„Politisch völlig undurchsichtig“ steht in den Stasi-Akten

Wäre der Rowohlt-Verlag auf die Idee gekommen, Hans Joachim Schädlichs literarische Kunststücke nicht im festgefügten Nacheinander eines Buches herauszubringen, sondern als Puzzle, so könnten spielerische Naturen sich darauf freuen, die Einzelteile auf einer großen Tischplatte auszuschütten, um die “Bruchstücke“ zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Der 192 Seiten umfassende Band besteht aus 71 kurzen und längeren Texten, die ihren Titel vor allem deshalb verdienen, weil sie von Brüchen handeln. Wo ist der Zusammenhang dessen zu suchen, was nicht den Anspruch hat, etwas Ganzes zu sein, ein vollendetes Werk, ein geschlossenes Sinnbild, ein gelungenes Leben etc.? Das geteilte Deutschland liefert den Zusammenhalt.

„Es kann doch nicht wahr sein!“. Immer wieder habe ich diesen Eindruck beim Lesen. Etwa als ich erfahre, dass der Autor schon als Schüler bespitzelt wurde. Anfang der fünfziger Jahre besuchte Hans Joachim Schädlich die Landesoberschule Templin in der Uckermark. Der Direktor der Schule schrieb Berichte an die Staatssicherheit, sogar Schüler waren unter Decknamen als Stasi-Informanten tätig, und auch Schädlichs „Neulehrer“ arbeitete für den DDR-Geheimdienst. In einem Bericht über 11. und 12. Klasse ( im Jahr 1953/1954) charakterisiert er den Schüler Schädlich als „politisch völlig undurchsichtig. Er hat sich an der Organisierung eines Schülerstreiks beteiligt. Sch. hört nachts im Aufenthaltsraum des Wohnheims heimlich den Feindsender RIAS und verbreitet die Nachrichten unter den Mitschülern.“

Umgefärbte Reithose, blaues Hemd der FDJ

In seiner Dankesrede für den Erich-Loest-Preis, den er 2019 erhielt, sagt Schädlich über seinen Neulehrer: „Der SED-Parteisekretär der Schule und Biologie-Lehrer, ein ehemaliger Offizier der Hitler-Wehrmacht, dann Neulehrer in der DDR, trug seine umgefärbte Reithose auf, allerdings ohne Stiefel, sondern in Halbschuhen und weißen Socken, angetan mit dem blauen Hemd der FDJ – er bedrängte nach dem Tod Stalins Schüler, die 16, 17 Jahre alt waren, in die SED einzutreten. Ich weigerte mich. Der Lehrer, der auch ein GI (Geheimer Informator) – so hieß das damals – der Stasi war, gab zu Protokoll: ‚Der Schüler Schädlich weigert sich hartnäckig, in unsere Partei einzutreten, um die Lücke schließen zu helfen, die der Tod des Genossen Stalin gerissen hat.‘ So konnte ich es später in meiner Stasi-Akte lesen.“

Und wieder drängt sich dieses „Dasdarfdochnichtwahrsein“ auf, als ich lese, dass Schädlichs Bruder Karlheinz, der Inoffizieller Mitarbeiter bei der Stasi war, ihn verraten hat. Der Verrat wurde mir bei der Lektüre nicht sofort deutlich, denn im ersten Text gab es zunächst nur eine vage Andeutung. Dann aber trifft der Autor Christa Wolf zu einem Sparziergang und berichtet ihr, dass er seit seinem Buch „Versuchte Nähe“, das er 1977 – mit Hilfe von Günter Grass – bei Rowohlt im Westen herausbringen musste, unter Aufsicht der Staatsorgane steht. „Es ist besser, Sie gehen“, sagt Christa Wolf am Ende. Sie hat danach Besuch von Schädlichs Bruder, der in seinem Bericht an die Stasi schreibt, Christa Wolf habe gesagt: „Wer so etwas tut wie Ihr Bruder, der muß auch gehen.“

Die größte Bruchstelle war gewiss der DDR-Staat, der mit dem Anspruch auftrat, menschenrechtlich und demokratisch die benachbarte marktwirtschaftlich verfasste westdeutsche Demokratie zu überbieten. Dieser Staat der „Arbeiter und Bauern“ misstraute nicht nur seinen Bürgerinnen und Bürgern und bespitzelte viele von ihnen. Er raubte auch nicht wenigen seiner Intellektuellen die Möglichkeit, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. Es muss für Schädlich das Ende einer Illusion gewesen sein, dass „Versuchte Nähe“ nur im kapitalistischen Westen erscheinen konnte.

Hans Joachim Schädlich (Foto, 2020:
Udoweier auf wikimedia commons)

Schädlich gibt uns Einblicke in die große, kleinliche Welt der Schriftsteller und entschlüsselt sie mit Anekdoten, Episoden über Begegnungen und Erinnerungen an viele Merkwürdigkeiten. Zum Beispiel erzählt er von seinem Rausschmiss bei Stefan Heym, der ihm 1978 mit auf den Weg gibt, „was wollen Sie im Westen, Sie kennen sich nicht aus“. Schädlich spießt Widersprüche auf zwischen intellektueller Brillanz, hohem moralischem Anspruch und gelebtem Spleen. So sah sich der Literaturwissenschaftler Professor Hans Mayer (1907-2001) im Jahr 1990 gezwungen, seine Teilnahme an einer Tagung der Gruppe 47 abzusagen. Ihm war die Reise von Tübingen nach Prag zu teuer. Er reiste nur mit dem Taxi.

Und es finden sich Beschreibungen darüber, dass der Typus des Großschriftstellers fortlebte. Vieles dreht sich um Günter Grass. Im April 2009 erzählte Grass in einem Interview, dass er in den 1980er Jahren Stephan Hermlin zu Gesprächen zum Thema „Friedensbewegung“ eingeladen habe, die erst in Ost-Berlin stattfanden und dann eine Entsprechung in der West-Berliner Akademie finden sollten. Die Staatssicherheit der DDR hatte notiert, dass Schriftstellerinnen wie Doris Lessing und Dorothee Sölle, Schriftsteller wie Heinrich Böll und Elias Canetti es abgelehnt hatten teilzunehmen. Auch die Ostdeutschen Sarah Kirsch, Jürgen Fuchs und Hans Joachim Schädlich beteiligten sich nicht an dem Treffen, weil sie nicht über Frieden reden wollten, solange Ostberlin die DDR-Friedensbewegung verfolgte. Die Westberliner Akademie der Künste, Günter Grass, Stephan Hermlin u.a. rügten die Absagen brieflich. „Wenn die Königin rufe, dann folge man“, hieß es.

„Kommode Diktatur“

Günter Grass (Foto, 2004: Florian K auf wikimedia commons)

Schädlichs Beziehung zu Grass ist ein Kapitel für sich. Als die DDR-Regierung ihm alle Verdienstmöglichkeiten entzieht, unterstützt ihn Grass mit großem Engagement und hilft ihm, im Westen Fuß zu fassen. Das Zerwürfnis kommt nach der Wiedervereinigung. In seinem Roman „Ein weites Feld“ nennt Grass die DDR eine „kommode Diktatur“. Dafür erntet er scharfe Kritik von Schädlich, das Stasi-System zu verharmlosen: „Wie ‚angenehm‘ diese Diktatur war, hättest Du von Leuten wissen können, die Erfahrungen mit der Stasi gemacht haben.“ 

Schädlichs Beobachtungen erinnern an die nüchterne und bescheidene Pflichtauffassung eines Immanuel Kant. Offenkundig war das Leben in intellektuellen Milieus riskant, Freundschaften und Vertrauen unter den Kultur- und Geistesschaffenden selten. Sarah Kirsch und Niclas Born gehören für Schädlich zu den Ausnahmen. Die eine steht für Haltung: Kirsch lehnte die Wahl in die Westberliner Akademie der Künste 1992 ab, weil sie „in absehbarer Zukunft eine Schlupfbude für ehemalige Staatsdichter und Zuträger der Staatssicherheit“ wurde. Der andere für „rigorose Aufrichtigkeit“ bei den Gesprächen über Romane, Gedichte und Aufsätze. Und gewiss der Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, ein „legendärer Mann“. Sein freundschaftlicher, väterlicher Umgang mit den Menschen verschaffte „Ruhe, Gelöstheit, Zuversicht“.

Schädlichs Darstellungen, Reflexionen und sein gesamtes Verhalten sind radikale und konsequente demokratisch-zivilgesellschaftliche Praxis. Sie mag uns veranlassen, erneut die großen gesellschaftlichen Themen „Demokratie“ und „Emanzipation“, wie sie auch bruchstuecke.info aufgreift, daran zu messen. Die Demokratisierung darf sich nicht mit den Errungenschaften einer repräsentativen Demokratie zufriedengeben. Und „Emanzipation“ hat tatsächlich damit zu tun, dass etwas „aus der Hand“ (emancipare: „aus der Hand, aus der Gewalt entlassen“) gegeben wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich wirtschaftlichen und politischen Zwängen entziehen können.

Die Kritik an den „großen“ Themen der Gegenwart, die mit den Namen der Staatsführer „Trump“, „Putin“, „Erdogan“ oder „Netanjahu“ verbunden sind, muss auch die Kritik an den „kleinen“ Themen Schädlichs aufnehmen. Sie sind kein Nebenwiderspruch.

Hans Joachim Schädlich: Bruchstücke. Rowohlt 2025. 192 Seiten, 24 €

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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