Der Friedrich ist gar nicht so oder Gestern noch Hayek, heute schon Keynes

Das ist ein mit Bauchschmerzen verbundenes Daumendrücken für den neuen Kanzler, dem die Journalistin der ZEIT zutraut, einmal als Glücksfall der deutschen, gar der europäischen Geschichte zu gelten. Bauchschmerzen bereitet ihr die wahrlich herausfordernde innen- und weltpolitische Lage. Diese ganz nüchtern vor Augen zu führen, ist das Verdienst dieses Buchs und es wiegt seine Schwächen auf, die dem Infotainment geschuldete Charakterstudie.
Die seit Adenauers Kanzlerschaft auf das transatlantische Bündnis eingeschworene CDU sieht sich einem Partner gegenüber, der dieses Bündnis mittlerweile als Bürde empfindet. Und der sich nicht scheut, das Niederreißen der sogenannten Brandmauer zu fordern, die den Griff der AfD nach der Macht bislang verhinderte. Es ist ein radikaler Bruch mit den überkommenen deutschen Gewissheiten: Außenpolitisch fährt man im NATO-Konvoi, und aus der Innenpolitik hält Washington sich raus.

Die diesen radikalen Bruch nicht wahrhaben wollen, schotten sich gegen die nun notwendige Desillusionierung ab. Sie reagieren, schreibt Miriam Lau „wie eine verprügelte Ehefrau“, die nach dem Motto lebe: „Er hat es nicht so gemeint, insgeheim liebt er mich.“ Die Rede des US-amerikanischen Vizepräsidenten auf der letzten Münchener Sicherheitskonferenz ließ sich schwerlich missverstehen: „Es gibt keinen Platz für Brandmauern.“ Die US-Regierung griff massiv in den deutschen Wahlkampf ein, und die AfD konnte ihr Glück kaum fassen. J. D. Vance traf sich mit Alice Weidel, aber für den noch amtierenden Bundeskanzler Scholz hatte er keine Zeit.

„Das ist jämmerlich“

Das Bekenntnis der US-Regierung zum Pakt mit den europäischen Staaten klingt nun hohl. Wie man in der Trump-Regierung über Europa wirklich denkt, kann man einem Dialog entnehmen, den der Vizepräsident mit seinem Verteidigungsminister auf einem Messenger-Dienst führte, den ein US-Magazin veröffentlichte und den Frau Lau wiedergibt; Anlass war ein gegen die Huthi-Milizen gerichteter Militärschlag im Golf von Aden. Dort attackiert die vom Iran unterstützte Guerilla den Schiffsverkehr, was vor allem die für Europas Industrien so wesentliche Zulieferung massiv stört. Vance stellt die Militäraktion in Frage, „weil ich es hasse, die Europäer schon wieder rauszuhauen.“ Hegseth darauf: „Ich teile deinen Hass gegen die europäische Trittbrettfahrerei voll und ganz. Das ist jämmerlich.“

Miriam Lau (Foto, 2010: Stephan Röhl auf wikipedia)

Die Autorin ist nicht gewillt, die Augen vor dieser Jämmerlichkeit zu schließen und das Trittbrettfahren gut zu heißen. Sie sieht in Merz einen deutschen Politiker, der das Zeug dazu hat, die europäischen Staaten auf eigene militärische Füße zu stellen. Sie konstatiert in Deutschland und in Europa eine Sehnsucht nach Leadership. Das Wort schreibt sie kursiv; wohl sträubt sich gegen das deutsche Wort ihre Feder. Dann aber kommt fast trotzig der folgende Satz: „Im Prinzip hat Merz…völlig recht; die Rolle des ‚leader of the free world‘ ist vakant, und die Zeit läuft.“

Das außenpolitische bereitet das innenpolitische Argument vor: Nur Merz sei in der Lage, mit den Verächtern der Republik fertig zu werden. Und nur er könne dem rechten Rand der CDU gegenhalten, den es zu blau-schwarzen Koalitionen zieht. Das Argument lässt sich nicht leicht von der Hand weisen – angesichts einer reformistischen Linken, unfähig, über die drei Parteienlager hinweg eine Regierungskoalition zustande zu bringen. Der Politikredakteurin steht die Entwicklung der Republikaner in den USA vor Augen. Vor solcher Radikalisierung soll uns Merz bewahren.

Für die AfD sind Trump, Vance und Musk lauter Asse auf ihrem eh schon guten Blatt. Letzterer ist ihr der wahre amerikanische Freund. In der Springer-Zeitung Die Welt durfte er schreiben: „Die Alternative für Deutschland ist der letzte Funke Hoffnung für dieses Land.“ Wie könne eine Partei rechtsextrem sein, deren Vorsitzende eine bekennende Lesbierin sei. „Klingt das für Sie nach Hitler? Ich bitte Sie“. Miriam Lau ruft seine per Video zugeschaltete Rede zum Wahlkampfauftakt der AfD in Erinnerung: Es gebe „zu viel Fokus auf vergangene Schuld…Es ist sehr wichtig, dass die Menschen in Deutschland stolz darauf sind, Deutsche zu sein.“ Ekstatischer Jubel bei den Parteitagsdelegierten.

Die Sache mit dem nationalen Notstand

Lau verweist auch auf Söder, um ein weiteres Argument anzuführen, das ihre Parteinahme für Merz stützen soll. Söder fürchtet sie wirklich. Er sei ein aus Überschwang, Wurstigkeit und Missmut schlecht gemixter Charakter ohne „Staatsernst.“ Er gönne Merz nur eine Atempause, und wenn die Pause auch vier Jahre dauere, stehe der Franke unweigerlich wieder vor der Tür, wenn nicht dem Merzschen Kabinett Erfolg beschieden sei. Die Argumentation der Autorin legt dem Leser eine Haltung nahe, dem Kanzler den Erfolg uneingeschränkt zu wünschen, koste es, was es wolle.

Kann der Erfolg auch auf Kosten des Asylrechts gehen? Dass die von seiner Regierung angeordnete Zurückweisung jedes Asylbegehrens juristisch nicht haltbar sei, lässt Merz unter Verweis auf einen behaupteten nationalen Notstand nicht gelten. Lau zögert, ob sie der regierungsamtlichen Linie folgen soll. Sie ist bekennende Parteigängerin der Realpolitik, die wiederrum ohne Rechtspositivismus nicht zu haben ist. Ob die Sache mit dem nationalen Notstand Bestand hat, oder Frau von der Leyen den Europäischen Gerichtshof doch noch anweist, das Grenzregime ihres Parteifreundes Merz zu überprüfen, wird man sehen. Kann man in Deutschland wirklich vom Staatsnotstand sprechen, weil einige Kommunen von der Masse der Flüchtlinge und den Kosten ihrer Unterkunft unzweifelhaft überfordert sind? Und was zeigt die von Frau Lau angeführte Statistik der in den letzten zehn Jahren verdreifachten sexuellen Übergriffe mit überproportionalem Anteil junger migrantischer Täter an? Ein dysfunktionales Asylrecht oder eine wie geölt funktionierende, mit Sexualisierung arbeitende, die öffentliche Bilderwelt dominierende Kulturindustrie, deren Phantasmagorien Jugendliche aus muslimisch geprägten Ländern förmlich verrückt machen?  

Der Begriff der Kulturindustrie ist voraussetzungsvoll; auf den deutschen Journalistenschulen wird man ihm nicht begegnen. Industrie und Ökonomie dagegen müssten der Autorin als Themen geläufig sein, zumal Friedrich Merz als der Fachmann auf diesem Gebiet gelten will. Seinem Expertentum fühlt sie nicht auf den Zahn. Sie belässt es bei dem Aufweis widersprechender Positionen. Gestern im CDU-Programm noch Hayek, heute in der Regierung schon Keynes. Merz erklärte im zurückliegenden Wahlkampf die Ampelregierung für den fortlaufenden Prozess der Deindustrialisierung verantwortlich. Aber Scholz und Habeck saßen nicht in den Geschäftsführungen von Siemens AG & Co. Merz ist sich dessen bewusst, dass die Verlagerung industrieller Arbeitsplätze Regionen zurücklässt, in denen die Wählerstimmen der Arbeiter den Höckes und Weidels wie reifes Obst in den Schoß fallen. Die CEO’s kann er dafür nicht verantwortlich machen, repräsentieren sie für ihn doch seinesgleichen. Aber jemand muss schuld sein. Habeck hatte sich in der Vergangenheit angeboten und natürlich Scholz mit seinem verpufften Doppelwumms.

Der AfD ist es gelungen, Arbeiterpartei zu werden, und die Unternehmen mit ihrer dem Profit geschuldeten Logik, industrielle Jobs in die von ihnen bevorzugten sogenannten Billiglohnländer auszulagern, haben die deutsche Rechte stark gemacht. Merz müsste es gelingen, den Industriearbeitern eine berufliche Perspektive aufzuzeigen und dies in einer Angestelltengesellschaft, in der körperliche Arbeit das Ansehen eines Relikts der Vormoderne hat. Leute wie er prägen das Selbstverständnis dieser Gesellschaft: Wer beruflich scheitert oder vorankommt, hat dies bloß sich selbst zu verdanken.

Merz, der Kanzler einer Exportnation und eines begrenzten Binnenmarkts, wird mit einem Germany First Donald Trump nicht kopieren können, denn der ist Herr über einen riesigen Binnenmarkt, was seine mit Zöllen betriebene Industriepolitik keineswegs als den Irrsinn erscheinen lässt, zu dem ihn die deutschen Volkswirte unisono erklären. Ob die Politik, lokale Investitionen mit entsprechenden Jobs anzureizen, scheitert, ist nicht ausgemacht. Wie aber sieht Merz‘ Industriepolitik aus? Appelle an alle, man müsse mehr arbeiten und mit dem work-life-balance-Gedöns aufhören? Wo es um die Dilemmata der deutschen Industriepolitik gehen müsste, liest man in dem Buch wenig bis nichts. Stattdessen Wiederholungen der von der neusten Soziologie gelieferten Floskeln: Modernisierungsverlierer, Verlustunternehmer.

Nein, er hat kein Problem mit Frauen

Dabei ist das Buch keineswegs hagiografisch, und Merz, so er es liest, wird sich über manche Stelle sehr ärgern. Dass er wie eine mit kurzer Lunte versehene Zündschnur schnell loszugehen droht, sein gegebenes Wort nicht hält („die kostbarste Ressource, die ein Konservativer hat“), bei der BILD Kloppersprüche raushaut, aber bei den liberalen Medien als Kritiker des Populismus durchgehen will, all das listet das Buch detailliert auf. Manchmal wird er auch in Schutz genommen. Nein, er hat kein Problem mit Frauen, die Ehegattin hat’s der Autorin von Frau zu Frau gesteckt.

Der Titel des Buchs spielt auf Marcel Prousts Roman an; Frau Lau hats mit der kleinen Ironie. Bei Proust tritt ein Zeitungsschreiber auf, von dem man täglich Artikel liest, „die mit jener falschen Brillanz geschmückt waren, welche er früher so oft…an die Getreuen verschwendete.“ Das ist Miriam Laus Sprache nicht, im Gegenteil. Sie schreibt mit Witz, und was sie dem Leser spendiert, sind Einblicke in die Zynismen des Politikbetriebs. Gilt es, die Gegenpartei mal ordentlich anzugehen, muss der attack dog ran. Funktioniert ein Redetext oder eine Programmschrift nicht, wie es im Jargon der Berufsschreiber heißt, muss mehr love in den Text. Leider hat sich die Autorin gegen den Schmu mit der love nicht immer hart gemacht. Der Friedrich, so gibt sie wieder, was ihr die Gattin „beim Salad Nicoise“ erzählte, sei gar nicht so, wie ihn das öffentliche Meinungsbild präsentiere. So wandere er gerne, fahre Fahrrad und gehe gern tanzen. Na also, trotz Sauerland und Kleinflugzeug, ein Mensch wie du und ich.

Mariam Lau: Merz. Auf der Suche nach der verlorenen Mitte
Ullstein Verlag 2025, 336 Seiten, 24,99 €

Unter dem Titel „Sehnsucht nach Leadership“ erschient die Rezension zuerst auf Glanz&Elend

Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

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