungsfähig. Gerade auf dem Hintergrund der immer lauter und deutlicher auftretenden Gespaltenheit der Union im Verhältnis zur AfD wäre es aus meiner Sicht sowohl von der SPD grob fahrlässig, wenn sie sich als Steigbügelhalter für einen Unionskanzler ohne irgendwelche Absicherungen und Erklärungen außerhalb des Koalitionsvertrages hergeben würde, aber auch von der Union, wenn diese ihr Verhältnis zur AfD weiterhin im Unklaren lässt.