Genügen die drei Trumpfkarten des Sébastien Lecornu?

Sébastien Lecornu (Foto: US-Verteidigungsministerium auf wikimedia commons)

„Ras le bol“. Das klingt wie ein Sturm der Entrüstung, der in diesen Tagen über Frankreich hinwegzieht und die Paläste in Paris vom Elysée Palast des Staatspräsidenten Emmanuel Macron bis zum Palais Bourbon der Nationalversammlung erschüttert. Doch niemand geht zwischen Le Havre und Marseille auf die Straße, weder die stets streikbereiten Staatsbediensteten der Bahn noch die Arbeitgeber, die am 13. Oktober mit einer großen „Manifestation“ gegen jede Form einer Reichensteuer mobilisieren wollten. „Ras le bol“, das Wort fällt, wenn Französinnen und Franzosen nichts mehr einfällt. Und sie „die Nase voll haben“, sie ihrem Überdruss an „denen da oben“ und überhaupt Luft machen, aber nicht einmal mehr Lust zum lautstarken Protest und Streik haben.

„Das Maß ist voll“ für den Präsidenten, dem seit seiner Wiederwahl vor drei Jahren nur noch knappe 15 Prozent der Bevölkerung vertrauen und dem nach zwei Parlamentswahlen eine Mehrheit für seine Regierungspolitik fehlt. In drei Jahren ernannte Macron sechs (le und la) Premierminister, ernannte und entließ, entließ und ernannte jeweils sechsmal 34 oder mehr Ministerinnen und Minister nebst ihren Stellvertretern: Im riesigen Erziehungsministerium ist inzwischen mit dem hohen Bildungsbeamten Eduard Geffray der siebte Minister im Amt, wenigstens einer, der weiß, wovon er redet. Die Kabinette regierten in zentralen Fragen (Haushalt, Rente) mit dem in der Verfassung vorgesehenen Ausnahmerecht: Immer am Parlament vorbei (Artikel 49.3). Bis im Dezember 2024 ein erfolgreiches Misstrauensvotum der rechts- und linksextremen Fraktionen vom Rassemblement National (RN) und den „Insoumis“ (Unbeugsame) Michel Barnier zum Rücktritt zwangen. Beide Fraktionen haben in den letzten drei Jahren durch Tumulte, verbale Ausfälligkeiten, unwürdige Schauveranstaltungen und ständige Drohungen mit dem Misstrauensvotum nicht verhehlt, dass sie vom demokratischen Parlamentarismus nichts halten. Und nur den Sturz, das vorzeitige Ende der Ära Emmanuel Macron im Blick haben.

Auch er bekannte, die Nase voll zu haben

Nun versucht der Staatspräsident in diesen Tagen mit der „Mission“ des Sébastien Lecornu, bis zum 31. Dezember in einem geordneten parlamentarischen Verfahren ein Gesetz zum Haushalt für das Jahr 2026 zu verabschieden und sich so vielleicht bis zum Ende seiner Amtszeit 2027 an der Macht zu halten. Aber auch Sébastien Lecornu, der fünfte und sechste Premier, sprach vom „ras le bol“. Auch er bekannte nach seinem ersten Rücktritt freimütig, die Nase voll zu haben von den „Egos“, den politischen, wenig sympathischen Selbstdarstellern in den Parteien und den bisherigen Regierungen, die sich schon in der Rolle des künftigen Staatspräsidenten sehen. Die schwierige innen- wie wirtschaftspolitische Lage des hoch verschuldeten Landes sind für diese „Egos“ kaum ein Thema. Und sie verweigern auch beharrlich, zur Kenntnis zu nehmen, dass Emmanuel Macron bei allen Schwächen im eigenen Land in Europa eine zentrale außenpolitische Rolle spielt, wenn er nicht sogar das europäische Gegengewicht zu dem unberechenbaren Donald Trump ist.

Kann Sébastien Lecornu, dieser 39jährige Berufspolitiker, der sich selbst zum schwächsten Premier der V. Republik erklärt hat, in dieser Krise, die den „ras le bol“ ausgelöst hat, eine Lösung anbieten? Kann er in der zutiefst verunsicherten Bevölkerung irgendwie für ruhigere Wochen oder gar Monate sorgen? Kann er dem Parlament den Respekt und Freiraum einräumen, den es für eine ernsthafte Beratung des Budgets braucht? Die Zeit ist knapp, nach der Verfassung muss das Haushaltsgesetz bis zum 31. Dezember unter Dach und Fach sein.

Der ehemalige Verteidungsminister Lecornu hat nur drei Trumpfkarten in der Hand. Eine „carte blanche“ hat ihm Macron eingeräumt, es blieb ihm auch nichts anderes übrig. In seiner halbstündigen Regierungserklärung vor der Nationalversammlung hat Lecornu diese eingeräumte (oder erzwungene) Handlungsfreiheit am 14. Oktober bereits genutzt: Er kündigte (mit einem Gesetz im November) die Aussetzung der umstrittenen und für weite Teile der Arbeitnehmerschaft ungerechten Rentenreform bis 2028 an. In neuen Gesprächen mit Gewerkschaften und Arbeitgebern soll Arbeits- und Sozialminister Jean-Pierre Farandou ausloten, was an Reform machbar ist. Das könnte sogar klappen: Farandou ist ein „cheminot“, ein Eisenbahner, und früherer Chef des Staatsbetriebs SNCF. Er weiß, worum es geht. Und die „cheminots“ genießen in Frankreich Vertrauensschutz.

Plötzlich geht es um Steuergerechtigkeit

Ferner ließ Lecornu im Parlament durchblicken, dass er bereit sei, steuerpolitisch gegen das Gebaren der Reichsten der Reichen vorzugehen, das den „ras le bol“ in diesem Land kräftig geschürt hat: Die von den Sozialisten vorgeschlagene „taxe Zucman“, die 2prozentige Steuer für die 1800 Haushalte mit einem Vermögen über 100 Millionen Euro, erwähnte er namentlich nicht, aber das Verstecken der Vermögen in Holdings und sonstige Steuernischen will er unterbinden. Der mit einem geschätzten Vermögen von 149 Milliarden Euro reichste Mann der Republik, Bernard Arnault, hat mit seiner wutschnaubenden Kampagne gegen den Professor Gabriel Zucman („linksextremer Militant“) etwas losgetreten, was unter dem früheren Investmentbanker Macron bisher undenkbar war. Plötzlich geht es um Steuergerechtigkeit, auch in der Regierung. Die von Lecornu genutzte „carte blanche“ verhinderte zwei Tage später ein erfolgreiches Misstrauensvotum der Rechts- und Linkspopulisten und damit den Sturz der Regierung Lecornu II. Aber das Votum fiel knapp aus, für einen Sturz fehlten nur 18 Stimmen, das Misstrauen im Parlament bleibt groß.

Die zweite Trumpfkarte wurde Lecornu von der Mehrheit der Parteien und Gruppierungen in der Nationalversammlung selbst zugesteckt. Aus den stundenlangen, oft mühseligen Gesprächsrunden in seinem Regierungssitz Matignon, den Zu- und Absagen der „Egos“ oder gar den Gesprächsverweigerungen der linkspopulistischen „Insoumis“ des Jean-Luc Mélenchon filterte Sébastien Lecornu für sich eine klare Botschaft heraus: Außer dem Rassemblement National und den Unbeugsamen will zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand eine Auflösung des Parlaments (dissolution) durch den Präsidenten und die dann fälligen Neuwahlen. Und die beiden Fraktionen, so wortmächtig und selbstsicher sie auftreten, haben mit 123 (RN) und 71 Sitzen (Insoumis) keine Mehrheit in der Nationalversammlung mit zusammen 577 Sitzen. Die übrigen Parteien und Bewegungen, von der „Macronie“ bis zu den Republikanern, von den Sozialisten bis zu den Ökologen streiten nach innen und außen über Programm, Personen, Politik. Alle miteinander wissen, dass sie bei erneuten Parlamentswahlen nur weiter verlieren könnten: An Marine Le Pen und die Rechtsextremen.

Sébastien Lecornu nutzt diese Situation, aber er nutzt sie nicht aus. Im Gegenteil: In seiner kurzen Regierungserklärung schlug er ungewohnte Töne an. „Ich teile die Macht mit dem Parlament“, sagte er und betonte in aller Klarheit, dass er auf das Ausnahmerecht des Artikel 49.3 verzichten wird. „Das Parlament wird das letzte Wort haben“, fügte er hinzu. Das sei seine Verantwortung. „Wir müssen ihm vertrauen. Wir dürfen keine Angst haben.“ Ein solches Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie, zum „letzten Wort“ des Parlaments, zu seiner Handlungsfreiheit im Prozess der Beratungen hat es in Paris selten gegeben. Ob die Parlamentarier diese Botschaft verstehen?

Vor Ort den arc républicain gebildet

Es könnte sein, denn im Palais Bourbon sind in jüngster Zeit viele von ihnen von ihrer Basis in den Wahlkreisen, von ihren gewählten Bürgermeistern oder ihren lokalen Politikerinnen unter Druck gesetzt worden: „Ras le bol“ galt auch ihnen. Die politisch Verantwortlichen vor Ort, in der „France profonde“, in der Provinz oder den Städten von Lille bis Toulouse haben die Nase voll von den Pariser Eitelkeiten, kleinkarierten Ab- und Ausgrenzungen, hasserfüllten Mails. Das ist Lecornus dritte Trumpfkarte. Im März stehen sie vor Kommunalwahlen und sie wissen, dass sie sich über Parteigrenzen hinweg auf Kandidatinnen und Kandidaten einigen müssen.

Yael Braun-Privet https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148554811

Die angebliche Unfähigkeit der Franzosen zum Kompromiss herrscht bisher im Palais Bourbon, aber nicht in den Kommunen. Im kleinen wie im größeren Rahmen: Nach Macrons abenteuerlich verfügten Neuwahl im vergangenen Jahr haben sie vor Ort den „arc républicain“ gebildet, den gemeinsamen Bogen der republikanisch gesinnten Französinnen und Franzosen. Sie haben vor Ort entschieden, wer im zweiten Wahlgang wessen Stimme bekommt und wer verzichtet, um die Rechtsextremen zu verhindern. Daran haben sie in den letzten Wochen ihre Abgeordneten erinnert, denn viele von ihnen haben ihr Mandat nur diesen Kompromissen und Verzichten vor Ort zu verdanken.

Diese massiven Botschaften lauten: Demokratische Republikaner redet miteinander und einigt euch. Angekommen sind diese Appelle und Botschaften bei Yael Braun-Privet, der Präsidentin der Nationalversammlung. „Wir sind verantwortlich“, sagte sie einen Tag nach der Regierungserklärung Lecornus. „Wir sind wieder im Zentrum unseres politischen Lebens.“ Wie lange wird diese Einsicht halten? Das knappe Ergebnis bei dem Misstrauensvotum weckt wenig Hoffnung.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

2 Kommentare

  1. Mei , schauen wir einmal , ob in diesem mit dem Mehrheitswahlrecht geplagten Frankreich sich auch diese bisher so vernachlässigten Ansätze für den Kompromiss auch in Frankreich – schon für eine
    Erhaltung einer Demokratie in Europa sichern lassen !

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