Das Schweizer Publikum versteht die Medien schlecht. Eine Befragung zeigt, was falsch läuft. Vor wenigen Wochen publizierte das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) eine Studie zur Medienkompetenz der Schweizer Bevölkerung. Die beiden Autoren Jan Fivaz und Daniel Schwarz wollten damit die Medienkompetenz der Schweizer Bürgerinnen und Bürger untersuchen.
Doch die Studie weist auch auf Probleme im Schweizer Medienangebot hin. Fivaz und Schwarz sind keine Medienwissenschaftler, sondern Politologen. Sie forschen an der Uni Bern und der Berner Fachhochschule über Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik und Demokratie. «Zwei Resultate haben mich besonders überrascht», sagt Fivaz im Gespräch mit Infosperber. «Erstens: Die Medienkompetenz hierzulande ist eher schlechter als in Deutschland. Und zweitens: Dass über 70 Prozent der Befragten angeben, von der Informationsflut ganz oder teilweise überfordert zu sein.»
Die Teilnehmenden mussten politische Informationsangebote einordnen und Screenshots von Medieninhalten bewerten. Ist ein Interview mit Christoph Blocher auf Blocher TV Journalismus? PR? Oder Unterhaltung? Wie lässt sich ein Gespräch von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis mit dem NZZ-Chefredaktor und einer NZZ-Verwaltungsrätin kategorisieren? Zudem mussten sie bewerten, ob es sich bei Medieninhalten um Information, Kommentar, Werbung oder Falschinformation handelte.
Ältere schnitten schlechter ab als Junge
Die Studie stellt den Befragten kein gutes Zeugnis aus. Das Ergebnis sei «ernüchternd», schreiben die Autoren. «Die Befragten erreichten im Durchschnitt nur knapp sechs von 19 möglichen Punkten, was nicht einmal einem Drittel der Gesamtpunktzahl entspricht.» Dabei schnitten ältere Befragte schlechter ab als jüngere. Tendenziell besser war, wer über einen höheren Bildungsstand verfügte.
Doch die Beispiele zeigen auch, dass die Probleme nicht nur bei den Medienkonsumenten zu suchen sind. Massenmedien machen eben nicht nur kritischen Journalismus. Die Grenzen zu PR, Werbung und damit auch Manipulation sind oft undeutlich. Besonders eklatant sind die Verwischungen im Fall kommerzieller Interessen. So ist ein Werbeartikel auf 20 Minuten Online offensichtlich viel zu wenig deutlich erkennbar als «Paid Post» markiert.
Die Markierung von Werbung funktioniert ungenügend
«Gerade bei den Werbeinhalten wäre ideal, wenn es alle gleich machen würden», sagt Fivaz. Die Vielfalt an farblichen Abgrenzungen und englischen Bezeichungen wie «sponsored» oder «paid post» der Verlage förderten keine Klarheit. Trotzdem: Nur zehn Prozent finden, der Berichterstattung zu politischen Themen könne man nicht vertrauen. Dies steht auf den ersten Blick im Widerspruch zu Antworten auf allgemeiner formulierte Fragen. So sind 19 Prozent der Befragten der Meinung, dass Medien und Politik Hand in Hand arbeiten, um die Bevölkerung zu manipulieren. Gar weitere 51 Prozent glauben, dass dies zumindest teilweise der Fall ist.
Die Studienautoren geben sich ob dieser Zahlen etwas irritiert, doch sie passen zu anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Oder zu ähnlichen Befragungen aus Deutschland. Da habe sich das Misstrauen gegenüber den Medien «vorgefressen: vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, dorthin, wo sich Zeitungen und Magazine sicher wähnten – zu den Gebildeten, politisch Interessierten.» Dies schrieb das Magazin Der Spiegel bereits Anfang 2018, ein halbes Jahr vor Enthüllung des Relotius-Skandals. «Vielleicht ist nicht die politische Haltung von Journalisten das Problem, sondern eine Haltung, die es sich zu einfach macht. Dazu braucht es nicht die saubere Trennung von Nachricht und Kommentar, sondern in erster Linie Respekt.»
Achtung Beziehungsstörung
Liest man auch die Studie durch diese Beziehungsbrille, herrscht bei Schweizer Mediennutzenden nicht zuerst ein Misstrauen, das die Glaubwürdigkeit journalistischer Information infrage stellt. Sondern vielerorts eher eine Art zynisches Zweckverhältnis. Die Beziehung zwischen Medien und Bürgerinnen und Bürgern scheint eher auf einer grundsätzlicheren, existentiellen Ebene gestört. Nämlich indem die Befragten eher bezweifeln, dass die Medien sich in ihrer Beziehung zum Publikum so verhalten, wie es das Publikum gerne hätte. Dass grosse Medien beispielsweise Nutzerdaten sammeln, um diese an Werbetreibende weiterzuverkaufen oder die Berichterstattung nach ihnen auszurichten, dürfte derartige Gefühle eher verstärken.
«Noch bedenklicher» als den generellen Manipulationsverdacht stimmt die Studienautoren denn, dass 50 Prozent ganz oder teilweise der Meinung sind, dass eine funktionierende Demokratie auch ohne unabhängigen Journalismus funktionieren kann. Dazu passt, dass auch etwa die Hälfte der Befragten angab, politische Medienberichterstattung mitunter bewusst zu meiden. [Siehe den bruchstuecke-Beitrag von Otfried Jarren]
Fühlt sich das Publikum manipuliert, weil die Medien Journalismus und Werbung immer häufiger vermischen und wendet es sich deshalb auch von seriösem, demokratierelevantem Journalismus ab? Fivaz will da keine Verbindung herstellen. «Wir haben das schlicht nicht explizit untersucht.» Das ist auch schwierig und die existierende Forschung zur Newsvermeidung ist sich uneinig: zu verschieden sind die Herangehensweisen und Messmethoden.
Risiken für die Demokratie
Für Fivaz ist aber die Informationsflut eine Herausforderung der heutigen Medienlandschaft. Denn gar 73 Prozent sagten in der Studie, von der Masse an verfügbaren Informationen ganz oder teilweise überfordert zu sein. Dass diese gefühlte Überforderung durchaus zum Problem werden kann, ist nicht neu. Der US-Soziologe Herbert Simon erhielt 1978 den Nobel-Preis für seine Entscheidungsforschung dazu.
In ihrem Buch «Wir informieren uns zu Tode» (Herder, 2022) beschreiben der deutsche Neurologe Gerald Hüther und der Journalist Robert Burdy von der entgrenzten Aufmerksamkeitsökonomie im Netz getriebene psychologische Mechanismen. Diese bergen auch Risiken für die Demokratie. Hüther und Burdy beschreiben sie etwa so: Der Informationsüberfluss steigert unser Bedürfnis nach Klarheit (mehr über psychologische Hintergründe in diesem früheren Artikel). Daher neigen wir dazu, Informationen zu akzeptieren, die mit unseren Voreingenommenheiten übereinstimmen. Wenn dies zur Gewohnheit wird, können diese Informationen Teile der Geschichten werden, die wir uns über uns selber erzählen. Sie werden Teil unserer Identität. Und es fällt uns möglicherweise mit der Zeit immer schwerer, Widersprüche gegen sie zu akzeptieren.
Andererseits können widersprüchliche Informationen auch einfach dazu führen, dass wir die Informationssuche aufgeben und ein Informationsbedürfnis unterdrücken. Hüther und Burdy vermuten daher, dass viele Menschen sich von der Demokratie abwenden, weil die Medienberichterstattung darüber keine Klarheit schafft.
Doch beides sind nur mögliche, individuelle Reaktionen auf die Informationsflut. Sie sind auch nicht einfach zu belegen. Ausserdem, so deuten die Buchautoren an, könnten sich Menschen auch von Informationsangeboten abwenden, ohne gerade der Demokratie den Rücken zu kehren. Und zwar weil sie sich respektlos behandelt fühlen – als bloss konsumierende Objekte statt menschlicher Subjekte. Dies sollte besonders den Medienbesitzern und -managern zu denken geben.
Machen Sie den Selbsttest?
Unabhängig davon, wie Medienkompetenz gemessen und interpretiert wird – sie ist nützlich. Die beiden Forscher Jan Fivaz und Daniel Schwarz entwickelten als Pilotversuch auch einen Online-Selbsttest. Er ist kostenlos, schärft den kritischen Blick und zeigt anschaulich, wie Medienkompetenz erforscht wird. Der Test dauert etwa 20 Minuten. Am Schluss erhält man eine Auswertung und erfährt, weshalb man richtig oder falsch lag.
Unter dem Titel „Medienkompetenz ist nicht nur Publikumssache“ erschien der Beitrag zuerst auf Infosperber.
Ein interessanter und informativer Artikel. Auch, weil er nicht nur das Medienangebot, sondern auch die Nachfrage in den Blick nimmt. Was das Angebot betrifft, zum Beispiel Talkshows mit politischem Inhalt, ließe sich vielleicht weniger über die „politisch tendenziöse“ Auswahl streiten als darüber, dass es sich (gefühlt) immer um dieselben Leute handelt, die eingeladen werden. Man weiss schon im voraus, was bestimmte Gäste in bestimmten Funktionen sagen werden. Solche Angebote kreieren wohl kaum, was einmal als „intelligenter Konsum“ bezeichnet worden ist. Was die Seite der Medienkonsumenten betrifft, erscheint – in der Tat – die Bewertung des „Misstrauens“ (gegenüber den Medien oder der Demokratie) als vor-eilig oder vor-berurteilend. Wer sich als Kundin oder Kunde bestimmte Angebote wie Unterhaltunsshows nicht anschaut, muss nicht das gesamte TV-Angebot ablehnen. Wer bestimmte Berichterstattungen etwa über Kriegsereignisse für informationsarm und deshalb fragwürdig erachtet (z.B. Journalistinnen oder Journalisten „vor Ort“, die offenkundig auch nicht weiss, was sich ereignet hat), lehnt nicht zwingend diese in Gänze ab. Es dürfte auch diese kluge und pragmatische Haltung geben: „Ich weiss, warum die Medienleute vor Ort jetzt diese Zeugin interviewen, die auch nur gehört hat, dass es bei einem Anschlag „einen Knall“ gegeben hat. Die werden halt von den Redaktionen dorthin geschickt. Das nehme ich in Kauf. usw.) Auch hier kommt wieder die Qualität der Nachricht ins Spiel. Vermutlich wissen viele Bürgerinnen und Bürger damit umzugehen. Wäre die genauere Erkundung dieses Medienpragmatismus nicht eine Aufgabe für die Medienwissenschaft?