Es fällt auf, dass es zum Substantiv Intelligenz in unserem Sprachgebrauch kein Verb gibt. Zweifellos ist damit eine Fähigkeit gemeint, die zunächst keine Hinweise auf die Intelligenz erzeugenden Handlungen gibt. Bei der Suche nach einem geeigneten Tätigkeitswort, das intelligentes Handeln kennzeichnen könnte, stoße ich auf eine ursprüngliche Bedeutung in der Philosophie der römischen Klassik: „Das Verb »intellegere« (inter-legere) bezeichnete die konkrete Handlung des Aussortierens.“ (Pastore 2010: 1120) Um etwas auszusortieren, braucht es zunächst Unterscheidungsvermögen, um die Zahl der Optionen zu vergrößern. Viele Auswahloptionen lassen auf einen kreativen Prozess der Kriterienfindung schließen und umgekehrt. Im anschließenden Entscheidungsprozess entscheiden wir uns dann zwar »für« eine Option, „aber sowohl im englischen »decision«, ebenso im Spanischen, Italienischen und Französischen, als auch im deutschen Wort Entscheidung liegt der Akzent hingegen auf Scheidung und Trennung“ (Arlt, Schulz 2019: VIII) und damit auf dem Aussortieren.
Politische Intelligenz
Die zum Aussortieren benötigten Optionen werden in der Demokratie als Meinungen unterschieden. Wie Meinungsvielfalt zu intelligenter Politik führt, beschreibt Jürgen Habermas: „Wer argumentiert, widerspricht. Nur über das Recht, ja die Ermutigung zum reziproken Neinsagen entfaltet sich das epistemische Potential der widerstreitenden Meinungen im Diskurs […]. Darin besteht ja der Witz deliberativer Politik: dass wir in politischen Auseinandersetzungen unsere Überzeugungen verbessern und der richtigen Lösung von Problemen näherkommen.“ (Habermas 2021:478)
Viele Politiker:innen möchten diesen Prozess lieber abkürzen und stellen ihre Positionen und Entscheidungen als alternativlos dar. Alternativlosigkeit zeugt meist nicht von politischer Intelligenz, mitunter von Dummheit. Auf Alternativlosigkeit zu beharren, spielt politischen Gegner:innen zudem meist in die Karten. Dass eine »Alternative« im Grunde auch alternativlos ist, lässt sich leicht am Singular ablesen.
Anlässe auszusortieren bzw. sich gegen etwas zu entscheiden gäbe es viele. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung unterscheidet 17 Entscheidungsbereiche zur Vermeidung des Kollaps, darunter Krieg, Armut, Hunger, ungesunde und umweltschädliche Lebensführung etc. Ganz konkret auf Intelligenz bezogen geht es um „den Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben“ (Marquard 1986:135)
Die Crux ist, dass die Weltgesellschaft einen bevorstehenden Kollaps zwar befürchtet, aber wenig Hoffnung besteht, dass sie bereit wäre, etwas radikal auszusortieren. Die meisten Versuche scheitern auch daran, dass gleich entschieden wird und damit der zweite Schritt vor dem ersten gemacht wird. Intelligenter wäre es, zunächst Optionen als Meinungen zu respektieren. Bekanntlich übernimmt die Evolution den Job des Aussortierens destruktiv und wenig zimperlich und generiert dabei unzählige Optionen.
Illusion der künstlichen Intelligenz
Für die empirische Erforschung der Intelligenz wurden Anfang des letzten Jahrhunderts Intelligenzquotienten entwickelt. Wir hatten uns an die Maßstäbe gewöhnt, sie ausprobiert, gestaunt, relativiert und sogar alternative Intelligenzbereiche des Sozialen und Emotionalen entdeckt.
Dann kam die narzisstische Kränkung und Provokation durch Alan Turings Erkenntnis, dass menschliches Denken durch Maschinen nachgestellt werden kann (Turing 1948). Dabei war die Verbindung der Wörter »künstlich« und »Intelligenz« durchaus berechtigt, handelt es sich doch im wahrsten Sinne des Wortes um eine Illusionskunst. Der berühmte Turing-Test soll die Frage beantworten, ob Computer denken können. Der Test wurde ursprünglich als Imitationsspiel entworfen. Dahinter stand die hypothetische Fragestellung, ob ein Computer so täuschend echt wie ein Mensch interagieren kann. Ich bin mir nicht sicher, ob für das Testkonzept auch schon die menschliche Fähigkeit zum Vortäuschen und Unaufrichtigsein mitgedacht wurde. Denn meistens wird übersehen, dass der Turing-Test ja ein Versuch für den Menschen ist, der dem getarnten Computer auf den Leim geht. Die Maschine bleibt eine Maschine, auch wenn sie den Test besteht. Man könnte das Ergebnis daher auch so interpretieren, dass der Mensch durchgefallen wäre, wenn der Computer den Test bestanden hätte.
Euphemistisch ließe sich der Turing-Test allerdings als eine menschliche Leistung begreifen, sich eine Intelligenz außerhalb der eigenen vorstellen zu können. Denn die Intelligenz ist für Menschen ein Grenzbereich aus dem Fauna, Flora, Funga und selbstverständlich Roboter und Maschinen rausgehalten werden. In Science-Fiction fasziniert dagegen die Vorstellung einer nichtmenschlichen Intelligenz, wie z.B. die Meeresintelligenz »Yrr« in Frank Schätzings Bestseller »Der Schwarm«.
Berufs- versus Schulkarrieren
Über die zukünftigen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz gibt es utopische und dystopische Ansichten. Bereits der Turing-Test weckt die Befürchtung, natürliche Intelligenz könne durch künstliche ersetzt werden, etwa so wie die Industrialisierung Arbeitskraft durch Maschinen ersetzte. Wir erfahren, dass KI-Anwendungen sehr gut darin sind, Optionen zu generieren. Dabei zeigt sich aber auch, dass der Mensch sehr erfolgreich die letzte Entscheidungsinstanz für die von der KI entwickelten Optionen spielt. Soll man deshalb die Intelligenz der Maschine infrage stellen? Nein! Der Physiker, Kybernetiker und Philosoph Heinz von Foerster schlägt sogar vor „»Die Intelligenz der Anderen« als prinzipiell unentscheidbare Fragen zu betrachten“ (von Foerster 1993:156).
Nach von Foersters Ansicht können wir nämlich nur diese Fragen entscheiden: „Only those questions that are in principle undecidable we can decide.“ (von Foerster 1992:14) Für entscheidbare Fragen gibt es festgelegte Rahmen, nach denen Entscheidungen als richtig oder falsch bzw. erfolgreich oder erfolglos bewertet werden. Entscheidbare Fragen sind trivial, weil ihr Ergebnis bereits feststeht. Unentscheidbare Fragen sind der Freiheit unterworfen, weil sie eine ungewisse Zukunft respektieren, die erst noch erfunden und nicht nur entdeckt werden muss. Dass etwas zu entdecken ist, unterstellt ja bereits die Existenz des noch zu Entdeckenden. Streng genommen werden daher Ostereier entdeckt und nicht gefunden!
Der Unterschied zwischen entscheidbaren und nicht entscheidbaren Fragen lässt sich leicht an der Trivialisierung unseres Bildungssystems nachvollziehen, dass ja auch auf Tests ausgerichtet ist, die vornehmlich die Unfähigkeit im Umgang mit längst entschiedenen Aufgaben attestieren. Vielleicht ist das ein Grund, warum Schulkarrieren immer weniger eine hinreichende Erklärung für Berufskarrieren sind.
Für die zukünftige Rollenverteilung von Mensch und KI wird es entscheidend sein, unentscheidbare Fragen zu finden und zu akzeptieren. Der Mensch entfremdet sich von seiner Intelligenz, wenn er keine prinzipiell unentscheidbaren Fragen mehr beantworten kann.
Literatur
Arlt, Hans-Jürgen & Schulz, Jürgen (2019). Die Entscheidung. Lösungen einer unlösbaren Aufgabe. Wiesbaden: Springer, S. VIII
Habermas, Jürgen (2021). Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. Leviathan, 49. Jg., Sonderband 37/2021, S. 470 – 500, S. 478
Marquard, Odo (1986). Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Reclam, S. 135
Pastore, Luigi (2010). Intelligenz. In H. J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie. Bd. 2., I – P (S. 1120 – 1126). Hamburg: Meiner
Turing, Alan M. (1948). »Intelligent Machinery«, in: N.P.L. Report (1948) und »Computing Machinery and Intelligence«, in Mind 59 (1950)
von Foerster, Heinz 1992. Ethics and second order cybernetics. Cybernetics and Human Knowing, 1(1), S. 9 – 20, S. 14, abrufbar: https://cepa.info/1742
von Foerster, Heinz (1993). KybernEthik. Berlin: Merve, S. 156
„Ein Beobachter schließt immer dann auf Intelligenz,
wenn er es mit einem Verhalten zu tun hat, das Entscheidungen zugerechnet werden kann, die Situationen der Unentscheidbarkeit auflösen.„
Dirk Baecker, Wozu Systeme? Kadmos 2002, S. 55