Diametrale Differenzen

Bild: geralt auf Pixaby

Man kann die Absichten der Verfasser und Verfasserinnen des nun bekannt gewordenen Manifestes über Krieg und Frieden in Europa drehen und wenden wie man will: Stellt sich der ordentliche Parteitag der SPD vom 27. bis 29. Juni in Berlin hinter dieses Manifest, wird das Ende der neuen schwarz-roten Koalition eingeläutet. Das würde kein Ende von jetzt auf gleich sein, obgleich sofort ein ziemliches öffentliches Gedöns einsetzen würde; aber ein Ende in Etappen wäre vorgezeichnet.

Ich stütze mich in dieser Bewertung auf die umfangreiche Berichterstattung des Tagesspiegel zum Thema „‚Inhaltlich in weiten Teilen fragwürdig‘: SPD-Abgeordnete distanzieren sich von Stegners ‚Manifest’“ (Siehe auch im Stern „Das steht im Grundsatzpapier der SPD-Politiker“ und im Spiegel „Jetzt knallt es in der SPD“; der Wortlaut des Manifests steht hier). Den Verfasserinnen und Verfassern des Manifests passt erkennbar die ganze Richtung der Sicherheits- und Rüstungspolitik der Bundesregierung nicht: Zu viel Rüstung, zu rasch und sowieso eigentlich nicht nötig. Und damit passt denen auch die Richtung der europäischen NATO- Mitglieder nicht, die wesentlich mehr öffentliche Mittel aufwenden wollen als bisher, um die USA in Europa zu halten. Man nennt Verteidigungsetats von 3,5 v.H. des Inlandsprodukts, wie sie der der SPD angehörende Verteidigungsminister Pistorius vertritt „irrational“, also bar der Vernunft und eigentlich nicht nachvollziehbar.

Mit Russland oder mit der gegenwärtigen Führung? 

Im zentralen Teil der Politik zur Wiedergewinnung von Waffenruhe in Europa unterscheidet sich das Manifest also diametral von Vorstellungen derjenigen, die in der Koalition mit CDU/CSU- zusammenarbeiten wollen. Und zwar in der Bedrohungs-Analyse mit Blick auf die Politik der gegenwärtigen Führung Russlands. Da liegt der Grund für die Wertung „irrational“. Die aktuelle sowie die künftige Bedrohung wird offenkundig für wesentlich weniger gefährlich gehalten als in der Bundesregierung. Die übereinstimmende Auffassung der Führungen in den baltischen Staaten, Finnlands, Schwedens, Moldawiens und Polens, wird nicht wahrgenommen, denn die ist von einer realen und wachsenden Bedrohung durch Russland unter Führung Putins geprägt.  Es heißt lediglich:  „Die Unterstützung der Ukraine in ihren völkerrechtlichen Ansprüchen muss verknüpft werden mit den berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität.“ Auf dieser Grundlage müsse nach dem Schweigen der Waffen mit der russischen Führung geredet werden. Man müsse mit Russland auf dieser Grundlage ins Gespräch kommen. Mit Russland oder mit der gegenwärtigen Führung?

Die Interessen aller? Auch die Orbans? Wie funktioniert das, wenn nicht mal ein Schweigen der Waffen über einige Wochen hinweg mit der russischen Führung vereinbart werden kann? Wie macht man das, wenn ein Beteiligter, statt Zeichen der Besonnenheit zu vermitteln, gewalttätiger vorgeht? Wie sieht es mit Anklagen und Strafen für Kriegsverbrecher aus? Sind die Dokumentationen der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Truth Hounds in das Manifest mit eingeflossen?

Was wird aus den abertausenden Kindern, die in der Ukraine geraubt und nach Russland entführt worden sind? Wo finde ich deren Schicksale im erwähnten Manifest? Nirgendwo. Was ich finde, das ist ein Hinweis, man brauche keine „einseitigen Schuldzuweisungen, sondern eine differenzierte Analyse“. Das sagt zum Beispiel auch Frau Wagenknecht. Die redet ja unentwegt davon, man müsse deeskalieren und ins Gespräch kommen. Die Manifestanten sagen, die Bundeswehr müsse eingebettet sein in eine „Strategie der Deeskalation und in eine schrittweise Vertrauensbildung“; während die mörderischen Angriffe auf zivile Einrichtungen in der Ukraine ausgeweitet werden.

Wir in Deutschland haben Dissidenten aus früheren Ostblock-Ländern die so kostbare Botschaft zu verdanken, dass Freiheit immer wieder verteidigt werden muss. Für mich ist dieses Erbe der Dissidenten- Bewegungen  ebenso bedeutsam wie die Friedens- und Ostpolitik der Brandt-Ära. In beidem steckt mein persönliches „Manifest“.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

7 Kommentare

  1. Als Journalistin verlernt man nicht sich zu wundern, wie Journalismus funktioniert. Am 11. Juni berichtet der Stern als erster über das Manifest, Mutmaßungen über geheime böse Absichten der Verfasser:innen schießen ins Kraut.
    Tatsächlich haben die Unterzeichner das Manifest seit Ende Mai im Netz breit verteilt und um Unterschriften geworben. Die Stoßrichtung SPD-Parteitag haben sie dabei offen und klar benannt: „Wir wollen damit im Vorfeld des SPD-Bundesparteitags und auf diesem Parteitag selbst auf die Delegierten einwirken, mit der Absicht dort möglicherweise einen Beschluss im Sinne dieses Manifests herbeizuführen oder zumindest ein politisches Signal zu setzen, dass es doch viele Stimmen innerhalb und auch außerhalb der SPD gibt, die dieser Partei eine friedenspolitische Perspektive zu einer gemeinsamen Sicherheit geben wollen.“
    Aber der Unterhaltungswert der Berichterstattung ist natürlich höher, wenn man aus einer politischen Initiative einen personal- und machpolitischen Angriff macht, über Hinterhalte und Intrigen spekuliert.

    1. Aber warum sollen Interpretationen, dass diese „politische Initiative“ (Jutta Roitsch) machtpolitische Folgen haben kann, bei Erfolg sogar haben wird, schlechter Journalismus sein?
      Es ist doch vielmehr guter und redlicher Journalismus, machen doch diese Interpretationen vorab auf die Folgen aufmerksam, welche diese Initiative im Falle ihres Erfolges zwangsläufig mit sich brächte.
      Konkret: Die SPD würde sich dann offen mindestens gegen den Umfang der geplanten Wiederaufrüstungs-Politik stellen, würde künftig erneut den imperialistischen Charakter der Putin-Politik (Wiederherstellung des Reiches der Sowjetunion) ignorieren beziehungsweise nicht-sehen. Damit würde sich die Partei SPD gegen die Politik stellen, welche die SPD-Spitze in der Regierung Merz gerade vereinbart hat. Ist das guter Journalismus, das zu verschweigen?

      1. An welcher Stelle des Kommentars von Jutta Roitsch steht, Journalist:innen sollten die machtpolitische Dimension des Manifests verschweigen? Wolfgang Storz kritisiert, was niemand gesagt hat. Der Aspekt, den Jutta Roitsch aus meiner Sicht sehr zu Recht thematisiert, ist dieser: Der politische Journalismus hat sich weitestgehend die Sachdebatte gespart und stattdessen gleich gemacht, was er am liebsten macht, nämlich mit personal- und parteipolitischem Tumult losgelegt. Das fällt offenbar kaum noch auf, obwohl es nichts anderes als Diskussionsverweigerung ist. Mit der richtigen Feststellung „Frieden braucht eine bessere Verteidigung Europas und glaubwürdige Abschreckung“ hören die offenen Fragen doch nicht auf, sondern fangen an. So zu tun, als gebe es darauf nur die Antwort von Pistorius und Merz, entspricht dem Armutszeugnis, das große Teile des politischen Journalismus sich unter Wolfgangs Beifall gerade ausstellen.
        Einen, wie ich finde, sehr guten Kommentar („Weder abwegig noch empörend“ ) las ich bei der Friedrich Ebert Stiftung („Außen- und Sicherheitspolitik“) https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/weder-abwegig-noch-empoerend-8348/

  2. Ich sehe das Problem nicht wirklich: Das „Manifest“ von Stegner und anderen mit diesem sicher bewusst gewähltem Titel, ist eine politische Initiative, gründlich vorbereitet, mit vielen Unterschriften versehen. Aber gerade dadurch ist es doch, egal ob drei Wochen oder vierzehn Tage vor dem SPD-Parteitag auch ein personal- und machtpolitischer Angriff, zumindest auf Klingbeil und Pistorius.
    Entscheidender finde ich, dass die Autoren ihre andere Auffassung, die in einigen Sätzen klar zum Ausdruck kommt, einbetten in ein friedens- und sicherheitspolitisches Gerüst von vor dreißig, vierzig und fünfzig Jahren und so tun, als müsste man nur dahin zurückkehren, obwohl die Voraussetzungen dafür weggefallen sind bzw. sich grundlegend geändert haben. Das wird nicht in Ansätzen artikuliert und analysiert.

  3. Während der Debatte über die Nach-Nachrüstung zu Beginn der achtziger Jahre wurde mir erklärt, wenn ich die Frage aufwarf, warum Raketen der damaligen UdSSR auch meine Familie und mich bedrohten: Das darfst du nicht persönlich sehen. Nicht persönlich nehmen. Ich bin sicher, dass andere Ähnliches vernommen haben. Existenzielle Bedrohungen haben aber immer eine persönliche Bedeutung. Das bilden die Berichte und Kommentare über das Manifest der 120 auch ab. Nicht nur, sondern auch. Allerdings gibt es Ungereimtheiten, die mich nachdenklich werden lassen. Gestern habe ich die digitale Fassung des Interviews von Georg Ismar mit dem früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich gelesen. Darin finde ich folgende Passage:
    Frage: „In dem Papier steht auch folgender Satz: „Wir brauchen eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die schützt, ohne zusätzliche Sicherheitsrisiken zu schaffen.“ Was ist denn eine defensive Ausstattung der Streitkräfte?“
    Antwort: „Das knüpft an eine alte Diskussion aus den Siebzigerjahren der Bundeswehr an, ob man Streitkräfte so ausstatten kann, dass sie dem Gegner signalisieren, dass man keine strukturelle Angriffsfähigkeit plant – die neuen Mittelstreckenwaffen zum Beispiel werden ja eher offensiv eingesetzt, als Systeme zur frühzeitigen Reaktion. Das schränkt den Primat der Politik ein. Wir brauchen Waffensysteme, die eher zur Abwehr und Verteidigung eingesetzt werden können.“
    Frage: „Aber auch die Bundeswehr besorgt sich nun sogenannte Kamikazedrohnen, die eher angreifen als verteidigen.“
    Antwort: „Das sind schwierige Fragen. Politiker, die das humanitäre Völkerrecht mitdenken, müssen sich immer die Frage stellen, wie kann ich auf der einen Seite einen Gegner bekämpfen und andererseits Zivilisten schützen. Auch das ist doch keine Schande, wenn man sich darüber Gedanken macht.“
    In der schriftlichen Fassung fehlt diese Passage, aus welchen Gründen auch immer. Darüber will ich nicht spekulieren. Es steht freilich darin der einzige Hinweis auf Waffentechnologie neben den Mittelstreckenraketen. Über solche Drohnen hat es in der SPD eine jahrlange quälende und auch – nach meiner Ansicht – verstörende Diskussion gegeben. Rolf Mützenich hat sich jahrelang vehement gegen die Verwendung solch schrecklicher Waffen gewehrt. Heute bestimmen diese Waffen materiell in einem Krieg mit hunderttausenden Toten und Verwundeten. Wer sie im Krieg nicht einsetzt, einsetzen kann, der verliert, wie der Fall Armeniens zeigt. Mützenich zögert da: „Schwierige Fragen…“ Und natürlich ist es keine Schande, sich da Gedanken zu machen.
    Ich komme zum Ausgangspunkt zurück. Zum Persönlichen. Ich habe drei tolle Enkel, die ich liebe. In weniger als zehn Jahren werden sie in dem Alter sein, in welchem sie „gezogen“ werden könnten. Was soll ich da wünschen: Dass die Bundeswehr so ausgestattet ist, defensiv hin oder her, dass sie eine realistische Chance haben, zu überleben, falls sich ein bewaffneter Konflikt nicht vermeiden lässt? Oder würde ich sagen: „Schwierige Fragen….“
    Was wir heute bereden und worüber wir streiten, das hat in der Zeit Konsequenzen. Auch für uns. Ob unser Reden immer mit der nötigen Pflicht zur Ehrlichkeit geführt wird, bezweifle ich. Aber da folgen wohl Medienleute eher der politischen Seite als umgekehrt.

  4. Eigentlich ist das Geschehen in der Ukraine nur noch deprimierend, der Schauplatz gerät außerdem angesichts der Gewaltspirale im Nahen Ostens ins Hintertreffen. Wir erleben ein weiteres Feld der desaströsen Politik D. Trumps, der sich wie bei der Ukraine auch beim Atomabkommen mit dem Iran schon vor Jahren von Europa gelöst hat und jetzt mit seinem Handeln bewirkt, das die Welt einen Schritt näher an den Abgrund kommt. Aber zur Ukraine. Dein Hinweis , Hans Jürgen, auf das Papier von M. Krohs hat mich neugierig und nachdenklich gemacht. Aber bei mehrfacher Lektüre des „Manifests“ und der Wertung durch Krohs komme ich zum Ergebnis, dass dessen Wertung eher verharmlosend ist. Die Auffassung, dass eine künftige Sicherheitsarchitektur Europas auch Russland einbeziehen muss, ist nicht falsch – aber wann und unter welchen Bedingungen? Das Manifest und auch Krohn gehen überhaupt nicht darauf ein, wie denn der Zustand hergestellt werden kann, um einer neuen KSZE überhaupt in die Nähe zu kommen, die damals außerdem auf einem Gleichgewicht des Schreckens basierte und dies auch zur Voraussetzung hatte.
    Weder bei Krohn noch im Manifest ein Wort darüber, warum sich in Deutschland und Europa Kräfte der Aufrüstung durchgesetzt haben. Wundert es denn, dass momentan davon ausgegangen wird, dass „Frieden und Sicherheit“ gegen Russland erzwungen werden muss, gegen ein Russland, das Tag für Tag Tod und Vernichtung verantwortet? Und dieses immer wiederkehrende Argument, die Osterweiterung der NATO sei die Ursache oder zumindest mit Mit-Ursache des russischen Vernichtungskrieges (denn anderes kann dieser Krieg gegen die Ukraine nicht mehr qualifiziert werden). Einmal an die adressiert, die immer gern von „berechtigten Interessen“ sprechen – ist es nicht eine berechtigtes, ja existentielles Interesse der osteuropäischen Staaten, nach Erfahrungen mit despotischer Zarenherrschaft und totalitärem Sowjetkommunismus, bei einem instabilen und schrittweise wieder aggressiverem Russland der NATO beitreten zu wollen? Und die einseitige, gegen den Westen gerichtete Interpretation des Abrüstungs- und Rüstungskontrollgeschehens nach 1990, stellt das eine Grundlage für künftige Verhandlungen dar? „Nicht einseitige Schuldzuweisungen“ – damit ist doch auch gemeint, dass die Annexion der Krim, der paramilitärische Einsatz in der Ostukraine 2014 und der Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine 2022 mit dem humanitär begründeten, wenn auch rechtlich fragwürdigen Einsatz der NATO in Serbien in einen Topf geworfen werden? Alle die „zentralen Elemente einer neuen, zukunftsfähigen Friedens- und Sicherheitspolitik“ sind vielleicht interessant. Sie gehen allerdings von einem Russland und seiner Führung aus, die es so nicht gibt und die auch nicht absehbar sind. Und sie beginnen mit dem locker formulierten Satz „Möglichst schnelle Beendigung des Tötens und Sterbens in der Ukraine“. Dazu erfolgt kein eindeutiger und eindringlicher Appell an Russland, sondern ein verquaster Verweis auf mehr diplomatische Anstrengungen, wobei die militärische Unterstützung überhaupt nicht mehr erwähnt wird. Dabei seien noch dazu die „berechtigten Interessen aller in Europa an Sicherheit und Stabilität“, zu berücksichtigen, ohne deutlich zu machen, dass damit wohl auch die selbst definierten Interessen Russlands gemeint sind. Die zielen, wenn nicht auf die Vernichtung, so doch auf eine Verkleinerung, Wehrlosigkeit und Unterordnung der Ukraine unter russischem Herrschaftsanspruch. Daher ist das „Manifest“ eine Verharmlosung des realen Zustandes und baut Luftschlösser künftiger Sicherheitsarchitektur, die in der derzeitigen Macht- und Kriegsstruktur keinerlei Fundament haben, aber auch nicht geeignet sind, sie zu überwinden. Und sie zeigen auch keinen neuen nachvollziehbaren Weg, wie Russland jenseits der bisherigen Wege zur „Beendigung des Tötens und Sterbens in der Ukraine“ als zwingende Voraussetzung aller weiteren Überlegungen veranlasst werden kann.
    Spielt am Ende das „Manifest“ nicht doch nur jenen in die Hände, die die militärische Unterstützung der Ukraine ebenso wie die eigene Aufrüstung verringern wollen und die wieder einen Zustand wie vor 2022 oder 2014 herstellen wollen, was immer in der und mit der Ukraine geschehen mag?

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