Für das eine öffentliche gemeinwohlorientierte Medienhaus

Bild: geralt auf Pixabay

Mein Beitrag fokussiert zwei Fragestellungen: Unter welchen Bedingungen findet die Weiterentwicklung für ein öffentlich finanziertes Medienangebot statt? Und: Warum könnte die Leitidee eines öffentlichen Medienhauses in diesem Prozess hilfreich sein? Ich werde zur zweiten Frage erste Überlegungen, kein geschlossenes Konzept präsentieren. Wichtiger erscheint mir die Reflexion der Bedingungen, unter denen es gelingen kann, ein öffentlich finanziertes und gemeinwohlorientiertes Medienangebot zukunftsfähig weiter zu entwickeln.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist – wie die anderen publizistischen Medien auch – einem digitalen Transformationsprozess ausgesetzt. Wir haben es nicht mit einem Modernisierungs-, einem Evolutions- oder einem emergenten Prozess zu tun. Transformationsprozesse stellen bestehende Normen, Regeln und Praxen in Frage, beeinflussen also institutionelle Grundlagen. Transformationsprozesse sind nur partiell politisch-rechtlich steuerbar oder gestaltbar.

Der Beitrag ist die schriftliche Fassung der Rede, die Otfried Jarren am 12. Januar 2024
bei den 67. Bitburger Gesprächen gehalten hat.

Schlanke, professionelle Aufsichtsstrukturen

In diesem Transformationsprozess sollten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur Bewältigung der Kontingenz unter digitalen Marktbedingungen zu einer Organisation, zu einem (in Zahlen: 1) öffentlichen Medienhaus, zusammengeführt werden, das zu einem handlungsfähigen, strategischen Akteur werden muss. Dieser neue korporative Akteur sollte mit weitgehenden Selbstorganisations- und Handlungskompetenzen im Rahmen eines allgemeinen Leistungsauftrages ausgestattet werden. Zu seiner Entwicklung und Aufsicht bedarf es schlanker, professioneller Aufsichtsstrukturen.

Der bislang gewählte Reformansatz mit einer Vielzahl an Maßnahmen (Medienänderungsstaatsverträge) zielt zu wenig auf einen integralen *change process* ab, setzt Organisationen externer Dauerbelastung aus. Zudem ist die Gesellschaft zu wenig in diesen Prozess einbezogen, nicht einmal in Form der gesellschaftlich relevanten Gruppen, die den öffentlichen Rundfunk maßgeblich gestalten. Die bisherigen Maßnahmen reichen weder zur Bestandsicherung noch zur Weiterentwicklung eines öffentlichen Angebots aus.

Ich gehe mit Blick auf den Digitalisierungsprozess von einer Transformation, nicht von einer Evolution oder von Emergenz aus. Warum? Bei Evolutionen handelt es sich um länger andauernde Entwicklungsprozesse, die die Entstehung neuer, auch spontaner Ordnungen, zur Folge haben, auf die grundsätzlich zwar politisch reagiert werden kann. Für den Digitalisierungsprozess aber gilt dies nur eingeschränkt: Dieser Prozess hat zur Etablierung einer neuen Infrastruktur mit eigenen Akteuren geführt, die institutionellen Charakter aufweist. Diese Infrastruktur kann nicht vom Nationalstaat, nicht einmal von der Europäischen Union allein maßgeblich gesteuert und ausgestaltet werden.

Bild: geralt auf Pixabay

Politikverzicht gegenüber den privaten Medien

Es handelt sich bei der Digitalisierung auch nicht um Emergenz: Emergente Prozesse vollziehen sich über längere Zeiträume, weisen einen hohen Grad an Nichtlinearität auf. Bei Emergenz ist eine vorausschauende Politik im Kern nicht möglich, aber es existieren die institutionellen Grundlagen weiter, auf die sich politische Maßnahmen beziehen können. Interventionsmöglichkeiten bestehen, wenn entweder von den beteiligten Marktakteuren oder aus der Gesellschaft heraus politisches Handeln eingefordert wird.

Schaut man auf den bisherigen Prozessverlauf, so ist es den privaten Medienunternehmen nicht gelungen, bezogen auf die Plattformdominanz politisch etwas zu erreichen (etwa beim Urheberrecht). Selbst eine Transformationsförderung auf Zeit hat die Branche nicht erhalten (siehe Zustellförderung). Und aus dem Markt der Nutzerinnen und Nutzern gab es keine formulierten (gar aggregierten) Anforderungen an die Politik. De facto haben wir es in Deutschland mit einem Politikverzicht bezogen auf die privaten Medien zu tun.

Wenn ich von einem Transformationsprozess ausgehe, so meine ich nicht, dass der öffentliche Rundfunk diesem ausgeliefert sei, doch der Spielraum für aktive Politik ist klein.

Unter Transformationen fasst man grundlegende Wandlungsprozesse: Werte, Normen, Regeln, institutionelle Arrangements oder systemische Ordnungen verändern sich. Diese Veränderungen sind empirisch evident. Am Ende eines Transformationsprozesses steht grundlegend Neues. Tiefe Staatlichkeit oder internationale Governance werden als Voraussetzung für die Bewältigung transformativer Prozesse angesehen. Diese Voraussetzungen bestehen noch nicht.

Der derzeit verfolgte Reformansatz greift zu kurz

Transformationen lösen einen dynamischen, länger anhaltenden, interdependenten institutionellen und organisationalen Veränderungsprozess mit vielfältigen Rück- und unbekannten Auswirkungen aus. Sie sind nur begrenzt politisch-rechtlich gestaltbar. Voraussetzung dafür sind

(1) gesellschaftlich ausgehandelte Leitideen,
(2) darauf basierende ordnungspolitische Konzepte und
(3) die Fähigkeit, handlungsfähige Markt- und Regulierungsakteure zu etablieren.

Für Entwicklungs- und Gestaltungsvorhaben bedarf es also hinreichender Handlungs- und Steuerungskapazitäten. Leitideen, ordnungspolitische Vorstellungen, Regulierungsinstitutionen und geeignete -instrumente – das alles ist noch im Klärungsprozess.

Der derzeit verfolgte Reformansatz greift zu kurz, da nur auf den öffentlichen Rundfunk abgezielt wird. Von der digitalen Transformation aber ist nicht nur er, es ist das gesamte Mediensystem und der Journalismus betroffen. Es muss das gesamte gesellschaftliche Vermittlungssystem in den Blick genommen werden. Alle publizistischen Medien wirken zusammen, erbringen integral nach dem Prinzip der Außen- und der Binnenpluralität publizistische Leistungen und sie legitimieren sich dadurch institutionell. Es bedarf also eines medienübergreifenden Politikkonzepts. Die Beratungen darüber sind sogar dringlich, weil bislang leitende Ordnungsvorstellungen, wie publizistische Gewaltenteilung oder duales Rundfunksystem, nicht mehr hinreichend sind.

Große Unterschiede zur Industrialisierung

Der Transformationsprozess kann nicht mit den Erfahrungen und Instrumenten aus dem Industriezeitalter bewältigt werden. Es geht nicht um Modernisierung, denn die technischen Grundlagen (Basisinnovationen) sind neu und die sozialen Erwartungen an Medien haben sich gewandelt (Individualisierung, Vernetzung). Und es geht auch nicht um Wandel durch Annäherung: Plattformen gehören nicht zur Medienbranche. Wie wir sehen, wäre allein eine Anpassung der Medien an die institutionelle Plattformlogik ein riskanter Prozess. Der aber findet statt.


Der digitale Transformationsprozess ist noch recht jung, doch er unterscheidet sich elementar vom Prozess der Industrialisierung – dem wir mental immer noch nachhängen. Der Industrialisierungsprozess, den man gemeinhin als eine Revolution bezeichnet, erstreckte sich über eine lange Zeitspanne, vollzog sich global ungleichzeitig. Er hatte national und regional unterschiedliche Ausprägungen, je nach Vorkommen von Rohstoffen, wie Kohle, oder dem Vorhandensein von Ressourcen, wie Wasser, für die Energiegewinnung oder für den Transport.

Mit dem Industrialisierungsprozess waren öffentliche Entscheidungen, ressourcenaufwändige Investitionen in die Verkehrs-, Energie-, Wohn- und Bildungsinfrastruktur verbunden. Das alles kostete Zeit und Geld, führte zu einer neuen und intensiven Staatstätigkeit. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wandelten sich, die institutionelle Ordnung wurde modifiziert. Dies in höchst konfliktreichen Prozessen. Aus dem vormaligen Obrigkeits- wurde der interventionistische Sozial- und Wohlfahrtsstaat.

Internet, Plattformen, Cloud-Technologie

Ökonomisch entstanden von der industriellen Produktion geprägte Massen- und Konsummärkte. Die Gesellschaft entwickelte sich von einer scharf konturierten Klassen- zu einer sozial differenzierten Gesellschaft. Das alles aber vollzog sich in langen Phasen, wurde im Nationalstaat gestaltet. Diese politische und soziale Ordnung mit ihren Organisationen, Leitbildern und politischen wie sozialen Aushandlungsformen hat bis heute Bestand. Nun ist das Ende des Industriezeitalters, geprägt von Massenproduktion, Massenkonsum, Massenorganisation und Massenmedien, gekommen.

Die Ausgangssituation für die sich ausbildende digitale Dienstleistungsgesellschaft ist eine gänzlich andere: Ihre infrastrukturelle Voraussetzung ist mit dem Internet, Plattformen und Cloud-Technologie bereits vorhanden. Und das überall, global. Mittels kostengünstiger digitaler Endgeräte und Software können die meisten Menschen selbst, unmittelbar, jederzeit und von überall, auf Plattformen zugreifen. Sie bedienen sich weltweit sogar ähnlicher Geräte und gleicher Software.

Bild: geralt auf Pixabay

Internet und Plattformen ermöglichen Austausch, die Bildung von Netzwerken, konstituieren ökonomische und soziale Märkte, ermöglichen Transaktionen, dies- und jenseits des Nationalstaats. Plattformen ermöglichen Einzelnen geschäftliche, berufliche wie soziale Tätigkeiten, sie sind auch Alltagshelfer. Ihre vielfältigen Gebrauchsmöglichkeiten entsprechen der differenzierten, individuell geprägten und mobilen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die sich beständig neu organisieren muss, und dies dank Netz, Plattformen und Künstlicher Intelligenz (KI) nun auch kann – und will.

KI geprägte dynamische Infrastruktur

Plattformen sind zum kulturellen Standard auch für Informations-, Kommunikations- und Wissensprozesse geworden. Die KI, mit diversen Assistenzsystemen ausgestattet, treibt die Möglichkeiten zur individuellen und gesellschaftlichen Selbstorganisation weiter voran. Etablierte Organisationen, so die des Staates oder die der Medien, werden ob ihrer digitalen Kompetenzen kritisch hinterfragt.

Das Netz, Plattformen, Clouds und KI bilden die Basis einer stark individuell geprägten digitalen Dienstleistungsgesellschaft. Software ist das Rückgrat dieser Infrastruktur, und diese wandelt sich beständig. Dynamik als Prinzip. Die von der Prozesslogik der KI geprägte dynamische Infrastruktur ist eine gänzlich neue Herausforderung für alle gesellschaftliche Akteure. Für die Medien haben sich die Marktbedingungen verändert: Sie habe ihr Vermittlungsmonopol eingebüßt, müssen sich der digitalen Infrastruktur Dritter bedienen. 
Die Innovations- und Entwicklungssprünge der KI erfolgen in kürzester Zeit, die Marktdurchdringung vollzieht sich rasch, sogar schneller als die Einführung der jüngsten Medien wie des Internets oder der Plattformen. KI ist Bestandteil fast aller Standardsoftwarepakete. Ein Massenmarkt entsteht. Die maßgeblichen Akteure der KI-Revolution benötigen zwar Ressourcen, vor allem Kapital, sind aber nicht auf staatliche Infrastrukturpolitik angewiesen. Die Akteure in Form privater Unternehmen (Big Five) sind da, zu ihnen fließt das Kapital. Die im Software- und Digitalmarkt erfolgreich etablierten Unternehmen erweitern ihr Angebotsspektrum, kaufen Start-Ups auf, gründen, etablieren Informations- und Kommunikationsökosysteme.

Community, user, sharing, digital services

Der Unterschied zur industriellen Revolution ist markant: hohe Durchsetzungsgeschwindigkeit, rasche Wirksamkeit in allen ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereichen, tiefe räumliche und soziale Durchdringung. Hybridisierung, Enträumlichung und Enthierarchisierung sind Merkmale der Veränderung. Die Wucht dieser Veränderungen, vielleicht sollte man besser von einer Revolution sprechen, ist groß: sie findet global, sie findet zeitgleich in den meisten Weltregionen statt, sie etabliert – und variiert dabei zugleich – neue Konsum- und Kommunikationsmärkte. Und nicht nur das: Sie etabliert Institutionen und damit neue Normen, Regeln und ist mit neuen gesellschaftlichen und politischen Leitideen verbunden: community, user, sharing.

Der Modus der Institutionalisierung wandelt sich: Institutionalisierung findet unter Beteiligung vieler Akteure statt, vollzieht sich interaktiv. Die Plattformetablierung erfolgt in Form eines kommunikativen Institutionalisierungsprozesses, ohne Bindungen und Verpflichtungen. Unter diesen Bedingungen müssen sich die aus dem Industriezeitalter stammenden Massenmedien behaupten, die ein allgemeines Publikum anstreben, von Rezipienten sprechen, Abonnements abschließen wollen.

Die digitale Revolution hat einen institutionellen Shift ausgelöst, mit Folgen für die bisher mit gesellschaftlichen Vermittlungsaufgaben betrauten Medienorganisationen und den Journalismus. Ihre institutionellen Grundlagen stehen zur Debatte. Bislang ließen sich Presse und Rundfunk einfach unterscheiden, bezogen auf spezifische technische Eigenschaften bei Produktion, Bereitstellung und Distribution typisieren und entsprechend regulieren.

Diese Zeiten sind vorbei: Der Medienbegriff ist durch den Markteintritt von diversen Plattformen unscharf geworden, eine Regulierung sowohl anhand einer Medien- als auch einer branchenbasierten Organisationstypologie ist nicht mehr möglich. Und für Formen der Förderung von Medien oder Journalismus fehlt es an trennscharfen Unterscheidungen, denn nun agieren alle im digitalen Markt – und erbringen digital services.

Netz- und damit Markt- und Öffentlichkeitszugang haben alle Akteure, die es wollen. Die Grenzziehung zwischen privater und öffentlicher oder zwischen Individual-, Gruppen- oder Organisationskommunikation wird aufgrund digitaler Konvergenz und kommunikativer Dynamik schwieriger.

Gesellschaftliche Realität wird anders konstruiert

Nun kommt auch noch die KI hinzu: Mittels generativer und distributiver KI können unterschiedliche Akteure Kommunikate erzeugen, öffentlich verbreiten. Variationen und Imitationen von Texten, Bildern oder Tönen sind möglich, ebenso synthetische Kommunikate. Alle Akteure können dies. Dies verändert die öffentliche Kommunikation grundlegend, hat Folgen für Angebote und die Regulierung dessen, was einmal öffentliche Kommunikation war.

Das Informations- und Kommunikationsangebot wird wachsen, sich weiter differenzieren. Noch ist unklar, wie die Volumensteigerungs- und Differenzierungseffekte bewältigt werden können: wahrscheinlich nur mittels KI, die für den Einzelnen die nötige Auswahl- und Bündelungsleistung erbringt. Die fortschreitende Hybridisierung von Medien beziehungsweise Intermediären wie Kommunikaten jeglicher Art wird ein Merkmal der Entwicklung sein. Damit werden die Grenzen zwischen geprüften Inhalten und Formen der persuasiven Kommunikation (Werbung, PR) weiter verschwimmen. Die KI-Tools spielen allen Formen von Influencing in die Hände. Die Prinzipien für die Konstruktion der gesellschaftlichen Realität verändern sich.

Die Dynamik im Prozess der Digitalisierung ist hoch, Gestaltungswille vorhanden. So hat die EU-Kommission eine Reihe von Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht: Digital Markets Act, Digital Services Act, AI Act, European Media Freedom Act. Wer hätte je gedacht, wie schnell sich Kompetenzstrukturen und Regulierungsansätze ändern können.

Ein neuer Ordnungsrahmen

Dabei handelt es sich um Rahmenvorgaben, die EU-weite Implementation und die Bewährung steht noch aus. Trotz manch berechtigter Kritik: Damit wurden Eingriffsoptionen geschaffen. Nun gilt es, den europäischen Rahmen auf der nationalstaatlichen Stufe zu etablieren und auszugestalten. Das ist, wie wir wissen, aufgrund von institutionellen Bedingungen und politischen Gewohnheiten, also der Pfadabhängigkeit, höchst anspruchsvoll, aber nötig – wenn Medien und Journalismus funktionale und normative Elemente des intermediären Gefüges der nationalstaatlichen Demokratie bleiben sollen.

Wenn die funktionalen und normativen Leistungserwartungen an Medien nicht bestritten werden, so bedarf es unter den veränderten Angebots- und Nutzungsbedingungen geeigneter Leitideen und eines (neuen) Ordnungsrahmens. Und es bedarf aus demokratie- und gesellschaftspolitischen Gründen weiterhin einer nationalstaatlichen Medien- und Kommunikationspolitik. Die Debatte über ordnungspolitische Vorstellungen ist nötig, um im gesellschaftlichen Diskurs Leitideen zu entwickeln, damit diese für alle Akteure handlungsleitende Kraft entfallen können.

Selbst eine “Reform” des öffentlichen Rundfunks muss als kommunikativer, als diskursiver Prozess aufgefasst und entsprechend organisiert werden. Eine allein auf den öffentlichen Rundfunk ausgerichtete Politik ist funktional und normativ unzureichend – und politisch zudem unklug.

Es braucht einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess

Zum einen: Die Gelingensbedingungen selbst für die derzeit verfolgten Reformen im öffentlich finanzierten Mediensektor sind von der Thematisierung und von den Bewertungen den diese Entwicklung beobachtenden Medien abhängig.

Zum anderen: Über alle zukünftigen politischen Regulierungsbemühungen, sei es von KI oder Plattformen, werden die Nutzerinnen und Nutzer durch ihr Verhalten entscheiden – unter dem Werbe-, Marketing- und PR-Einfluss der großen Plattformunternehmen. Der gesellschaftliche Aushandlungsprozess über eine zukünftige Ordnung bedarf einer hinreichenden Grundlage an Wissen und an vielfältigen Diskussionen. Für diesen Prozess kommt es auf ein differenziertes, vielfältiges publizistisches Mediensystem und den Journalismus an. Und es bedarf eines moderierten Prozesses.

Damit schließe ich den ersten Teil meines Vortrages ab, der der Frage nach den Bedingungen für den Weiterentwicklungsprozess für ein öffentliches Medienangebot nachging. Ich wollte deutlich machen, dass der angestoßene Vorgang nicht nur als ein Modernisierungs- oder als ein eigener Reformprozess gesehen werden kann und sollte, sondern als Etappe in einem Transformationsprozess.

Ich komme zu meiner zweiten Frage, warum die Leitidee eines öffentliches Medienhaus in diesem Prozess hilfreich sein könnte.

Der Rundfunk, ein One-Way-Medium, verliert im digitalen Transformationsprozess seine institutionelle Grundlage. Der öffentliche Rundfunk als spezifischer Organisationstyp, als Anstalt, büßt aufgrund des technologischen und sozialen Wandels (Individualisierung, Netzwerkgesellschaft) an Legitimität ein. Der öffentliche Rundfunk wurde bislang vorrangig als Institution im staatsnahen Sektor gesehen und gestaltet, weniger als Organisation in der Gesellschaft. In diesem institutionellen Feld wurden, entsprechend der föderalen Ordnung, viele einzelne Organisationen etabliert, denen mittels Staatsvertrag allen zusammen der Status eines Generalunternehmens zukam, ohne aber so verfasst zu sein. Selbständige Organisationen, von höchst unterschiedlicher Größenordnung und unterschiedlichem Leistungspotenzial existieren nebeneinander.

Die öffentlichen Anbieter müssen sich neu organisieren

Foto: ANKAWÜ auf wikimedia commons

Entsprechend hat sich die ARD als Arbeitsgemeinschaft etabliert, weder als eine Organisation noch als Organisationsverbund oder als Holding. Übergeordnete Management- und Aufsichtsstrukturen wurden zumeist reaktiv, auf politische Impulse, und dann selektiv etabliert. Kooperationen wie Binnenwettbewerb gibt es allenfalls fallweise.

Das ist aus organisationstheoretischer Sicht verständlich: Hauptlegitimationsquellen des öffentlichen Rundfunks sind erstens die regional verankerten Gremien und zweitens deren auf die Region verpflichteten Mitglieder. Die auf räumlich-politischer Repräsentation basierende Legitimation, die zudem maßgeblich auf ausgewählten Akteuren von sogenannter gesellschaftlicher Relevanz basiert, war bislang hinreichend, ist es jetzt aber nur noch partiell aufgrund der Folgen, die sich aus dem digitalen Transformationsprozess und dem sozialen Wandel zusammen ergeben. Über die Zukunft eines öffentlichen Angebots entscheiden die digitalen Markt- und Konkurrenzbedingungen, entscheidet maßgeblich das Wollen und Verhalten der Nutzerinnen und Nutzer. Karl-Heinz Ladeur hat jüngst auf das Problem der Repräsentation von Interessen durch etablierte Organisationen hingewiesen (epd, 51-52/23).

Neue Leistungs-, Repräsentations- und Beteiligungserwartungen fordern die öffentliche Medienorganisation heraus. Um diesen Anforderungen zu entsprechen, muss sich der öffentliche Anbieter neu organisieren können. Er muss dazu eine Gesamtorganisationsperspektive entwickeln, er muss steigende Umweltkomplexität selbst reduzieren können. Er kann und darf sich nicht auf dritte Ausspielkanäle allein stützen, denn diese segmentieren allein entlang ihrer (aufmerksamkeits-)ökonomischen Linien den Rezeptionsmarkt.

Ein öffentliches Medienangebot aber kann allein dieser Marktlogik nicht dienen. Um den differenzierten Erwartungen entsprechen zu können, muss es in neuer Form Leistungen bereitstellen, bündeln und vermitteln können (Plattform). Skalierung und Differenzierung sind nicht nur aus technischen Gründen geboten, sondern entsprechen ebenso sozialen Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer: Netzwerke bieten Mehrwert.

Vor allem die jüngeren Nutzerinnen und Nutzer haben Ansprüche. Mediennutzung erfolgt individualisiert, unter smarten Bedingungen. Sie soll interaktiv möglich sein, die Bildung sozialer Netzwerke und vielfältige Formen des Austausches ermöglichen. Auf diese Erwartungen muss ein öffentlicher Anbieter reagieren können, dazu muss ein Angebot aus einer Hand gestaltet werden. Deshalb bedarf es einer Plattform und eines öffentlichen Medien- und Kommunikationsökosystems, in dem alle Kernleistungen wie auch vertiefende Angebote dauerhaft bereitgestellt werden. Die Verfügung über eine eigene kommunikative Infrastruktur ist nötig.

Das öffentliche Medienhaus muss sich von einer auf die Herstellung und Distribution von Programmen ausgerichteten zu einer auf geprüfte Informationen und zuverlässiges Wissen über alle Kanäle bereitstellenden sowie netzwerk- und interaktionsfähigen Organisation entwickeln. Diese muss die Nutzerinnen und Nutzer einbeziehen. Das öffentliche Medienhaus sollte, wie Christoph Neuberger es formuliert, zugleich Formen der rezeptiven und der kommunikativen Teilhabe, national wie regional, ermöglichen.

Aus der Arbeitsgemeinschaft einen korporativen Akteur machen

Die sich dynamisch verändernden Angebots- und Nutzungsbedingungen erfordern nicht nur Inhalts-Knowhow, sondern gleichrangig technisches Knowhow: Forschungs- und Entwicklungskapazitäten: Software, Cloud Technologie, Plattform, KI. Es muss hochqualifiziertes Personal mit IT-Kompetenz gewonnen werden. Das alles macht eine zentrale Ressourcenallokation notwendig.

Schließlich: Auch die von der Politik eingeforderten Effizienzgewinne können nur durch übergreifende Maßnahmen innerhalb einer Organisation erreicht werden. Rasche Effizienzgewinne sind nötig aufgrund der schwinden Ressourcensituation. Diese Lage wird sich kontinuierlich verschlechtern, zumal erhebliche Investitionen anstehen.

Aus der Arbeitsgemeinschaft locker verknüpfter Organisationen muss ein korporativer Akteur werden, das öffentliche Medienhaus. Die bestehenden Anstalten müssen zu einer Organisation zusammengeführt, hierarchisch geleitet, entscheidungs-, strategie- und kooperationsfähiger werden. Das öffentliche Medienhaus sollte als *Market Strengthener* fungieren. Kooperationen mit Privaten sollten im technischen Bereich eingefordert, Coopetition-Ansätze entwickelt und erprobt werden.

ÖRR bringt ausgezeichnete Voraussetzungen mit

Ich plädiere deshalb für eine Organisation. Eine Organisation ist für einen öffentlichen Akteur nötig, wenn er übergreifend vermitteln, wenn er vernetzen, wenn er eine Übersicht über die “dezentrale Unordnung der digitalisierten Medienlandschaften” (Michael Hüther) haben muss und eine metakommunikative Funktion wahrnehmen soll.

Eine Organisation bedeutet aber nicht, dass die Leistungserbringung nur zentral erfolgt. Im Gegenteil: Diese kann nicht nur, sondern sie muss, um alle gesellschaftlichen Gruppen in den unterschiedlich strukturierten Räumen einzubeziehen, dezentral und nicht nur medial, sondern auch vor Ort und dialogisch erfolgen. Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem bringt dafür ausgezeichnete infrastrukturelle Voraussetzungen und Kompetenzen mit.

Es bedarf also größerer Veränderungsschritte. Partielle Zusammenschlüsse, wie das Betreiben gemeinsamer Mediatheken oder gewisse Formen der redaktionellen und programmlichen Arbeitsteilung reichen nicht aus. Sie zu etablieren, dauert zu lang und Führungs- sowie Verantwortungsstrukturen werden aufgrund zwischenorganisationaler Regelungsnotwendigkeiten nicht vereinfacht. Die internen wie externen Aufsichtsmöglichkeiten werden damit nicht verbessert. Im Gegenteil: alles wird komplizierter.

Denkt auch der Gesetzgeber heimlich an Zentralisierung?

Selbst die angestrebten Verwaltungsharmonisierungen erbringen geringe Effizienzgewinne mit Blick auf die anstehenden Investitionen. Inkrementalismus ist teuer, Ausgründungen im öffentlichen Sektor sind problematisch und mittels quasi ausgegründeter Einheiten wie Funk muss erst gezeigt werden, ob dadurch organisationales Lernen ausgelöst und neue Kompetenz im Markt nachhaltig aufgebaut werden kann.

In Richtung Zentralisierung denkt wohl auch der Gesetzeber, sicherlich noch eher heimlich, denn auf organisationale Vereinheitlichungen der Arbeitsgemeinschaft ARD zielen eine Reihe von Maßnahmen, die mit dem dritten und dem vierten Medienänderungsstaatsvertrag verbunden sind:

  • Benchmarks für anstaltsübergreifende Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit: “Vergleichende Kontrolle der Ressourceneffizienz.”
  • Qualitätsmanagement im Sinne von Richtlinien: “Die Richtlinien umfassen die Festsetzung inhaltlicher und formaler Qualitätsstandards sowie standardisierter Prozesse zu deren Überprüfung.”
  • Dialog mit der Bevölkerung “über Qualität, Leistung und Fortentwicklung des Angebots”
  • Transparenz
  • Compliance-Managementsystem
  • Stärkung der Gremienkontrolle.

Mit der Mehrzahl der Maßnahmen reagiert der Gesetzgeber auf vermeintliche oder tatsächliche Defizite, er will einen Kulturwandel und eine gewisse organisationale Angleichung anstoßen. Doch die Anstöße erscheinen noch unentschlossen.

Bild: geralt auf Pixabay

Gemeinsame Führungs- und Verantwortungskultur

Schritte in Richtung Angleichung beinhalten Risiken: die Forderung nach Benchmarks, Dialog mit der Gesellschaft oder die Etablierung eines Qualitätsmanagementsystems sind für Organisationen nicht ganz einfach zu bewältigen, wie wir aus dem Hochschulbereich wissen. Sie kosten recht viel Zeit.

Die Maßnahmen machen neue Suborganisationeinheiten erforderlich, führen zu neuen Stabsstellen, weiteren Schnittstellen, kosten Ressourcen, werden vielfach in Expertinnen und Experten-Organisationen als Wachstum von Bürokratie aufgefasst. Wenn man mittels dieser Maßnahmen die Selbstorganisations- und Strategiefähigkeit erhöhen will, so kann das nur auf einer Gesamtorganisationsebene erfolgen.

Offen ist, ob durch dieses Maßnahmenbündel auf der Stufe der Arbeitsgemeinschaft eine gemeinsam geteilte Führungs- und Verantwortungskultur mit Blick auch auf die Leistungserbringung etabliert und verankert werden kann. Und offen ist ebenso, ob durch die Mehrzahl dieser Anforderungen die Akzeptanz in der Bevölkerung erhalten werden kann. Denn diese Maßnahmen zielen ja nicht auf den Kernbereich der Organisation ab, sein Leistungsportfolio.

Eine Debatte über die massenmediale Zukunft ist unausweichlich

Nun mag man einwenden, dass der Weg hin zu einem einheitlichen Medienhaus aufwendig sei und riskant. Aufwendig ist er sicher, aber er reduziert Risiken: Ein über längere Zeit sich hinschleppender “Reformprozess”, bei dem die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sich verändern und der immer wieder zuerst anstaltsintern und dann öffentlich diskutiert wird, birgt Irritationspotential. Und ein solcher Prozess wird übergreifend wohl kaum als der große Veränderungsprozess und somit als zielorientiertes Handeln wahrgenommen werden. Wenn Sie die Medienresonanzen auf Veränderungsprozesse wie beim BR oder HR auswerten, so wird diese Problematik deutlich.

Reformen oder Veränderungen bergen immer erhebliche organisationale Risiken. Aber ein “Dauerreformvorhaben”, zumal in wechselnden Akteurkonstellationen, birgt große kommunikative und somit institutionelle Risiken. Natürlich gilt das auch für den hier vorgeschlagenen grundlegenden Reorganisationsprozess, denn der dürfte nicht nur, der wird zu einer grundsätzlichen Debatte führen.

Warum auch nicht? Eine Debatte über die Zukunft aller Medien und des Journalismus ist unausweichlich. Ohne Konflikte geht es nicht. Das zumindest lässt sich aus dem Industrialisierungsprozess lernen.

Otfried Jarren
Prof. Dr. Otfried Jarren lehrt an der FU in Berlin. Er war zunächst Professor für Journalistik an der Universität Hamburg, 1997 wurde er nach Zürich berufen und blieb gleichzeitig bis Juli 2001 Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung an der Universität Hamburg. Ab August 2008 (bis 2016) war er als Prorektor Geistes- und Sozialwissenschaften Mitglied der Universitätsleitung der Universität Zürich. Im November 2013 wurde er vom Bundesrat zum Präsidenten der Eidgenössischen Medienkommission (2013 - 2021) gewählt, im Mai 2018 erhielt er den Preis der Schader Stiftung.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke