Klimanotizen: „Reichere Länder drohen in Zukunft ärmere zu grillen“

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Vor 70 Jahren formulierte Gilbert Plass eine wichtige 1,5-Grad-Prognose. Vom Treibhauseffekt wissen wir noch länger, aber ganze Gesellschaften versagen. Auf Kosten anderer Länder. Die sind aber nicht gemeint, wenn hierzulande darauf verwiesen wird, »die Menschen dürfen nicht überfordert werden«.

1988 kommt der Treibhauseffekt auf der politischen Bühne an

#1 »Die vorliegenden wissenschaftlichen Daten«, so hieß es im Juni 1989 in einer Entschließung des Rates der damals noch genannten Europäischen Gemeinschaft, »zeigen an, dass die Zusammensetzung der Atmosphäre merklich durch die Aktivitäten des Menschen verändert wird.« Die Runde der damaligen EG-Mitgliedsstaaten verwies sozusagen amtlich darauf, dass dies »nach den vorhandenen klimatologischen Modellen… mit der Zeit durch den sogenannten ›Treibhauseffekt‹ Veränderungen des Klimas hervorrufen« könne, »die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt, den Menschen und seine Aktivitäten hätten. Es ist daher dringend notwendig, mögliche Maßnahmen zu untersuchen, die die mit dem Treibhauseffekt verbundenen Risiken ausschalten oder reduzieren könnten.«

Die Europäische Kommission hatte den Text bereits 1988 angenommen, in jenem Jahr zuvor also, in dem der Begriff »Treibhauseffekt« während eines langen, heißen Sommers endgültig auf der politischen Weltbühne angekommen war – wie Marc Hudson im australischen Onlineportal »The Conversation« gerade noch einmal ins Gedächtnis rief. Um eigentlich den kanadischen Physiker Gilbert Plass zu würdigen, der Anfang Mai 1953 auf einer Tagung der Amerikanischen Geophysikalischen Union erklärte: »Die starke Zunahme der industriellen Tätigkeit in diesem Jahrhundert führt zu einem so hohen Kohlendioxidausstoß in die Atmosphäre, dass die Durchschnittstemperatur um 1,5 Grad pro Jahrhundert ansteigt.« Das war nicht die Geburtsstunde aller Erkenntnis vom »Treibhauseffekt«, die Ursprünge reichen noch viel länger zurück und sind mit Namen wie jenen des Mathematikers und Physikers Jean Baptiste Joseph Fourier, der US-Amerikanerin Eunice Foote, des irischen Wissenschaftlers John Tyndall, oder des englischen Dampfingenieurs Guy Callendar verbunden. Schon 1895, schreibt Hudson, hatte der schwedische Nobelpreisträger Svante Arrhenius vorausgesagt, »dass die Ansammlung von Kohlendioxid, das bei der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas freigesetzt wird, über Hunderte von Jahren so viel Wärme speichern könnte, dass die Tundra schmilzt«. Was wie alles andere auch durch jüngere Forschung bestätigt ist.

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Lebensfeindliche Zonen

#2 Man wird also nicht sagen können, die Wissenschaft hätte die kommenden Probleme zu spät auf dem Schirm gehabt. Das katastrophale Versagen liegt in der Verantwortung der Politik, ja: ganzer Gesellschaften. Doch auch hier tut Differenzierung im wahrsten Wortsinne Not: Wie ein Forscherteam um Timothy M. Lenton von der University of Exeter und Marten Scheffer von der University of Wageningen gerade vorgerechnet hat, könnte die fortschreitende Erderhitzung die Heimat von etwa zwei Milliarden Menschen in eine lebensfeindliche Zone verwandeln – wenn die derzeitige Klimapolitik sich nicht drastisch ändern würde – und somit eine globale Erwärmung von 2,7 Grad Celsius erreicht würde. Die Gebiete, in denen dann Landwirtschaft und Viehzucht erheblich erschwert sein, die Sterberate höher ausfallen wird, die Produktivität sinkt, es mehr Konflikte und mehr Infektionskrankheiten gibt – sie liegen vor allem in Nigeria, Indien und Indonesien, in Burkina Faso, Mali und Qatar würden besonders große Flächen fast unbewohnbar, berichtet unter anderem die »Süddeutsche« über die hier veröffentlichte Studie. Jörg Staude findet bei den »Klimareportern« dafür die richtigen Worte: »Reichere Länder drohen in Zukunft ärmere zu grillen.« Die künftigen Hitzeopfer würden »an Orten leben, an denen die heutigen Emissionen nur rund halb so hoch sind wie der weltweite Durchschnitt«. Wer auch immer hier, ob berechtigt oder nicht, in Diskussionen über Klimamaßnahmen ins Feld führt, »die Menschen dürfen nicht überfordert werden«, sollte sich damit konfrontieren.

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Aktuelle Politik ist nicht auf dem richtigen Weg

#3 Weil es zwischen den Erkenntnissen seit Eunice Foote, siehe oben, und einer wirklich durchgreifenden Klimapolitik eine bis heute nicht geschlossene Lücke gibt, also Zeit vergeudet wurde, würde selbst bei einem Erreichen der Klimaziele, also einer erfolgreichen Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, bis 2100 fünf Prozent der Weltbevölkerung ihre Klima-Nische verlieren. Es werden vermutlich noch mehr sein, wie eine neue Studie von Forscherinnen um Dirk-Jan van de Ven vom Basque Centre for Climate Change nahelegt. Das Papier bestätige, »dass der Schwellenwert von 1,5 ºC mit den derzeitigen Zusagen überschritten würde«, es also noch weitergehender Zusagen der Staaten für Klimaschutzmaßnahmen bedürfte, »wenn wir das Klimarisiko und die Kipppunkte auf ein Minimum reduzieren wollen«, wie es der Niederländer auf Twitter formuliert. Immerhin: Bei Erreichung bestehender nationaler kurz- und langfristiger Klimazusagen bestehe eine 75-prozentige Chance, unter 2 Grad Erwärmung zu bleiben. »Wir zeigen jedoch auch, dass die aktuelle Politik in den meisten Fällen nicht auf dem richtigen Weg ist, um die kurzfristigen Ziele zu erreichen. Noch wichtiger ist, dass viele nationale kurzfristige Ziele nicht mit den langfristigen Zielen übereinstimmen und dass die Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels nach 2030 erheblich beschleunigt werden müssten«, so van de Ven. Die komplette Studie findet sich hier.

Schlechte Nachrichten für die kommenden fünf Jahre

#4 Während wir fast täglich über neue Rekordwerte zur Klimakrise informiert werden, etwa hier oder hier, hat die World Meteorological Organization weitere solcher schlechten Nachrichten für die kommenden fünf Jahre angekündigt. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent werde eines der Jahre 2023 bis 2027 das heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen. 2022 hatte sich die Erdoberfläche im Durchschnitt um 1,15 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit erhitzt; eines der kommenden fünf Jahre werde erstmals die Marke von 1,5 Grad überschreiten, prognostiziert die WMO. Der »Spiegel« fasst die Dramatik und den Zusammenhang mit dem 1,5-Grad-Ziel zusammen: »Das im Pariser Klimaschutzabkommen vereinbarte 1,5-Grad-Ziel würde in solch einem Moment zwar nicht gerissen – dieses bezieht sich auf den langfristigen Durchschnitt über einen 30-Jahres-Zeitraum. Doch jedes Mal, wenn die Schwelle überschritten wird, kommt die Welt dem gesetzten Grenzwert näher.« Es wird damit gerechnet, dass diese Paris-Marke um 2032 bis 2035 überschritten wird.

Montevideo, eine Millionenstadt, die kein Trinkwasser mehr hat
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Erhebliche Wasserverluste

#5 Dank der Untersuchung von einer viertel Million Satellitenaufnahmen von 1992 bis 2020 konnte jetzt in einer Studie dargelegt werden, wie stark sich Klimakrise und menschliche Übernutzung auf die Wasservorräte in Seen auswirken, die fast 90 Prozent des flüssigen Oberflächenwassers der Erde speichern: 53 Prozent dieser Gewässer weltweit verzeichneten zum Teil erhebliche Wasserverluste. »Der Netto-Volumenverlust in natürlichen Seen ist größtenteils auf die Klimaerwärmung, die zunehmende Verdunstung und den menschlichen Wasserverbrauch zurückzuführen, während in Stauseen die Sedimentation den Speicherverlust dominiert. Wir schätzen, dass etwa ein Viertel der Weltbevölkerung in einem Einzugsgebiet eines austrocknenden Sees wohnt, was die Notwendigkeit unterstreicht, die Auswirkungen des Klimawandels und der Sedimentation in die nachhaltige Bewirtschaftung der Wasserressourcen einzubeziehen«, schreiben die Forscherinnen um Fangfang Yao zu ihren Erkenntnissen in »Science«. Für die Bundesrepublik hatten Wissenschaftlerinnen im vorigen Jahr einen Wasserrückgang von etwa 2,5 Gigatonnen oder Kubikkilometer im Jahr berechnet, damit gehört Deutschland zu den Regionen mit dem höchsten Wasserverlust weltweit. Die Bundesrepublik liege geografisch genau an einer Grenze, hieß es seinerzeit zu den Ergebnissen in der »National Geographic«: Hohen Breiten würden feuchter, niedrige Breiten aufgrund des Klimawandels trockener. Laut der Daten begannen die Dürrebedingungen hierzulande vor etwa einem Jahrzehnt; neben der Klimakrise wird das verstärkte Abpumpen von Grundwasser als Reaktion auf die abnehmende Verfügbarkeit von Oberflächenwasser dafür verantwortlich gemacht. Und da dieses Oberflächenwasser, wie die Auswertung der Satellitenbilder zeigte, weiter zurückgeht… ein Kreislauf mit Folgen.

Die Klimanotizen sind entnommen aus linksdings Newsletter #12

Tom Strohschneider
Tom Strohschneider ist Journalist und Historiker, war Redakteur des Freitag und der TAZ, 2012-2017 Chefredakteur Neues Deutschland und arbeitete federführend an der monatlich erscheinenden Wirtschaftszeitung OXI mit.

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