Jens Spahn – unfähig oder berechnend

Foto:Olaf Kosinsky auf wikimedia commons

Das Desaster um die RichterInnen-Wahl hat an der Oberfläche eine politisch-handwerkliche Dimension und darunter eine tiefgreifende, die daran erinnert, dass diese Republik überraschend schnell vor tektonischen Verschiebungen stehen kann.
Wie die aktuellen Medien und die PolitikerInnen in ihren ersten Stellungnahmen kann man/frau sich auf das Handwerkliche konzentrieren: „Das geht auf die Kappe von Unionsfraktionschef Jens Spahn. Der Ärger wäre vermeidbar gewesen“, kommentiert Der Spiegel. Aus einer solchen Beschreibung leitet sich die berechtigte Frage ab: Jens Spahn ist erfahren und intelligent. Wenn dieser Ärger – Ärger? Auf die Idee, einen Tabubruch so zu verharmlosen, auf die muss man erst einmal kommen – vermeidbar gewesen wäre, warum hat Spahn ihn nicht vermieden?

Klar: Es kann sein, er ist, wie während der Pandemie mit seinen Masken-Affären, in Stresssituationen schnell überfordert. Die andere Lesart, jenseits eines persönlich-situativen Versagens, muss jedoch auch gesehen werden, mindestens mit gleichem Gewicht und gleicher Bedeutung: Jens Spahn testet das erste Mal als Fraktionsvorsitzender aus, wie sich der Kulturkampf der Rechten und Rechtsextremen in die Bundesregierung hineintragen lässt.

Warum nicht als genauso wahrscheinlich annehmen: Hier hat ein Vorsitzender seine Fraktion nach rechts aussen laufen und politisch vollstrecken lassen, was ein rechtsradikaler Digital-Mob bereits seit einigen Wochen gegen eine liberale kompetente Verfassungsrechtlerin in Gang gesetzt hat: sie wegen ihrer liberalen Positionen (die man kritisieren kann, aber nicht diffamieren) politisch zu Fall zu bringen, zuletzt buchstäblich hinzurichten, mit dem Ansinnen, wir können ja gerne die beiden anderen Kandidaten ganz normal und wie geplant heute wählen.

Die Tür zu einer Union/AfD-Regierung ist hiermit einen Spalt geöffnet worden. Es ist der erste Eklat, der dem Regierungspartner SPD und dem liberalen Flügel in der CDU zeigt, wie eng der rechte CDU-Flügel die Grenzen setzt. Es werden weitere Folgen, ganz nach dem rechtskonservativen Drehbuch: Wir müssen Streit und Ärger in der Regierung Merz verhindern. Mit der SPD ist das nicht möglich. Und da Kanzler Merz gegen die AfD von niemandem abgewählt werden kann, liegt als Ausweg der Union aus der Regierung mit dem Chaos-Partner SPD nahe: Probieren wir doch ganz einfach und so normal, wie es Jens Spahn eben im Sinn hat, die fallweise Zusammenarbeit mit der AfD.
Die CDU-Rechte ist unter aktiver Mitwirkung von Jens Spahn, ob aus Unfähigkeit oder aus Berechnung, diesem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen.

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

7 Kommentare

  1. Ich teile die Einschätzung von Wolfgang Storz, dass diese Republik überraschend schnell vor tektonischen Verschiebungen stehen kann und seine Schlussfolgerung, dass (gestern, Freitag, 11.07.2025) die CDU-Rechte ihrem Ziel einer Union/AfD Regierung einen Schritt näher gekommen ist.

    Anzunehmen, dass Spahn bei der Vorbereitung der Richterwahlen ein Fehler unterlaufen ist oder er eine Stimmung falsch eingeschätzt hat, scheint mir unwahrscheinlich. Da ist schon eine kalkulierte Absicht erkennbar.

    Spahn und die Rechten in der Union planen seit längerem erkennbar ein Rechtsbündnis mit der AfD. Im Zusammenhang mit diesem Ansinnen, sind auch die Vorgänge um die Richterwahlen zu sehen.

    Der von Spahn in kauf genommene Eklat um die Richterwahl dient zunächst dazu, die Autorität von Merz, der sich noch kurz vor der Richterwahl bei der Regierungsbefragung auf die Frage der AfD eindeutig hinter die Vorgeschlagenen gestellt hat, zu beschädigen.

    Öffentlich wurde durch den Eklat Merz von Spahn gezeigt, dass dieser sich weder auf ihn noch auf die Fraktion wirklich verlassen kann. Für Merz, der aufgrund seiner Großsprecherei, seiner opportunistischen Führungsschwäche und fehlenden Durchsetzungsfähigkeit und seiner inhaltlichen Wackligkeit schon jetzt kaum noch Kanzlerglanz hat, ist das dramatisch.

    Weiter dient der Eklat dazu, die von Merz geführte Bundesregierung insgesamt zu beschädigen und die SPD – gerade auch durch den gestrigen Versuch der Union, die Wahl aufzusplitten – zu demütigen, indem der SPD öffentlich gezeigt wird, dass sie in der Koalition praktisch keine Möglichkeit hat, Ihre Vorschläge durchzusetzen, wenn sie der Union nicht passen.

    Der Eklat zielt auch darauf – und das ist das, was am schwersten wiegt -, den grundgesetzlichen Rechtsstaat, der den Rechten grundsätzlich im Weg steht, zu diskreditieren.

    Die Beschädigung der zur Wahl gestandenen vorgeschlagenen Kandidatinnen und auch des Kandidaten sind geeignet, künftige Kandidatinnen und Kandidaten einzuschüchtern, damit auch die Autorität des Bundesverfassungsgerichtes insgesamt, das über das Grundgesetz zu wachen hat, in Frage zu stellen, und damit den grundgesetzlichen Rechtsstaat insgesamt zu bedrohen.

    Mit dem gestrigen Eklat wird die Geringschätzung des grundgesetzlichen Rechtsstaates in den Teilen der Union sichtbar, die mit der AfD zusammenarbeiten wollen, die deshalb auch gegen einen AfD-Verbotsantrag sind.

    Denn dieser grundgesetzliche Rechtsstaat würde einer Politik eines Rechtsbündnisses in wesentlichen Bereichen, sei es bei der Asyl- und Migrationspolitik, sei es bei einer Politik, die die Zerstörung der Biosphäre in kauf nimmt, sei es bei der Herabsetzung der Existenzsicherung der Menschen im Land, sei es bei der kulturkämpferischen Diskriminierung von Menschen im Weg stehen.

    Schließlich dienen solche Vorgänge wie gestern auch dazu, die Widerstandsfähigkeit des rechtsstaatlichen Teils in der Union und in weiten Teilen der Gesellschaft gegen ein Rechtsbündnis systematisch zu zermürben.

    Um diese Zermürbung aufzuhalten, sollte sich der rechtsstaatliche Teil der Union jetzt dazu durchringen, zusammen mit SPD, Grünen und Linken den AfD-Verbotsantrag auf den Weg zu bringen.

  2. Die gegenwärtige Mainstream-Öffentlichkeit macht auch dieses Mal, was sie – historisch gesehen, aber auch synchron in ziemlich vielen Ländern mit den USA an der Spitze – immer macht, bis es zu spät ist: Nicht wahrhaben wollen, verniedlichen, dethematisieren. Den demokratischen Rechtsstaat zu zerstören, den Sozialstaat zu minimalisieren und emanzipatorischer Kultur den Boden zu entziehen, ist keine Nebenwirkung, sondern Programm des Zusammenspiels von Rechtskonservativ und Weitrechts.

  3. Nochmal einen Schritt zurück auf die Sachebene, liebe Herren Storz, Weber und Arlt: Das eigentlich harsch zu Kritisierende ist, dass man im Vorfeld bei der Kandidatenkür hätte klären müssen, auf welche Kandidaten sich Union und SPD einigen wollten und konnten. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die Kandidatin Brosius-Gersdorf zurückzukommen, die keineswegs gesagt hat, man solle doch unbedingt im 9. Monat Kinder abtreiben, wie seitdem in bestimmten Medien munter behauptet wird, sondern folgenden Satz:“„Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“ Das ist eine sehr grundsätzliche und komplexe Aussage, die über das Problemfeld der Abtreibung und des juristischen Umgangs damit hinausgeht.
    Deshalb kann man Menschen mit dem christlichen Menschenbild als Grundlage (und nicht nur denen) nicht vorwerfen, dass sie mit dieser Auffassung arge Bauchschmerzen haben. Das macht diese Menschen doch nicht zu AfD-Sympathisanten oder „rechtskonservativ und weitrechts“!!
    Aber eben deshalb hätte die CDU/CSU-Fraktion rechtzeitig mitteilen müssen, dass diese Kandidatin für sie nicht wählbar sei und man hätte sich auf jemand anderen oder jemand andere einigen müssen. Die Wahl am Wahltag platzen zu lassen, nicht ohne dass vorher wie von Geisterhand noch Plagiatsvorwürfe gegen die umstrittene Kandidatin in den Raum schweben – das riecht schon sehr nach Intrigantenstadl. Ob Herr Spahn hier einfach zu spät gehandelt hat (Stichwort Überforderung) oder eine geplante Zerreißprobe für die große Koalition inszeniert hat, kann auch ich nicht abschließend beurteilen. Fairerweise möchte ich auch darauf hinweisen, dass seine (von mir entschiedenst abgelehnte!) Aussage, man solle die AfD doch wie eine normale Partei behandeln und politisch bekämpfen anstatt sie zu verbieten kurz vor der Einstufung derselben als gesichert rechtsextrem durch das BVerfG, nicht bedeutet, dass er mit der AfD gleich koalieren will. Soviel zur Akkuratesse auf der Sachebene.
    Aber auch ich halte Spahn für einen ziemlich skrupellosen und von sich selbst sehr überzeugten Machtmenschen. Ob er intelligent ist, weiß ich nicht und hängt auch davon ab, wie man Intelligenz definiert bzw. welche Art von Intelligenz man in diesem Kontext meint.
    Ein führungsstarker Kanzler müsste Herrn Spahn jetzt die Leviten lesen – aber leider wird das wohl nicht stattfinden.
    Ob es in der Union tatsächlich Kräfte gibt, die mit der AfD zusammenarbeiten wollen, wage ich zu bezweifeln. Ebenso zweifelsohne hat es diese gegeben, aber die sind wie Herr Gauland gleich in die AfD abgewandert oder in Herrn Maaßens Werte-Union.
    Der erste AfD-Verbotsantrag kam übrigens von einem sächsischen CDU- Bundestagsabgeordneten, Marco Wanderwitz, deer leider nicht mehr MdB ist.
    Aber generell stimme ich Ihnen, Herr Arlt zu, dass wir wachsam sein müssen. Es gilt die Devise: „Principiis obsta“!!

    1. Danke, Frau Stork, für die Ermunterung zu „Akkuratesse auf der Sachebene“, die ich verstehe und mit der ich einverstanden bin.
      Mein Problem ist: Es lassen sich für jeden Einzelfall, in dem Rechtskonservativ und Weitrechts sich die Hände reichen, auch nachvollziehbare, sogenannte gute Gründe finden – Rechtsaußen-Politik ist ja nicht so sehr ohne Sinn und Verstand, wie man es Links gerne glaubt. Aber jeder Einzelfall lässt unser Land auf der schiefen Ebene tiefer rutschen. Das Risiko, dass mit der nächsten akuten Krise entgleitet, was diese Bundesrepublik lebenswert macht, steigt.

    2. Liebe Frau Stork, vielen Dank für Ihren Kommentar. Wenn Sie schreiben: „Nochmal einen Schritt zurück auf die Sachebene, … Das eigentlich harsch zu Kritisierende ist, dass man im Vorfeld bei der Kandidatenkür hätte klären müssen, auf welche Kandidaten sich Union und SPD einigen wollten und konnten“ möchte ich darauf hinweisen, dass da nichts zu kritisieren ist, weil auf der Sachebene genau dieses geklärt war.

      Die Spitzen von Union und SPD hatten sich im Vorfeld der Nominierungen auf den Vorschlag geeinigt. Und dieser Vorschlag bekam im 12 köpfigen Wahlausschuss des Bundestages (Union 5, AfD 3, SPD 2, Grüne 1 Linke 1) acht Stimmen, also eine Zweidrittelmehrheit.
      Auf Sachebene gab es am Freitag keine Unklarheit über die Vorgeschlagenen, über die noch sinnvoll hätte geredet werden können und über die man auch in Zukunft sachlich sinnvoll reden kann. Stattdessen gab es eine unsachliche und willkürliche Hetzkampagne von rechts, an der auch Unionsabgeordnete beteiligt waren. Diesen Abgeordneten zu unterstellen, sie hätten ein sachliches Problem gehabt, das im Vorfeld nicht besprochen und abgeräumt hätte werden können, erscheint mir reichlich naiv. Die Unionsabgeordneten, die Spahn und Merz die Gefolgschaft verweigerten, waren sachlich unerreichbar, weil sie Teil und zum Teil auch Treiber dieser Hetze waren.

      Insofern dient Ihr Hinweis, sich der Sachebene zuzuwenden nicht mehr wirklich der Sache, sondern lenkt von der politisch dramatischen Ebene ab, auf der zu sehen ist, dass Merz und Spahn auch bei geklärter Sachebene nicht mehr in der Lage sind, ihren Laden zusammenzuhalten.

      Beide, Merz und Spahn, haben das Desaster verursacht. Merz aus politischer Schwäche, Spahn kalt kalkuliert. Denn Spahn betreibt mit den Rechten – auch in der Unionsfraktion – ohne Rücksicht auf den Bundeskanzler und die rechtsstaatlichen Teile der Union erkennbar Politik mit der schwarzblauen Mehrheit im Bundestag.

  4. Cordula Stork hat zurecht darauf hingewiesen: Ob das Desaster um die Richterwahl auf handwerkliches Unvermögen der CDU/CSU-Fraktionsspitze um Jens Spahn zurückzuführen ist oder auf dessen strategische Absichten, immer wieder mal testweise — bei vorerst machtpolitisch unbedeutenden Themen — den Kulturkampf der Rechten in die Regierung hineinzutragen — das wissen wir nicht. Richtig.
    Meine rein subjektive Befürchtung: die zweite Möglichkeit trifft zu.
    Dieser Konflikt hat jedoch unzweifelhaft erneut gezeigt, dass das die entscheidende Frage ist:
    Wie gelingt es den anderen demokratischen Parteien, die demokratische Partei CDU/CSU möglichst in Gänze und dauerhaft in der Allianz gegen die rechte bis rechts-extreme AfD bei der Stange zu halten?
    Thomas Weber plädiert hier und in anderen Beiträgen für ein gemeinsam vereinbartes Verbotsverfahren gegen die AfD.
    Zunehmend argumentieren Wissenschaftler, wie beispielsweise Matthias Kumm und Michael Zürn, beide Wissenschaftszentrum Berlin, für einen anderen Weg, den ich für konkreter und gezielter halte. Und von dem ich denke, dass auch Rechts-Konservative ihn eher mittragen können.
    Diese beiden Wissenschaftler argumentieren in der FAZ (16.Juli, „AfD erlaubt, Höcke verboten“): Bei einem Verbot würden vor allem in Ostdeutschland auf einen Schlag zig Millionen Wählerstimmen entwertet. Das sei schwer zu rechtfertigen. Deshalb plädieren Kumm/Zürn, sich auf diese beiden Instrumente viel stärker zu konzentrieren: zum einen Verfahren gegen einzelne Funktionäre und PolitikerInnen nach Art.18 GG anstreben, um sie vom passiven Wahlrecht auszuschließen, wenn sie ihre Rechte für den Kampf gegen die demokratisch-parlamentarische Grundordnung mißbrauchen. Bisher ist dieses Instrument in Deutschland noch gar nicht angestrebt/angewandt.
    Das zweite Instrument: Von vornherein kein Verbot der AfD anstreben, sondern „nur“ den Ausschluss der AfD von der staatlichen Parteienfinanzierung. Das Argument der beiden Wissenschaftler: Es leuchte ein und sei gut vermittelbar, dass ein demokratischer Staat demokratiefeindliche Parteien/Organisationen im Wahlkampf nicht auch noch mit Steuergeldern finanzieren wolle.
    Ich finde auch: Beide Instrumente sind deutlich besser zu begründen als ein pauschales Parteienverbot. Und auch Konservative und Rechts-Konservative sind vermutlich auf Dauer für eine solche Strategie eher zu gewinnen.

    1. Es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, im Zusammenhang mit dem Umgang mit der rechtsextremen AfD alle vom Grundgesetz zum eigenen Schutz zur Verfügung gestellten Instrumente zu nutzen.

      Die Verfahren und Instrumente nach Art 18 und Art 21 GG schließen sich dabei nicht aus. Verfahren nach beiden Artikeln wären jeweils von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung oder allen zusammen zu betreiben.

      Insofern dürften politische Diskussionen und Willensbildungen, die zu entsprechenden Anträgen führen, sich nicht sehr von denen unterscheiden, die zum AfD-Verbotsantrag geführt wurden und werden.

      Ohne Verfahren gegen die AfD einzuleiten, dürfte es freilich eine Brandmauer zur AfD nicht mehr lange geben.

      Deshalb werden auch diejenigen, die die schon bröckelige Brandmauer zur AfD schleifen und mit der AfD zusammenarbeiten wollen und deshalb gegen ein AfD-Verbotsantrag sind, auch gegen die Einleitung der anderen Verfahren sein.

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