Im Angesicht des multiplen Krisengeschehens auf dieser Welt erfasst uns häufig ein tiefes Unbehagen, ja schiere Verzweiflung. Das wird sich nie ändern, ist oft zu hören, denn der Mensch sei eben von Natur aus böse, gierig, machtbesessen und stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Nein, erwidern Carel van Schaik und Kai Michel, die Autoren von „Mensch sein – Von der Evolution für die Zukunft lernen“ (Rowohlt Verlag 2023). Das sei grundfalsch und im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Geschichtsschreibung lediglich die letzten 5.000 Jahre mit ihren männlichen Unterdrückungsstrukturen und fatalen Dominanzkulturen thematisiert hat und diese als gott- oder naturgegeben begründet.
In einer evolutionsgeschichtlich erweiterten Perspektive über 300.000 Jahre zeigen neue Forschungen aus der Humangenetik, Ethnografie, Primatologie und Archäologie jedoch etwas ganz anderes: In diesem langen Zeitraum, der nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Psyche geformt hat, lebten Menschen als Jäger und Sammler in relativ kleinen, solidarischen Gruppen mit einem ausgeprägten Sensorium für Gerechtigkeit und einer Abneigung gegenüber Trittbrettfahrern. Im Kern, so die Botschaft der beiden Autoren, ist der Homo Sapiens also ein höchst kooperatives Wesen. Egalitäre Geschlechterbeziehungen waren ein maßgebliches Erfolgsgeheimnis unserer Spezies. Teilen und gegenseitige Fürsorge („Sharing und Caring“) erwiesen sich als überlebensnotwendig und liegen „buchstäblich in unseren Genen“ (S. 315). Erst das Sesshaft-Werden und die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht haben die Evolutionsforscher:innen als „Gamechanger“ identifiziert. Sie waren die Basis für Eigentumsbildung, welche hierarchische Machtverhältnisse, Macho-Kulturen und Freund-Feind-Schemata begünstigten, die seither Wirtschaft und Gesellschaften in unterschiedlichsten Facetten prägen.
Arbeit von Frauen systematisch schlechter bezahlt
Folglich ist der Streik für Gleichstellung von 100.000 Frauen und nicht binären Menschen, der am 24. Oktober 2023 in Island stattfand, keineswegs erstaunlich. Diese weibliche Rebellion zeugt einmal mehr von dem tief in unsere DNA eingeschriebenen Gerechtigkeitsempfinden: Obwohl Island im Ländervergleich des Weltwirtschaftsforums 14 Jahre in Folge auf Platz 1 bei der Gleichstellung steht, wissen isländische Frauen nicht erst seit der #MeToo-Debatte am besten, dass sie davon weit entfernt sind: Jede Vierte wird in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von sexualisierter Gewalt, meist in ihrer Partnerschaft oder in der Familie. Trotz Equal Pay Day, Lohntransparenz und Frauenquote werden Frauen systematisch schlechter bezahlt, am schlechtesten die eingewanderten Migrantinnen.
Eine der Initiatorinnen des großen isländischen Frauenstreiks am 24. Oktober 2023, an dem die Hälfte (!) der weiblichen Bevölkerung teilgenommen hat, betont zurecht, dass es nicht darum gehen könne, dass Frauen plötzlich nur noch Ingenieurinnen und Polizistinnen werden, damit sich das ändert. Vielmehr gelte es, die lebenswichtigen Frauenberufe im Care-Sektor endlich aufzuwerten und Fürsorgearbeit zwischen den Geschlechtern fair zu teilen („Wenn hier das Frauenparadies ist, habe ich Angst, wie der Rest der Welt aussieht“. In: Der Spiegel, 26.10.23). Folglich ist es eben nicht die vermeintlich „falsche Berufswahl“ von Frauen, die auch hierzulande oft als Grund für ihre finanzielle Schlechterstellung angeführt wird, und ihnen damit letztlich die Schuld für geringe Einkommen persönlich zuschiebt. Sie würden leider schon als Mädchen für Berufe wie Erzieherin oder Krankenpflegerin begeistert statt für Männerberufe, heißt es.
Die strukturelle Schlechterstellung von dringend benötigten Care-Berufen für Wirtschaft und Gesellschaft erledigt sich mit der Wahl von Männerberufen keineswegs von selbst. Monika Köppl-Turyna, Direktorin des wirtschaftsnahen Forschungsinstituts Eco Austria, argumentiert vollkommen unlogisch, wenn sie einerseits den massiven Ausbau von Kinderbetreuung fordert, die Entscheidung für Careberufe, wie den einer Erzieherin, jedoch als „nicht rational“ bezeichnet (Zitiert nach: Karoline Heinemann, „Konservative Normen“ befördern Gehaltseinbußen von Frauen, profil.at vom 31.10.23).
Müttermythos – ein ideologisches Konstrukt
Der Frauenstreik in Island ist zur Nachahmung nachdrücklich zu empfehlen: Es ist der menschliche Normalfall, dass Frauen und Männer ihren ökonomischen Beitrag zum gemeinsamen Lebensunterhalt erbringen. Die Existenz als Hausfrau ist dagegen alles andere als die natürliche Bestimmung der Frau und der Müttermythos ein ideologisches Konstrukt, um Frauen klein zu halten und ihnen die Carearbeit unbezahlt zuzuweisen.
Im Kern geht es darum, die evolutionsgeschichtlich verschwindend kurze Phase von hegemonialer Männlichkeit und Dominanzkulturen weltweit zu überwinden und ein gutes Leben für alle in planetaren Grenzen zu ermöglichen. „It`s culture, not nature!“, so lautet die frohe Botschaft. Und Kulturen sind veränderbar.
Die neuen und überaus ermutigenden Befunde der Evolutionsforschung sind anschlussfähig an viele Konzepte und bewegungspolitische Initiativen, die sich nicht mit den bestehenden Machtverhältnissen und Unterdrückungsstrukturen auf dieser Welt abfinden wollen (Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline Tecklenburg. Hrsg.: Wirtschaft neu ausrichten. Care-Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz 2023). Wie kann es aussehen, „das gute Leben für alle“? Wie gelingt die doppelte Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus, die Dieter Klein bereits 2013 in seinem Buch „Das Morgen tanzt im Heute“ skizziert hat? Was braucht es, damit sich die Wirtschaft wieder an grundlegenden menschlichen Care-Bedürfnissen im Sinne einer „Brot-und Rosen-Ökonomie“ orientiert und nicht am Profit? Wie lässt sich die Kannibalisierung unserer Lebensgrundlagen und Care-Ressourcen (Nancy Fraser) durch einen renditegetriebenen Finanzkapitalismus überwinden? Welche Pfade führen zu einem bedingungslosen Zugang zu den Gütern, die unser Leben möglich und schön machen, zu kollektivem Wohlstand, zu sorgenden Städten und Gemeinden, ohne die Natur zu zerstören und auf Kosten anderer zu gehen? [communia&BUNDjugend (Hrsg) (2023). Öffentlicher Luxus, Berlin: Karl Dietz].