„Es gilt, eine lange nationalistische, militärische und rassistische Tradition zu überwinden“

Der junge Korrespondent des norwegischen Arbeiterbladet hatte eine klare Erwartung, als er am 20. November 1945 den Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes betrat. Er hielt es für richtig und notwendig, dass ein internationaler Militärgerichtshof die Verbrechen der Deutschen während der „Hitlerei“ aufklärte. Die 21 Hauptangeklagten und Kriegsverbrecher auf der Anklagebank sollten bestraft, die unvorstellbaren Verbrechen der Nazis und ihrer Mitläufer mussten gnadenlos aufgedeckt werden. Aber für den Korrespondenten in norwegischer Offiziersuniform durfte es nicht sein, dass das ganze deutsche Volk schuldig gesprochen werde. Er ahnte zwar, dass es allzu viele Deutsche gab, die die Verbrecher auf der Anklagebank nicht für den Beginn des Krieges verurteilten, sondern eher, weil sie ihn verloren hatten. Dennoch war er erleichtert, dass der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson in seiner Prozesseröffnung die weitverbreitete These von der Kollektivschuld der Deutschen verwarf.

Der 31jährige Herbert Frahm war zuletzt 1936 illegal in Deutschland gewesen. Jetzt war er unter dem Namen Willy Brandt als Berichterstatter akkreditiert, am 8. November 1945 mit einer britischen Militärmaschine von Oslo nach Bremen eingeflogen, um über den Prozess und das zerstörte, aber befreite Deutschland zu berichten. Die Zeit bis zum Prozessbeginn nutzte er, um sich ein Bild des Landes zu machen. Von Bremen aus reiste er nach Lübeck, um seine Mutter  Martha Frahm wieder zu sehen, die ihn in der fremden Uniform gar nicht erkannte und dann zutiefst gerührt war.

Willy Brandt war schockiert, wie sehr seine Heimatstadt, die er so lange nicht gesehen hatte, von den Bomben der Alliierten 1942 zerstört, in Schutt und Asche lag. Die Bilder, die Ruinen begleiteten ihn auf seiner Erkundungsfahrt durch Deutschland. Noch war er sich nicht sicher, ob er in dieses Land  zurückkehren wollte oder doch eher Skandinavien als endgültige Heimat annehmen werde.

Wer den Text heute liest, wird immer wieder überrascht

Der Prozessbeginn in Nürnberg, den er mit mehr als 300 internationalen Journalisten verfolgte, war für ihn eine Enttäuschung. Er hielt es für falsch, dass nur eine Handvoll deutscher Berichterstatter zugelassen war. Für ebenso falsch hielt er es, dass unter den Anklagevertretern keine erwiesenen Nazigegner akzeptiert waren. Hinzu kam eine ganz persönliche Enttäuschung. Die Arbeitsbedingungen waren für ihn schwierig. Er konnte von Nürnberg nicht nach Oslo telefonieren, um seine Berichte durchzugeben. Telegramme, teuer zumal, gingen nur zeitverzögert über den Umweg London nach Skandinavien.

Vielleicht entstand deshalb die Idee, seine Erfahrungen während des mehrmonatigen Deutschland-Aufenthalts für seine skandinavischen Landsleute – er hatte nach der Ausbürgerung aus Deutschland 1940 die norwegische Staatsangehörigkeit angenommen – in einem Buch zu beschreiben:  „Ich nannte es ‚Forbrytere og andre tyskere‘: Verbrecher und andere Deutsche, im Sinne einer Gegenüberstellung von Verbrechertum und dem anderen Deutschland.“

Wer den Text heute liest, wird immer wieder überrascht. Da ist zum ersten die akribische journalistische Kleinarbeit, mit der Brandt bis ins Detail die Lebensbedingungen in Deutschland beschreibt – von der Gesundheitsversorgung, den Wohnverhältnissen, der spärlichen Kalorienversorgung. „Es wäre jedenfalls ein zu billiger Trost zu sagen, dass  es den Deutschen guttut zu hungern. Niemandem gut das gut. Das weiß jeder, der einmal gehungert hat.“

Brandt beschreibt eindringlich die unterschiedlichen Lebensbedingungen zwischen der zerstörten Städten und den vom Krieg nur wenig betroffenen ländlichen Regionen. Er schildert, dass die Not der Flüchtlinge, die alles andere als willkommen sind,  besonders groß ist. Er zeigt auf, dass die Alliierten das Elend der von den Nazis ausgebeuteten Zwangsarbeiter beherzt bekämpft haben. Er ist erstaunt, dass die wenigen überlebenden Juden nicht sofort zum Verlassen Deutschlands bereit sind. Und er vermittelt seinen skandinavischen Lesern, dass bei allem Elend Deutschland auch kurz nach Kriegsende mehr Konsum zu bieten hat als Polen, Ungarn oder andere osteuropäische Länder, die von den Nazis besetzt worden waren. Er macht es daran fest, dass sich internationale Beobachter der Nürnberger Kriegsprozesse schon 1946 mit alltäglichen Gütern versorgen konnten, die es in ihren Heimatländern nicht gab.

Es ist eine dichte Sammlung von Fakten und Daten, die Brandt  zusammen getragen hat, obwohl das statistische Material, das ihm zur Verfügung stand, „sehr unvollständig“ war. Umso erstaunlicher, dass die Informationen, die er auf seiner Reise durch Deutschland zusammengetragen hat, noch heute als wichtige Quelle der damaligen Lebensverhältnisse dienen können.

Doch neben dem Journalisten schimmert in diesen Texten längst der Politiker Brandt durch. Er ist sich sicher, dass der Schutt der Ruinen in den Städten nach und nach verschwinden wird. Aber: „Der Schutt in den Gehirnen muss auch abgeräumt werden. Es handelt sich nicht darum, dem Nazismus beizukommen. Es gilt, eine lange nationalistische, militärische und rassistische Tradition zu überwinden.  Das Ziel muss eine kulturelle Erneuerung im Geiste der Freiheit, der Toleranz und des Humanismus sein.“

Rechtsnationale sprechen von einem „Skandalbuch“

Schon in diesem Stadium lehnt Brandt die These von der Kollektivschuld aller Deutschen ab, ist sich aber sicher, dass es eine Kollektivverantwortung gibt, wenn er schreibt: „Die Deutschen müssen die Verantwortung tragen. Verantwortung ist jedoch nicht dasselbe wie Schuld.“ Oder an anderer Stelle:

Nicht alle Deutsche gehören zu der Verbrecherbande, der ‚Deutsche‘ als solcher ist kein Verbrecher. Ich meine aber gleichzeitig, dass der deutsche Wiederaufbau niemals ein Neuaufbau wird, wenn man den Weg der Verantwortung und schonungslosen Aufrichtigkeit verlässt. Der Neuaufbau kann nicht mit Wunschdenken und Lügen beginnen. Und es wäre eine Lüge zu behaupten, dass den nazistischen Tätern und Folterknechten nicht von einem sehr großen Teil des Volkes der Rücken gestärkt worden wäre. Es würde der Wahrheit widersprechen, wenn jemand zu leugnen versuchte, dass ein zwölf Jahre währendes nazistisches Propagandamonopol starke Spuren im Bewusstsein der Deutschen hinterlassen hat. Es wäre Wunschdenken zu behaupten, eine bestimmte Gruppe oder eine Klasse sei gegen das nazistische Gift immun gewesen.

Willy-Brandt-Gedenktafel in Warschau
(Foto, 2009: Szczebrzeszynski auf wikimedia commons)

Erstaunlich auch, dass in diesem Text schon die Themen auftauchen, die ihm später als SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzler selbstverständlich waren. Der Satz aus seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler – „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ – liest sich 1946 so: „Die Nazis versuchten, Europa zu verdeutschen. Jetzt kommt es darauf an, Deutschland zu europäisieren.“ Sein Verdikt aus derselben Regierungserklärung – „Die Schule der Nation ist die Schule“ – lässt sich 1946 schon ahnen, wenn er schreibt:

Die deutsche Schule war ein Hort der Reaktion. Sie ist zwölf Jahr, dreizehn Jahre lang ein Werkzeug in der Hand der Nazis gewesen. Jetzt muss sie ein Geschlecht von freien und friedfertigen Bürgern erziehen.

Wie gewaltig die „Ruinen in den Köpfen“ das Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre noch bestimmten, lässt sich auch daran festmachen, wie sein Text über „Verbrecher und andere Deutsche“ verunglimpft wurde. Obwohl – oder gerade weil – noch gar keine deutsche Übersetzung vorlag, wurde ihm unterstellt, nahezu das ganze Volk als Naziverbrecher gebrandmarkt zu haben. Noch in den achtziger Jahren sprachen Rechtsnationale von einem „Skandalbuch“ und initiierten erneut eine Schmutzkampagne gegen ihn. Nichts Neues. Schon in den fünfziger Jahren musste sich Brandt gegen solche Angriffe wehren.

„Willy Brandt hat versucht“,  schreibt Einhart Lorenz 2007 im Vorwort zu der von ihm edierten Neuausgabe des Buchs, „sich mit Hilfe von einstweiligen Verfügungen und Strafanzeigen gegen die Kampagnen zu wehren. So kam es in den Jahren von 1955 bis 1966 zu 80 Verfahren, doch konnten die gewonnenen Prozesse nicht die negative Wirkung von Verleumdungen, Gerüchten und einseitigen Darstellungen seiner früheren Äußerungen rückgängig machen.“

Willy Brandt, Verbrecher und andere Deutsche. Bearbeitet von Einhart Lorenz.
Dietz-Verlag. Bonn 2007, 400 Seiten, 26€

Norbert Bicher
Norbert Bicher, Kölner Journalist, war u. a. Parlamentskorrespondent der Westfälischen Rundschau, wurde 1998 Pressesprecher der SPD-Bundestagsfraktion unter deren Vorsitzendem Peter Struck, mit dem er als Sprecher 2002 ins Verteidigungsministerium wechselte und 2005 zur Fraktion zurückkehrte.

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