
Facebook mag für Theoriedebatten kein geeigneter Ort sein, aber vermutlich ist es einer, um Formen des Alltagsbewusstseins nachzugehen. Neulich die Gretchenfrage im Forum Philosophie, eine rege, von einer Federzeichnung eröffnete Debatte um Atheismus und Religion. Zwei Rücken an Rücken Sitzende in Denkerpose, darunter zugeordnet die Zeilen Philosophy: Questions that may never be answered. Religion: Answers that must never be questioned. Die Religionsallegorie zeigt eine ihr Kreuz lässig unter den Arm haltende Jesuskarikatur. Zu Wort melden sich etwa 70, um Orthographie meist unbesorgte Diskussionsteilnehmer. Ein verschwindender Teil nur nimmt Partei für die heftig attackierte religiöse Sache. Dann fallen Formulierungen, die auf eine Art Privatreligion hindeuten. So das 13. Statement: Wenn du nicht Gott anbeten willst, bete das Universum an und verbinde dich damit. Es ist Fakt dass alles schwingt, alles Energie und Frequenzen ist. Wenn du durch Gedanken und Positiv bist, schwingst du auf diese Ebene und du bekommst was du willst. Das Leben wird schöner. Die Kraft der Anziehung.
Die Religionskritiker formulieren Sätze, die seit den Zeiten der Junghegelianer zum festen Bestand dieser Kritik gehören. Gott, und alles, was damit zusammenhängt, ist eine Produktion des menschlichen Geistes, lautet das 4. Statement. Von den Junghegelianern datiert ein atheistisches Pathos, das noch in der Gegenwart nachhallt. Wäre Bruno Bauer auf Facebook aktiv gewesen, hätte er viel Zustimmung erfahren. Der Name Atheist…Losungswort der ersten Befreiung der Menschheit. Vermutlich ist auf keinem Feld Gesellschaftskritik so erfolgreich gewesen, wie auf diesem.
Das Christentum – eine Traumwelt
Die Religionskritik hatte Ludwig Feuerbach auf einen Stand gebracht, der es der deutschen Philosophie erlaubte, sich in Europa einmal wieder blicken zu lassen. Nouveaux philosophes und tonangebend waren die französischen Materialisten gewesen. Feuerbachs Sensualismus schließt zu ihnen auf. Noch der Glaube an Jesu Auferstehung zeuge von ihm. Es braucht Sinnenschein, ein leeres Grab, darin vorher der Leichnam. Feuerbach war Materialist ohne Wenn und Aber. Die Natur ist ihm das erste im Sinne des Unableitbaren, des durch sich selbst Bestehenden und Wahren. Wer in Frankfurt Philosophie studierte, hörte solche Sätze in Alfred Schmidts (1931-2012) Donnerstagsvorlesung.
Beim Alfred, wie man ihn auf dem Campus nannte, ist zu lernen: Feuerbach reduziert das biologische Sein nicht auf chemisches oder gar mechanisches; ein solcher Materialismus ist ihm zu simpel. Aber er schrieb keine systematische Erkenntnistheorie und noch viel weniger eine Ontologie oder Kosmologie. Das Christentum war für ihn, wie jede Religion, eine Traumwelt, eine den Verstand von den Sinnen trennender Denkfehler. Diesen Denkfehler zu vermeiden, erfordert aber eine politische Aktion. Marx stieß diese politisch-theoretische Aktion an. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Als diese Sätze geschrieben werden, herrschen im noch nicht existenten Deutschland vorbürgerliche, halbfeudale Verhältnisse, ein ancien régime, dem die Kirchen Weihrauch zufächeln. Marx setzt auf den französischen Akteur. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, wie…die Irreligiosität des sich als Menschen empfindenden Menschen…in das französische Proletariat herabgestiegen ist. Marx kritisiert als dialektischer Materialist, so Alfred Schmidt, will er doch die positive Aufhebung der Religion. Die kanonischen Sätze, mit dem Opium für das Volk anhebend, schließen mit Kants Moral, mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.
Die nördliche Halbkugel ist nicht mehr das Jammertal
Die aufgehobene Religion wäre die nicht mehr nötige. Verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt…, verschwindet auch die religiöse Widerspieglung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt, heißt es bei Friedrich Engels. Wenn das die Gesellschaftsmitglieder bezwingende ökonomische Machtverhältnis umgestürzt sei, gehöre die Firma Christentum & Co der Vergangenheit an. So lautet die Befreiungstheologie in atheistischer Form.
Die Religionskritik der späteren Marxisten hat sich nicht fort-, sondern eher zurückentwickelt. Man stößt sich jetzt an der Unwissenschaftlichkeit der Sache. Der Marxismus mündet in den breiten Strom positivistischer Religionskritik ein. Vor der positiven Wissenschaft liegt demnach die halbmythologische Religion, lautet die dazu passende Stadientheorie. Die angewandte Wissenschaft, die Industrie, habe dem Aberglauben den Garaus gemacht. Der Arbeiter in einem Elektrizitätswerk, der nur eine Kurbel zu drehen braucht, um auf viele Kilometer Entfernung die bewegende Kraft…zu entsenden, kann wie Gott im ersten Buche Mosis sagen: ‚Es werde Licht!‘ und es wird Licht. Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue ist wie der gesamte Marxismus des 19. Jahrhunderts von den Naturwissenschaften wie besoffen.
Nun ist die Bindekraft der Religionen in den entwickelten Industriestaaten massiv gesunken, ohne dass von umgestürzten Machtverhältnissen zu berichten wäre. Die ökonomischen Verhältnisse dürften für die schwindende religiöse Weltauffassung ursächlich sein. Die nördliche Halbkugel ist nicht mehr das Jammertal, als dessen Trost die Religion einmal verstanden war. Und ursächlich sind wohl auch die physikalischen Wissenschaften. An diese delegiert der gesunde Alltagsverstand sein Bedürfnis nach Welterklärung. Dem Gottglauben dagegen haftet das Bild des Nicht-ganz-Mitgekommenen an. Wer mit ihm bricht, hat allemal mehr vom Leben, so das Versprechen. Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin – ein Spontispruch der säkularen Gesellschaft.

Religiös unmusikalisch
Eine Theologie, die sich mit der naturwissenschaftlichen Welterklärung anlegen würde, ist nicht in Sicht. Lange schon hat die Theologie ihre Sache rein auf den Glauben gestellt. Das ist ein ziemlicher Treibsand in einer von Wissenschaft geprägten Welt. Es kommt der Theologie auch keine Philosophie zur Hilfe. Nachmetaphysisch ausgerichtet wie diese ist, sieht sie sich nicht veranlasst, religiöse Kohlen aus inexistenten Feuern zu holen. Sie rächt sich auch ein bisschen dafür, über lange Jahrhunderte zur Magd der Theologie degradiert gewesen zu sein.
Vor zwanzig Jahren führten Jürgen Habermas und der spätere Papst Josef Ratzinger ein Gespräch, das für das Verhältnis von nachmetaphysischer Philosophie in ihrer sprachpragmatischen Form und der Glaubenslehre in ihrer kanonisch-katholischen Form ein gültiges Dokument darstellt. Ratzinger verweist darauf, wie irrational ihm die Theorie einer Weltgenese aus dem Prinzip des Zufalls erscheint, aber das Gegenprinzip, eine planende Instanz, in seinem epistemischen System Gott genannt, vermag er nicht zu begründen. Dem Abenteuer des Glaubens bürdet er auf, was eine auf Rationalität gegründete Theologie leisten müsste. Habermas wiederholt die überzeugende These von den säkularen Gesellschaften, die dem religiösen Erbe Entscheidendes zu verdanken haben. Ohne die Idee der unvergänglichen Seele keine unveräußerlichen Rechte des Einzelnen. Ansonsten sieht er sich von keinem mit Argumenten verfochtenen Wahrheitsanspruch herausgefordert. Die theologische Rede von der Offenbarung beantwortet er mit dem kühlen Bekenntnis, religiös unmusikalisch zu sein.
Wo ist der Anfang der Sinnenwelt?
Theologie und Wahrheit sind zwei sich widersprechende Begriffe, ein Oxymoron, lautet ein Glaubensartikel, den zu bezweifeln sich kein um seine Reputation besorgter Theoretiker heute noch traut. Doch, einer hat sich’s getraut, der an der Theologisch-Philosophischen Hochschule in Frankfurt-Oberrad ausgebildete Karl Heinz Haag. Der hat nicht das Gleiche gemacht wie Adorno, so dass man sich seine negative Metaphysik nach der Lektüre der Negativen Dialektik sparen könnte. Für seine Metaphysik gilt, was Adorno über die Kantische in dem genannten Buch schreibt: Seine Philosophie kreist, wie übrigens wohl eine jede, um den ontologischen Gottesbeweis. Im heutigen Institut für Sozialforschung kreist keine Philosophie mehr, aber für Haag passt diese Charakterisierung wunderbar. Der verwickelt die mit Zufall argumentierende Kosmologie in ihre Widersprüche. In seinem Werk macht er das, was die Theologie hätte tun müssen. Die skandalisiert zwar den solcher Kosmologie immanenten Nihilismus (so wie es Ratzinger tut), aber sie widerlegt ihn nicht.
Eine dem Zufall die Weltgenese zutrauende Theorie will das Problem lösen, an dem der Materialismus gescheitert ist. Seine deterministische Weltauffassung war nicht durchzuführbar. Er hielt die kleinsten Teile der Natur, die Atome, für fähig, sich selbst zu ganzen Gebilden zu organisieren. Aus einfachen, anorganischen Elementen sollte durch Anziehung und Abstoßung komplexe organische Natur entstehen. Das war nicht stimmig. Das Hervorgehen komplexer Materie mittels eines Urstoffs zu erklären, der alle stofflichen Formen als mögliche in sich enthält, bot keine Lösung.
Der neuzeitliche, auf der Methode der physikalischen Wissenschaften basierende Materialismus konnte keine Anfangssituation der Sinnenwelt finden. Denn die Naturwissenschaften erforschen nur eine von Bedingungen abhängige Wirklichkeit, und diese kausale Kette von Ursache und Folge lässt sich auf kein Nicht-Verursachtes, Erstes hin transzendieren. Daher durfte die materialistische Welterklärung niemals behaupten, in einer Realität, bis zu der sie die Weltgenese zurückverfolgt hat, den Anfang des Universums zu besitzen. Alle wahrhaft kritischen Naturwissenschaftler sehen …das.
Eine andere Lösung als blinder Zufall
Den letzten Versuch einer streng materialistischen Naturerklärung unternahm Holbach, schreibt der hier zitierte Haag. Dem pfälzischen Baron ging die Unmöglichkeit auf, stofflich singuläre Naturgebilde aus einem materialistisch verstandenen absolut Ersten und Einen abzuleiten. Nach Holbach wird der Materialismus identisch mit dem auf Naturerklärung verzichtenden Positivismus. Und aus der Not des alten Materialismus wird die Tugend des neuen. Da sich das determinierende Prinzip nicht finden lässt, wird der Zufall an den Anfang der Welt gestellt.
Dem mit dem Zufall argumentierende Indeterminismus ist der Status der Naturgesetze völlig unklar. Gehören sie zur gegenständlichen Natur schon bevor sie zu deren Entstehung beitragen? Dann wären sie etwas in der Art einer platonischen Idee. Und die Naturstoffe, die voneinander verschieden und zugleich in symmetrischer Zuordnung passend sein müssen: Sie koordinieren sich selbst? Denn ein die Naturgesetze und die Auswahl der Stoffe koordinierendes Übergesetz wird man nicht annehmen dürfen. Haag schlägt eine andere Lösung als den blinden Zufall vor. Er argumentiert dabei weder mit Wundern noch mit Prophezeiungen, sondern mit einer Reflexion der Naturwissenschaften.
Bis Frankfurt Höchst, seinem Geburtsort und Lebensmittelpunkt, scheint sich demnach nicht rumgesprochen haben, was die Spatzen seit dem 18. Jahrhundert von den Dächern pfeifen: Gott ist tot. Es ist misslich; wer den Atheismus in Frage stellt, bekommt zur Beantwortung theologische Fragen aufgehalst. Woher und wieso das Böse, die Erbsünde, die Jungfrauengeburt, der auferstandene Jesus? Ein guter Gott soll die Welt erschaffen haben? Man sieht es ihr wahrlich nicht an. Aber all das ist nicht Haags Thema. Und er verwechselt auch nicht Predigen mit Argumentieren. Und für sich selbst hielt er es mit einem gewissen Kant, dem der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen als eine Nötigung erscheint. Haag weiß sich auch von der offiziellen Philosophiegeschichte nicht genötigt: Erst kam Kant und seine Widerlegung der Gottesbeweise, dann kam die von der Geologie getriggerte Evolutionstheorie, zuletzt das nachmetaphysische Denken. Wer jetzt noch über Gott philosophiert, der ist in die Bewusstseinsphilosophie zurückgefallen. So geht der Fortschritt der Philosophie laut Lehrbuch. Diesem Lehrbuch hat Haag sein eigenes entgegengestellt.
Mit den Evangelisten einig
Dass der Gottglaube auf rationale Begründung verzichten muss, hat die Theologie in ihrer protestantischen wie katholischen Ausprägung unterschrieben. Haag verzichtet nicht und er weiß sich – so ist einer leicht witzigen Bemerkung in seinem Hauptwerk zu entnehmen – mit den Evangelisten einig. Deren Botschaft geht auf Empirie, lassen sie doch den ungläubigen Thomas die Wunden des Auferstandenen mit den Fingern ertasten. Der Glaube kein irrationaler Akt, sondern ein Begreifen, ein rationales Sich überzeugen.
Von dem englischen Empiristen Bacon stammt das Bonmot Wenig Philosophie macht einen Atheisten, viel Philosophie versöhnt mit der Religion. Dieser Spruch war zu damaliger Zeit ein Kotau vor einer herrschenden Macht. Ein heutiger Konformismus legt eine konträre Haltung nahe: Ja nicht in den Geruch von Religion, beziehungsweise theologischer Lehre geraten. Haag hat da keine Berührungsängste, wenn er auch die irrationale(n) Konstruktionen der modernen Existentialtheologie heftig attackiert.
Wie sieht nun Haags Empirismus aus? Er geht von einer Reflexion über den erkenntnistheoretischen Status naturwissenschaftlicher Erkenntnis aus. Er legt den Weg der Aufklärung quasi nochmal zurück, waren es doch die physikalischen Wissenschaften, welche die Religionen als universale Weltauffassungen aufgelöst haben. Das physikalische Denken zerstörte das religiöse Weltbild, aber es führt auch über die empirische Welt hinaus, wenn es –was Haag leistet– auf seine eigene Möglichkeit reflektiert. Es stellt präzise Fragen an Naturstoffe, die es als gegeben nimmt. Welche virale Struktur kommt einer als Covid klassifizierten infektiösen zellbiologischen Struktur zu? Wissenschaftliches Vorgehen gibt zunächst vorläufige Antworten auf diese Fragen. Durch Trial and Error bestätigt es Hypothesen oder verwirft sie. Es fixiert eine messbare Wenn-Dann-Beziehung zwischen empirischen Vorgängen, und ist diese Beziehung gesichert, lässt sich, so in unserem Fall, die für die gefundene Virusstruktur passende, Antikörper provozierende mRNA entwickeln, eine Nukleinsäure.
Eine tief widersprüchliche Annahme
Laut Wikipedia kommen mehr als hunderttausend solcher mRNAs in einer menschlichen Zelle vor. Ihr planvolles, nach chemischen Gesetzen ablaufendes Zusammenspiel ist vorausgesetzt, damit in der DNA des Zellkerns der Nucleus für ein menschliches Individuum entsteht und aus dieser Zelle, die Befruchtung einer Eizelle vorausgesetzt, einmal ein Individuum entsteht. An dessen Ontogenese sind zahllose weitere, nach Naturgesetzen ablaufende chemische Prozesse beteiligt und die für diese Prozesse passenden chemischen Elemente. Ein Medizinforscher mag über die Symmetrie dieser Stoffe und Prozesse vielleicht einmal staunen, aber dies wäre ein Beiprodukt seines wissenschaftlichen Geschäfts. Seine Aufgabe als Biologe oder als Chemiker ist es nicht, nachzuforschen, wodurch Naturstoffe möglich sind, sondern die daseienden zu erforschen. Naturerklärung ist nicht sein Thema. Diese ist, so Haag, mit physikalischer Naturerkenntnis nicht identisch.

Die in Kants Kritiken angelegte Naturerkenntnis schreibt Haag fort, indem er sich an einem entscheidenden Punkt von dessen Philosophie entfernt. Die Naturgesetze haben nach Kant ihre Quelle im Denkapparat der Subjekte, nicht in der Objektwelt. Sie lägen vor aller Erfahrung. Das Ich schreibe der Natur die Gesetze vor, nicht umgekehrt. Die in der uns erscheinenden Welt geltende Gesetzmäßigkeit sei anderen Ursprungs als die Welt der Dinge an sich. Es ist ein grandioses, weltschöpfendes, überindividuelles Ich, das Kant glaubt gefunden zu haben, und keimhaft ist hier der abgeschaffte Gott zu besichtigen, der dann später Furore macht. Kant hat die Vorarbeit für die auf ihn folgenden Philosophien geleistet, die das Subjekt absolut setzen und den Schöpfergott entmachten. Aber der ist gedanklich verlangt, als Bedingung der Möglichkeit von Naturprozessen, schreibt Haag.
Ein menschliches Wesen ist möglich, weil Naturprozesse koordiniert ablaufen. Muss man darüber staunen? Der Philosoph des Nichtstaunens, Karl Popper, hat ein alle Naturgesetze koordinierendes Über-Gesetz angenommen. Laut Haag war er sich bewusst, dies sei eine irrationale Entscheidung, aber er sah sich genötigt, dieses Postulat an den Anfang seiner die Welt rein naturwissenschaftlich verstehenden Theorie zu stellen.
Die einander ergänzenden Naturgesetze und ihr stoffliches Substrat sind in ihrem Zusammenspiel nur verstehbar im Rückschluss auf einen universalen Plan der Weltgenese. Man kann sich dieser Denknotwendigkeit verschließen, muss dann aber an eine aus planlosem Geschehen entstandene, von stabilen Naturgesetzen geordnete, von biologischer Taxonomie erfassbare Welt glauben; eine tief widersprüchliche Annahme. In solcher Kosmogenese muss der Zufall als Gott gelten. Vernunftgemäß ist es dagegen, ein formendes, allmächtiges Prinzip zu denken. Es ist vorausgesetzt, damit Naturwissenschaft überhaupt betrieben werden kann. Ein Prinzip von höchster Vernunft, schreibt Haag.
Wir können es nicht wissen
Dieses Prinzip sei nichts anderes als das intelligent design der Evangelikalen, der in Nord- und Südamerika starken christlichen Rechten, lässt sich nun eine vernichtende Kritik vernehmen (vgl. Kritiknetz, eine Internetzeitschrift). Wer diesem Anwurf nachgehen will und versucht, Schriftgut dieser Evangelikalen zu studieren, landet bei der Gattung Bücher, welche die Bahnhofsbuchhandlungen vorrätig halten. Die sich hochtrabend Kreationisten nennenden Autoren schreiben zeitgemäße Traktätchenliteratur; was einmal die Bekenntnisse schöner Seelen waren, sind heute die Computersimulationen von Pseudowissenschaftlern. Haags Metaphysik in diese Nähe zu rücken, ist grotesk und es zeugt von intellektueller Feigheit. Statt dem Gang seiner Argumentation zu folgen und sie zu widerlegen, schmäht ihn da einer als Bruder im Geist der autoritären Fundamentalisten. Er urteilt nicht mit überprüfbaren Gründen, sondern bedient das Vorurteil, wonach sich Religion nur auf Reaktion reimt. Den Kosmos ohne ein organisierendes Prinzip zu denken, ist irrational. Die Kritik an dieser Weltauffassung ist so alt wie der Platonismus. Auch die Evangelikalen verwerfen sie. Eine Kritik wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen sie vertreten.
Haags Prinzip einer höchsten Vernunft begründet das ganz Andere der späten Kritischen Theorie. Aus diesem Prinzip geht Generisches, Spezifisches und Individuelles hervor. Wie dies geschieht? Wir können es nicht wissen. Was wir nicht wissen können, hat für uns keine Bedeutung, sagt die nachmetaphysische Philosophie. Metaphysik ist aber gefordert, damit unser Weltverständnis rational bleibt. An ihr gemessen, verliert die das Eigenrecht der äußeren und menschlichen Natur missachtende kapitalistische Ökonomie ihre Legitimation. Fehlt Metaphysik, gibt es objektiv keinen Punkt mehr, bei dem eine Argumentation im Namen der Humanität einsetzen könnte, heißt es in Der Fortschritt in der Philosophie. Als deduktives System, als Theologie, ist sie unmöglich. Was das allmächtige Prinzip an sich selbst ist, können wir nicht wissen, denn unsere Vernunft bleibt auf sinnliche Erfahrung verwiesen. Eine Grenze, die Haag eine negative Metaphysik hat schreiben lassen.
Siehe auf Bruchstücke auch „Keine Angst vor Metaphysik!„
Moin,
vielleicht sollten Sie, Herr Kern, mal „Geist und Kosmos“ von Thomal Nagel lesen … dieser betreibt keine „Metaphysik“, sagt aber, dass die Evolutionstheorie Darwins viele alle Fragen nicht beantworten kann, die Kreationisten stellen, ohne dass Nagel diesen recht gibt. Er bleibt trotzdem Atheist und offen, dem noch erforschbaren.
Sehr geehrter Herr König, die Kritik Nagels an den Kreationisten und an Darwin erscheint mir inkonsistent. Er spekuliert über eine Sphäre, die den Naturgesetzen vorausgeht und zugleich mit Bewusstsein begabt ist; menschliches Bewusstsein, gar Moral evolutionstheoretisch herzuleiten, sieht er zu recht für unmöglich an. Aber was soll das sein, geistvolle Naturgesetze? Metaphysik ist es wohl, aber keine überzeugende.
Er sagt, dass die empirische Beweislage so ist, dass sie „verschiedenen umfassenden Theorien entgegenkommt“, und meint, dass der gegenwärtige Konsens lachhaft erscheint und auch ein neuer in zwei oder drei Generationen weiterhin so sein könnte. „Des Menschen Willen zu glauben, ist unerschöpflich.“
Das ist der Kern seines Schlusses. Also hüten wir uns davor zu glauben, etwas sicher zu wissen … und bleiben wir beim genaueren Fragen.
Was würden Sie halten von einer Erkenntnis, die weder empirisches Wissen noch spekulativer Glaube ist? Man hat das mal ein „Fürwahrhalten“ genannt. Und: eine begründete Negation aller Kosmologien, seien sie materialistisch oder idealistisch, ist doch auch schon was.
Um die Chance der Korrektur zu nutzen: Nagel stellt nicht Darwins Theorie in Frage, sondern die des Darwinismus, denn die will Welterklärung.