Deutschland und die Schweiz, genauer: die Fußballnationalmannschaften beider Länder (was in Fanblocks und Boulevardmedien fast dasselbe ist), treffen während der Vorrunde der Fußballeuropameisterschaft 2024 im Frankfurter Deutsche-Bank-Park aufeinander. Was sich auf dem Rasen und auf den Rängen abspielt, hat am Rande auch etwas mit Sport zu tun, sehr viel mit Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Unterhaltung, Kultur. Der Sport-und Sozialwissenschaftler Robert Claus forscht zu Fanszenen, Hooligans und Männlichkeitsbildern und sagt im Interview mit Thomas Gesterkamp, Fußball symbolisiere für Teile der Gesellschaft nationale Stärke und Männlichkeit, wenngleich er sich inzwischen für mehr Vielfalt öffne.
Thomas Gesterkamp: Fußball ist ein milliardenschweres Geschäft, zugleich gibt es eine tiefe Sehnsucht nach weniger Kommerz. Zuletzt zu besichtigen bei den Tennisbällen, die gegen den Einstieg von Finanzinvestoren in die Bundesliga auf die Plätze geworfen wurden…
Robert Claus: In früheren Jahrzehnten war der Fußball weitaus weniger durch Erwartungen an gesellschaftliche Verantwortung geprägt. Im Rückblick traurig-berühmt wurde das Beispiel, dass die (west)deutsche Nationalmannschaft bei der WM 1978 in der Nähe eines Gefängnisses gastierte, in dem die argentinische Militärjunta Oppositionelle folterte – damals geriet das nicht zum Skandal. Den Protesten der vergangenen Jahre geht es vor allem um Teilhabe und eigene Wirkmächtigkeit, also um grundlegende Erfahrungen in einer funktionierenden Demokratie. Im kommerzialisierten Fußball machen die Fans ständig demütigende Erfahrungen der Nicht-Beteiligung, Sponsoreninteressen werden meist stärker gewichtet. Die Tennisbälle waren ein eskalierender Versuch, ihre Interessen massiv einzufordern. Hier unterscheiden sich die Fanszenen des Fußballs von Fankulturen in anderen gesellschaftlichen Bereichen: Viele Ultras wollen die Spiele nicht nur spaßvoll konsumieren, sondern vor allem den eigenen Verein aktiv mitgestalten.
Robert Claus, geboren 1983 in Rostock, studierte Europäische Ethnologie und Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität. An Hochschulen in Hannover und Potsdam arbeitete er in sportwissenschaftlichen Projekten mit. Er forscht, hält Vorträge und publiziert zu den Themen Fankulturen, Hooligans, Rechtsextremismus, Männlichkeiten, Soziale Bewegungen und Gewalt.
Im Frühjahr sorgte ein neues Trikot des DFB für Kritik. Vor allem im Netz hieß es, mit seinen Pinktönen sehe es zu weiblich aus…
Robert Claus: Offenbar fühlte sich ein Teil der Anhängerschaft in seinem sehr traditionellen Verständnis von Männlichkeit gestört. Solche Einwürfe haben im Fußball eine längere Geschichte. Es gab sie schon, als Profis in den 1990er Jahren begannen, vermehrt bunte Schuhe zu tragen und auch, als mancher Kapitän in der Bundesliga eine Regenbogenbinde anlegte. Beides hat sich letztlich aber durchgesetzt. Und der Sportartikelhersteller Adidas meldete kurz nach Verkaufsstart, dass das pinke Trikot das bestverkaufte Auswärtstrikot in der Geschichte des DFB sei. An dem Beispiel wird deutlich, dass Fußball nie nur ein Ballsport ist. Für Teile der Gesellschaft symbolisiert er nationale Stärke und Männlichkeit.
In die Stadien kommen mehr weibliche Fans als früher, im Fernsehen wird dem Frauenfußball mehr Platz eingeräumt. Er gilt als ehrlicher und weniger kommerziell, manche sprechen sogar von einer Feminisierung der Sportart. Sehen Sie das auch so?
Robert Claus: Ich sehe Tendenzen, dass sich der Fußball seit Jahren für mehr geschlechtliche und sexuelle Vielfalt öffnet. Das zeigt sich nicht allein im Wachstum des Frauenfußballs. Belege sind auch das jahrelange Engagement der “Fußballfans gegen Homophobie” in den Stadien, die Wanderausstellung “fan.tastic females“ oder die Einrichtung einer Kompetenz- und Anlaufstelle beim DFB zum Thema. Der Deutsche Fußballbund hat 2022 als einer der ersten Verbände weltweit eine Regelung zum Spielrecht für trans-, inter- und nonbinäre Personen entwickelt. Gleichzeitig zeigen sich einige Bereiche des Fußballs enorm beharrungsfähig: Bis heute sind die Leitungsebenen und Präsidien sehr wenig divers, die machtvollen weißen Männerbünde gibt es nach wie vor.
In manchen Fankurven hängen homofeindliche Banner, begleitet von den entsprechenden Gesängen. Was tun die Verantwortlichen dagegen?
Robert Claus: Homofeindliche Schmähungen sind immer noch etablierter Teil einer fußballspezifischen Beschimpfungskultur. Die Kulturwissenschaftlerin Almut Sülzle hat das Stadionerlebnis als karnevaleske Sonderwelt beschrieben. Die emotional aufgeladene Konfliktsituation des Fußballspiels forciert solches Verhalten auch bei Menschen, die sich sonst nicht so benehmen. Aber wir müssen auch sehen, wie viele Ultragruppen den vorgegebenen Konsens vertreten, sich nicht diskriminierend im Stadion zu äußern. Die Fanszenen haben sich stark ausdifferenziert, und entsprechende Vorfälle werden auch vom DFB bestraft.
Gibt es Unterschiede zwischen den Vereinen im Umgang mit dem Thema Diskriminierung? Haben Sie ein Beispiel für vorbildliche Präventionsarbeit?
Robert Claus: Borussia Dortmund etwa hat in den 2010er Jahren einen weiten Weg hinter sich gebracht. Um gegen die Dominanz extrem rechter Hooligans und gegen Diskriminierung vorzugehen, hat der BVB Workshops mit Fans und Tagungen zum Thema Zivilcourage durchgeführt – und begonnen, Vielfalt in seiner Anhängerschaft zu fördern. Andere Proficlubs wie der FC St. Pauli oder Werder Bremen machen dies schon länger. Hinzu kommt die professionelle Arbeit von über 70 sozialpädagogischen Fanprojekten. Es gibt Diversity-Beratungsagenturen, engagierte Amateurvereine und Bildungseinrichtungen. Einige von ihnen wurden mit dem Julius-Hirsch-Preis des DFB ausgezeichnet, viele wirken am jährlichen Aktionsspieltag des Netzwerkes „Nie Wieder!“ mit.
Vor Jahren hat sich der frühere Nationalkicker Thomas Hitzelsberger als homosexuell geoutet – allerdings erst nach dem Ende seiner Karriere. Warum traut sich das kaum ein Profi?
Robert Claus: Das müsste man die Spieler fragen. Ich glaube, dass große Teile der Fanszenen und Gesellschaft deutlich weiter sind, als es manche Stereotypen über Fußball und Fankultur vermuten lassen. In Gesprächen mit Spielern wird allerdings oft deutlich, welch traditionellen Geschlechterrollen in den Führungsetagen des Fußballs vorherrschen. Spieler bräuchten also die aktive Unterstützung von Sportdirektoren, Trainern, Managern und Beratern.
Sie haben ein Buch über Hooligans geschrieben. Handelt es sich um ein homogenes Milieu, das althergebrachte Männlichkeiten und patriarchale Werte ungebrochen hochhält?
Robert Claus: In diesem Umfeld herrscht ein sehr klares Verständnis von Männlichkeit, in dessen Zentrum steht der gewaltvolle Wettbewerb mit anderen Hooligans. Es geht stets darum, sich zu messen. In der Szene gilt nicht derjenige als schwach, der einen Kampf verliert, sondern derjenige, der gar nicht erst antritt. In den sozialen Medien des Internets wird dieses Verständnis von Männlichkeit regelmäßig inszeniert.
Wie hoch ist die Gewaltbereitschaft in dieser Szene?
Robert Claus: Sehr hoch. Hooligans definieren sich über die Gewalt, trainieren ihre Gewaltkompetenzen im Kampfsport und haben diverse Formate für ihre Kämpfe entwickelt. Denn es gibt ja nicht nur Randale in den Stadien, sondern zum Beispiel auch sogenannte “Ackermatches”, wo zwei meist gleich große Teams weitgehend regelfrei an einem entlegenen Ort gegeneinander antreten. Es handelt sich tendenziell um Gruppenkampfsport.
Gibt es Verbindungen zur extremen Rechten?
Robert Claus: Hooliganismus und militanter Neonazismus sind zwar nicht deckungsgleich, weisen aber große Schnittmengen auf. Beide Szenen teilen ein sehr ähnliches Männlichkeitsideal und das Interesse an Gewalt. So ist der Hooliganismus seit Jahrzehnten eines der wichtigsten Rekrutierungsfelder für militante Neonazis. Und generell steht die Hooliganszene zu großen Teilen sehr weit rechts.
In der Vergangenheit kam es anlässlich großer Fußballturniere immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen, von deutschen Hooligans ausgehend etwa im nordfranzösischen Lens. Rechnen Sie mit solchen Vorfällen auch bei der Europameisterschaft?
Robert Claus: Da mehrere Länder teilnehmen, in denen größere Hooligan-Szenen agieren, Beispiele sind etwa Polen, Kroatien und Ungarn, lässt sich das zumindest nicht ausschließen. Doch ist das nicht die einzige Gefahr für das Turnier. Denn extrem rechte Akteure – von Neonazis bis hin zur AfD – agitieren seit Jahren gegen die Vielfaltsmaßnahmen im Fußball und die Tatsache, dass “Player of color” mittlerweile Normalität in den deutschen Auswahlteams sind. Rassistische Shitstorms und Kampagnen aus diesem Spektrum, insbesondere im Fall eines sportlichen Misserfolgs, sind also zu befürchten und ernst zu nehmen.
Was halten Sie von der Forderung nach “Equal Pay” im Profifußball? Ist das nicht einfach eine ökonomische und keine gleichstellungspolitische Frage? Zugespitzt formuliert: Der Männerfußball ist ein Milliardengeschäft mit den entsprechenden Gehältern, der Frauenfußball trotz aller Fortschritte immer noch eher eine Randsportart…
Robert Claus: Männer- und Frauenfußball agieren auf der Basis sehr ungleicher Voraussetzungen. Wir sollten nicht vergessen: Den Spielbetrieb der Frauen hat der DFB von 1955 bis 1970 verboten. Der Fußball hat also 15 Jahre lang aus geschlechterideologischen Gründen auf das Wachstum dieser weiblichen Sportart verzichtet. Letztlich unterstütze ich die Forderung nach Equal Pay, jedoch macht sie nur verbunden mit der Forderung nach Equal Investment Sinn. Dabei geht es um die nachholende und weiterführende Professionalisierung des Frauenfußballs, seines Personals und der Infrastruktur.