Der Beitrag „Selbstüberschätzte Kritik, unterschätzte Kritiker“ von Thomas Weber regt zum Nachdenken, aber auch zum Widerspruch an. Man muss nicht den Alterspessimismus von Jürgen Habermas teilen (“vom Idealisten zum Fatalismus“), um die Lage und die Aussichten Deutschlands so einzuschätzen, dass es eines intensiven Ringens angesichts gefährlicher Entwicklungen bedarf. Für diese Debatte ist es nicht hilfreich, wenn Kritikern von Olaf Scholz Befindlichkeiten und Gefühlslagen, dem Kritisierten aber nur politische Vernunft und Rationalität seiner Entscheidungen unterstellt wird. Olaf Scholz wäre nachgerade ein Unmensch, wenn sich sein Handeln nicht auch durch Gefühle und Befindlichkeiten leiten oder beeinflussen ließe. Rationalität und Emotionalität liegen sicher auf beiden Seiten vor. Im Folgenden neun kritische Hinweise.
1 Die Parteien der Ampel sind aufgrund ihrer politischen Programme und ihrer Herkünfte sicher dysfunktional. Eine Regierungskoalition und ein Koalitionsvertrag sind aber ein Bündnis auf Zeit, das Versprechen, befristet funktionale Zusammenarbeit für die gemeinsam vereinbarten Ziele zu praktizieren. Dafür zu sorgen, ist Aufgabe der demokratischen Spitze einer solchen Koalition, also des Bundeskanzlers. Gelingt ihm dies nicht, erweckt das nicht den Eindruck souveräner Gelassenheit, sondern von Führungsversagen. Die Regierungskoalition bietet eine Bild der Zerrissenheit und Zerstrittenheit, sehr zum Verdruss der Wählerinnen und Wähler, mit verheerenden Folgen nicht nur für die regierenden Parteien, sondern auch für das ganze Land. Es ist ein elementares Kennzeichen der politischen Demokratie, dass Rationalität des Handelns nicht nur beansprucht, sondern auch öffentlich vermittelt werden muss. Das gilt in der Zeit multimedialer Publizität erst recht. Daran fehlt es der Bundesregierung generell und Olaf Scholz besonders.
2 Natürlich hat der Bundeskanzler seine Wiederwahl im Blick, aber zu verheimlichen, wie sie gelingen soll, ist zumindest kein Zeichen von Souveränität. In jedem Fall brüskiert es alle, die bereit wären, ihn zu unterstützen. Die von Thomas Weber nicht formulierte, aber wohl erkennbare Annahme ist doch, dass sich 2021 wiederholen könnte – mit einem neuen Streit um eine Kanzlerkandidatur in den Unionsparteien und mit einem Fanal sozialer Gerechtigkeit durch die SPD und Scholz. Dafür sprich aber wenig, weder die Verfassung der Unionsparteien noch der Zustand der SPD und ihres Führungspersonals.
Als Getriebener präsentiert
3 Mit seiner fulminanten Rede vom 27. Februar 2022 hat Olaf Scholz den richtigen Akkord angesichts der geopolitischen Herausforderung gesetzt und auch ein Jahr später den Zusammenhang zwischen Friedenssicherung und Waffenlieferung mit emotionalen Mitteln unterstrichen. Aber die Melodie wurde von ihm nicht kontinuierlich und konsequent weitergespielt. Olaf Scholz hat betont, dass Freiheit, Sicherheit und Frieden nur gesichert werden können, wenn der Aggression Russlands mit allen verfügbaren Mitteln Einhalt geboten wird. Der weitere Weg war aber davon gekennzeichnet, dass Scholz sich bei Waffenlieferungen und Sanktionen öfter als Getriebener präsentierte. Dadurch wurde der Skepsis Nahrung gegeben, mit der die Unterstützung der Ukraine in Teilen der Bevölkerung gesehen wird.
Scholz hat es unwidersprochen hingenommen, dass der Vorsitzende der SPD-Fraktion mit dem Gerede vom „Einfrieren“ des Krieges den Eindruck erweckte, wenn nicht einem Diktatfrieden, so doch einem Teilungsfrieden den Weg zu bereiten. Es ist bis heute nicht erkennbar, dass sich der Kanzler und die SPD offen mit dem Thema auseinandersetzen, dass die Menschen in den östlichen Bundesländern in ganz besonderer Weise eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine skeptisch sehen und offenkundig, trotz der eigenen Erfahrung, einem Russland, dass immer mehr in die Fußstapfen des sowjetischen Imperialismus getreten ist, Verhandlungs- und Friedensbereitschaft zutrauen. Die Plakatierung von Olaf Scholz als „Friedenskanzler“ wurde nicht in den Kontext gestellt, „Frieden sichern heißt Waffen liefern und Sanktionen verschärfen“, sondern zielte eher auf die demgegenüber skeptischen Teile der Wählerschaft.
4 Seit dem 30. Jahrestag des Falls der Mauer wird wieder offen kommuniziert, dass die Wiedervereinigung noch zu keiner inneren Einheit Deutschlands geführt hat, manche Brüche neu entstanden sind. Die Regierungskoalition hat von Regierungsbeginn im Jahre 2021 an auf diese Signale nicht reagiert. Es gibt heute weder für die ökonomische Basis noch im kulturellen Überbau Programme und Konzepte, die sowohl den realen materiellen Differenzen als auch der wahrgenommenen Benachteiligung und Zurücksetzung der neuen Bundesländer Paroli bieten. Wenn die besondere Russlandnähe der Menschen in Ostdeutschland nicht thematisiert und ihre Ursachen nicht aufgebrochen werden, wird man weder die Unterstützung der AfD an diesem Punkte noch die Attraktion der früheren Erzkommunistin Sahra Wagenknecht ankratzen können.
Abwehr, Abschottung, Abschiebung
5 Ich bezweifle, dass die Mehrheit der Regierungen der Welt auf der Seite Russlands und Chinas steht und dass die Mehrheit der Bevölkerungen für sich selbst die autoritären bis totalitären politischen Systeme und gewaltorientierten und repressiven Gesellschaftsverfassungen dieser Länder will. Gerade die geopolitische Herausforderung verlangt doch, eine werteorientiere Politik nicht als lästiges Übel, sondern als verteidigungswerten Leuchtturm zu sehen. Wir leiden sicher unter dem Erbe der kolonialen Vergangenheit Europas in unserem Umgang insbesondere mit Ländern Afrikas. Dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 nicht mit einem globalen Ende der kolonialen Herrschaft Hand in Hand ging, ist ein gravierender Makel, der bis heute nachwirkt. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir – nach dem unvergleichbaren Zivilisationsbruch des Holocaust – die damals errungene Gemeinsamkeit der Menschenrechtserklärung und der UNO-Charta selbst hintanstellen oder aufs Spiel setzen
6 Auffallend ist, dass Thomas Weber einen Punkt, der ja wohl für die Kritik an der Bundesregierung und vor allem für die hohen Zustimmungswerte für AfD und BSW ein wichtiger Grund ist, überhaupt nicht angesprochen hat: Die Migrations- und Asylfrage. Die Regierungskoalition hechelt der radikalen und inhumanen Wende hinterher, die die Unionsparteien in dieser Frage vollzogen haben. Kein Wort mehr, dass Wohnung, Bildung, Arbeit die zentralen Instrumente der Integration sind, in die auch massiv investiert werden muss im Interesse aller hier lebenden Menschen, egal mit welchem Status. Statt Wohnung, Bildung, Arbeit stehen Abwehr, Abschiebung, Abschottung im Zentrum auch der Regierungsdiskussion. Niemand kann mir bis heute erklären, wie durch Drittstaatenabkommen ein humaner Umgang mit Migranten:innen und ein rechtsstaatliches Asylverfahren gewährleistet werden sollen – und vor allem, dass die Kollateralkosten für mehr Grenzkontrollen, Abschiebeverfahren und Drittstaatenabkommen tatsächlich niedriger sind als Investitionen in Wohnung, Bildung und Arbeit für die hier Ankommenden. Weber schreibt zwar, dass die Regierung jederzeit eine Haushaltsnotlage beschließen und die Schuldenbremse aussetzen könne. In dem Katalog der zu bewältigenden Punkte fehlt aber das Thema Migration, an dem sich die Zukunft der Ampel zuallererst entscheiden wird.
7 In der Nachhaltigkeitspolitik lässt Weber die Kritik an der Ampel gelten, schwächt sie aber gleichzeitig mit dem Hinweis auf fehlende Selbstkritik gleich ab, auch wenn er letztlich zugesteht, dass hier die Führungsrolle der Regierung verfehlt wird. Nachhaltigkeit und Klimawandel sind nach dem missglückten Start des Gebäudeenergiegesetzes aus der Öffentlichkeit verschwunden – trotz immer sichtbarerer Folgen des Klimawandels und der Erderhitzung. Natürlich liegt hier eine große Verantwortung bei den Regierten, aber auch das muss von den Regierenden thematisiert werden. Dem „Grünen-Bashing“ ist durch den Kanzler (und die SPD) bis heute an keiner Stelle Einhalt geboten worden.
Bittere Erkenntnis
8 Ich weiß nicht, wie eine Politik, die im zentralen Thema der Asyl- und Migrationspolitik kein eigenes Konzept auf den Tisch legt; die bei der Ukrainepolitik Zaudern und Zögern vermittelt, deren Ursachen (einmal angenommen, es gibt gut begründete) nicht in Ansätzen vermittelt werden; die den Nachhaltigkeitsdiskurs unter den Tisch fallen lässt und kein Programm für Ostdeutschland hat – die Wiederwahl im Blick haben will. Ein sozialer Paukenschlag zeichnet sich ebenfalls nicht ab. Ein politisch durchgesetzter höherer Mindestlohn wird nicht noch einmal ziehen, sondern als Wahlkampfmanöver und nicht als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen werden. Die letzte Großtat sozialer Gerechtigkeit, das Bürgergeld, wird nicht (mehr) als solche wahrgenommen, auch weil die Regierung selbst ständig mit Nachbessern und Nachschärfen beschäftigt ist, auch mit den Aussagen des Kanzlers selbst. Damit wird der Gerechtigkeitsimpuls ins Gegenteil verkehrt und den Vermutungen eines ungerechten leistungslosen Einkommens zu Lasten aller Steuerzahler Nahrung gegeben.
9 Was immer der Kanzler im Blick haben mag, mit der Fortsetzung dieser Politik werden die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September zu katastrophalen Ergebnissen führen, auch wenn zuvor noch ein Bundeshaushalt für 2025 fristgerecht erstellt wird. Falls die Regierung nach den Wahlen mit der Haushaltsnotlage reagiert und die Schuldenbremse aussetzt, so wird sie erneut als Getriebene und nicht als verantwortlich Führende dastehen. Eine Wende wird damit nicht herbeizuführen sein. Am Ende bleibt die bittere Erkenntnis, und es fällt mir sehr schwer, sie so zu formulieren, dass nicht ein sozial-liberales und ökologisches Bündnis, sondern nur eine sehr konservative, aber zweifelsfrei demokratische Partei in der Lage ist, den Dammbruch für rechts-radikale und opportunistisch-populistische Kräfte zu verhindern.
Klaus Lang scheint am Ende auch dem Alterspessimismus zu verfallen: „nur eine sehr konservative, aber zweifelsfrei demokratische Partei in der Lage ist, den Dammbruch für rechts-radikale und opportunistisch-populistische Kräfte zu verhindern.“
Mir ist nicht klar, worauf er diese Annahme stützt. Amerikanische Republikaner, britische Tories, die österreichische ÖVP, die französischen Republikaner, die holländischen Konservativen, die skandinavischen Konservativen, sie alle haben als Schutzwall gegen Rechtsradikale versagt. Entweder sie haben selbst deren Programme übernommen oder sie über Koalitionen in die Regierung geholt und hoffähig gemacht. Bei den Konservativen scheint bei der Wahl zwischen „Macht und Demokratie“ die Präferenz eindeutig Macht zu sein.
Die Wahlen in Polen, Großbritannien, Mexico scheinen mir eher ein Argument zu sein, mit eigenen Ideen gegen Rechts zu mobilisieren, als auf etwas zu hoffen, was es, wenn es drauf ankommt, möglicherweise gar nicht gibt: sehr konservative, aber zweifelsfrei demokratische Parteien.“