Ein Fall von Gesinnungsjournalismus

Screenshot: Focus online

Das Manifest mit dem Titel „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ sorgte nicht nur in Partei und Bundesregierung für aufgeregte Debatten über verantwortungsvolle Friedenspolitik, sondern auch in den Medien. Während der Inhalt je nach Medium in Bruchstücken vermittelt wird, findet sowohl durch die Auswahl der beteiligten Genannten als auch der Aspekte aus den vielfältigen Themen bereits Framing – also Perspektivgebung – statt. Interessant sind die Meldungen und die Berichterstattung, um zu prüfen, inwiefern dort Nahelegungen angeboten werden, obwohl man neutral informieren will.

Den Inhalt des dreieinhalbseitigen Manifests sollte man im Original lesen, um alle Aspekte wahrzunehmen, die in keiner Berichterstattung sämtlich widergespiegelt werden. Allein die Teile zum weitgehend vergessenen KSZE-Prozess der 1970er Jahre, die alle international zu einer kritischen Prüfung seiner Verletzungen, Möglichkeiten und Grenzen auffordern, bieten viel Reflexionsmöglichkeiten. Da das Manifest zielgerichtet vor SPD-Parteitag und Nato-Gipfel lanciert wurde, ist es als strategische politische Kommunikation einzuordnen. Auf der Inhaltsebene kann man ihm reichhaltige Fakten, historische Analyseteile und zu diskutierende Fragen bescheinigen. Die Selbstoffenbarung der Verfasser ist eine von Besorgnis und politischer Verantwortung. Ihr Appell liegt in der Aufforderung, alle Optionen zu überdenken und neu zu gewichten.

Medien als idealtypische vierte Gewalt sollen strategische Kommunikation stets kritisch betrachten. Fühlt man dem Manifest recherchetechnisch auf den Zahn, dann könnte man einige Fehlstellen ausmachen, wie etwa die nebulös bleibende Weltwirtschaftsordnung, die nur hinter einigen der genannten Missstände aufscheint.

Wir folgen der Leitfrage: Was sind Leitplanken journalistischer Neutralität? Denn es geht um „Friedenssicherung in Europa“, und eigentlich gibt es mit der Friedenspflicht für den Journalismus einen Bias als Vorgabe – an den man sich aber nicht hält, wie Jörg Becker in seinem Buch „Medien im Krieg – Krieg in den Medien“ beklagt. Hingegen fördern Medien gerne Kontroversen, der Google-Algorithmus belohnt sie zudem; dabei steht der Inhalt des Manifests gar nicht im krassen Gegensatz zur Regierungspolitik, sondern plädiert vor allem für Ergänzungen und andere Gewichtungen.

Neutral wirkt besonders der Er-sagt-sie-sagt-Journalismus, wobei man auswählen kann, wem man (k)einen O-Ton gibt. Je nach Positionierung von CDU/CSU, AfD, Linken und BSW wird auch ein Label vergeben – etwa wenn die AfD posaunt, die SPD schließe sich ihnen an. Als „Trolle Putins“ dürfte das diskreditierend wirken.

Abwertungen und Distanzierungsmarker

Wo man journalistisch einordnen könnte, wird es oft unterlassen: nämlich wenn in Statements Prämissen enthalten sind, die dem Ausgangspapier gar nicht entsprechen. Beispielhaft dafür steht der „Focus“-Artikel vom 11. Juni 2025 „Brisantes Russland-‚Manifest‘ sorgt für Entsetzen“, der neben der Reduktion auf Russland den Autoren des Manifests unterstellt, „eine Kehrtwende“  zu verlangen.

Reduktionistisch dramatisierende Komposita wie „Russland-Manifest“ erwartet man eher bei Springers „Bild“. Es findet sich aber auch auf tagesschau.de (12. Juni 2025). Unter dieser Überschrift wird eine Sammlung von Zitaten einzelner Politiker geboten mit einem hohen Anteil der SPD-Autoren, wobei das „Manifest“ konsequent distanzierend in Anführungszeichen gesetzt wird. Im ersten Absatz heißt es: „Das sogenannte Manifest fordert eine Abkehr von der derzeitigen Aufrüstungspolitik der Bundesregierung sowie eine ‚Zusammenarbeit mit Russland‘.“ Während Letzteres ein Triggerpunkt zu sein scheint, wertet die adjektivische Markierung „sogenannt“. Eventuell ist sie gar von einer dpa-Meldung inspiriert, wo es am 11. Juni 2025 heißt: „die sogenannten SPD-Friedenskreise“. In der besagten dpa-Meldung markiert man auch „einen angeblich drohenden Krieg“ als irreal. Dies sind (Ab-)Wertungen, typische Distanzierungsmarker und dienen der eigenen Positionierung – ein No-Go in einem Bericht. Ähnlich verhält es sich mit Adjektiven wie „heikel“ („Stern“, 10. Juni 2025, Erstberichterstattung) oder „brisant“ („Focus“, 11. Juni 2025), die stark wertend sind – anders als bei „umstritten“, wenn etwas wirklich umstritten ist wie in diesem Fall. Auch die „taz“ wertet in einer Oberüberschrift mit „Manifest von SPD-Altvorderen“ (13. Juni 2025) stark ab.

Diese Schlaglichter dürften genügen, um aufzuzeigen, dass auch außerhalb von Kommentaren kommentiert wird. Gemessen an der journalistischen Aufgabe, den offenen gesellschaftlichen Diskurs zu fördern, haben wir es hier eher mit Formen von Gesinnungsjournalismus zu tun. Der positioniert sich zum Sachverhalt, indem er ihn unterstützt oder (wie in diesem Fall vor allem) bekämpft.

Unter dem Titel „‚Manifest‘ und die SPD: Medien zwischen Neutralität und Meinung
erschien der Beitrag zuerst in der Frankurter Rundschau.

Sabine Schiffer
Prof. Dr. Sabine Schiffer leitet das Berliner Institut für Medienverantwortung (IMV) und lehrt an der Media University Frankfurt Journalismus und Kommunikation. Das IMV (https://medienverantwortung.de/) richtet sich an Medienschaffende und Medien­nutzende, es klärt über Medieninhalte, deren Selektionskriterien und Darstellungsmechanismen auf, und bietet Medienbildung in Seminaren, Publikationen und Konzepten an.

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