Wildwest im Ostend? Was Frankfurt mit der US-Wahl zu tun hat

Chris Krebs (Foto: United States Department of Homeland Security auf wikimedia commons)

Am Abend des 19. November 2020 glaubte Chris Krebs, Fachmann für IT-Sicherheit, „die gefährlichsten eindreiviertel Stunden Fernsehen in der amerikanischen Geschichte“ zu erleben, „und vielleicht die verrücktesten.“ Kurz zuvor hatte er noch die US-Behörde für Cyber- und Infrastruktursicherheit (CISA) geleitet und in dieser Funktion die Integrität der Wahlen vom 3.11.2020 überprüft, die von Joe Biden mit Kamala Harris als Vizepräsidentin gewonnen wurden. Krebs erklärte offiziell, die Wahlen seien aus der Sicht seiner Behörde ordnungsgemäß verlaufen und die Auszählungen fehlerfrei. Die Fälschungssicherheit digital gestützter Verfahren sei dadurch gewährleistet, dass jede einzelne Stimme in Papierform aufbewahrt werde und Prüfungen daher jederzeit durch händische Nachzählungen möglich seien. Stunden später wurde er vom noch amtierenden Präsidenten Donald Trump fristlos gefeuert.

Trump weigerte sich bekanntlich, das Wahlergebnis anzuerkennen. Bis zum heutigen Tag zieht er mit der Behauptung durch die Lande, die Wahl 2020 sei ihm gestohlen worden. Schlimmer noch, auch bei der jetzt anstehenden Wahl sät er schon vorher den Verdacht, sie könne von seinen Widersachern manipuliert werden. Nach Trumps Ansagen wäre ein Sieg von Kamala Harris gleichbedeutend mit einer Fälschung des Resultats. Für diesen Fall droht er mit bürgerkriegsartigen Gewaltausbrüchen, die er scheinheilig befürchtet, während er es doch selber ist, der seine Anhänger mit dunklen Andeutungen über einen Wahlbetrug aufstachelt. Um sich auf ein mögliches, sogar wahrscheinliches Chaos nach dem 5. November vorzubereiten, ist es hilfreich zu rekapitulieren, wie Trump vor vier Jahren versuchte, das Wahlergebnis zu revidieren. Ein Kommentar in der New York Times erkannte darin eine „Blaupause zur Abschaffung der Demokratie„.

In mehreren Angriffswellen versuchten Trump und seine Kampagne „Make America Great Again“ (MAGA) Ende 2020 die Auszählungen und Zertifizierungen der Wahl zugunsten des unterlegenen Kandidaten zu beeinflussen. Gleich am Wahlabend forderte Trump, die Stimmenzählungen abzubrechen, weil er sich im Vorteil wähnte und die Briefwahl-Ergebnisse fürchtete, die traditionell zugunsten der Demokratischen Partei ausfallen. Als nächstes zogen MAGA-Aktivisten in den sogenannten swing states, den umkämpften Bundesstaaten, vor die Büros, in denen die Stimmen gezählt wurden, um die Angestellten und Wahlhelfer einzuschüchtern. Verdächtige Beobachtungen sollten gemeldet werden, was zu absurden Behauptungen führte, beispielsweise dass Wahlscheine von Verstorbenen und in einer Gemeinde sogar von einem Hund eingereicht worden seien. Mit solchen „Beweisen“ zettelten die Anwälte von MAGA ungefähr 50 Anfechtungsklagen an, die allesamt von den Gerichten zurückgewiesen wurden. Doch den Medien und Internet-Plattformen lieferten sie immer neue Schlagzeilen, mit denen das Vertrauen in das amerikanische Wahlsystem erschüttert wurde.

Sensationelle Behauptungen über digitale Wahlfälschung

Dann folgte, was Chris Krebs dermaßen aufschreckte. Der ehemalige Bürgermeister von New York Rudy Giuliani, inzwischen persönlicher Anwalt von Trump und ein Sprachrohr von MAGA, gab zusammen mit seiner Kollegin Sidney Powell eine Pressekonferenz, in der die beiden Anwälte sensationelle Behauptungen über eine digitale Fälschung der Wahl in die Welt setzten. Diese Legende, die unter dem Titel „Scytl-Verschwörung“ in die Annalen einging, lautete wie folgt:

Die elektronisch erfassten Wahldaten seien in der Nacht vom 3. auf den 4. November 2020 auf Computer in Frankfurt transferiert worden. Dort seien sie Giuliani zufolge von dem spanischen IT-Dienstleister Scytl, der auf election technologies spezialisiert ist, bearbeitet worden, um die Ergebnisse zugunsten von Biden umzumodeln, bevor sie zurückgesendet wurden. Ein weiteres IT-Unternehmen, Dominion Voting Systems, Hersteller von Wahlmaschinen für mehrere US-Bundesstaaten, wurde von Powell beschuldigt, für Trump abgegebene Stimmen an Biden übertragen zu haben. Ähnliche Vorwürfe erhob wiederum Giuliani gegen ein drittes Unternehmen für digitale Wahltechnik, Smartmatic. Dominion und Smartmatic boten passende Angriffsflächen, weil zu ihren vielfältigen internationalen Kunden auch die Regierung von Venezuela gehörte.

Diese haarsträubenden Geschichten wurden von den Trump-nahen Medien, allen voran Fox News, begierig aufgegriffen, verbreitet und mit neuen Details angereichert. Das gab den MAGA-Aktivisten das Gefühl, im Recht zu sein; folglich verdoppelten sie ihre Anstrengungen, vermeintliche Verräter in den lokalen Ämtern ausfindig zu machen und anzuprangern.

Weil der Boulevard täglich neue, immer dramatischere Enthüllungen braucht, um eine Story am Laufen zu halten, lieferten MAGA-Leute, so der texanische Kongressabgeordnete Louie Gohmert oder der pensionierte Luftwaffengeneral Thomas McInerney, hemmungslos nach. Eine Trump gegenüber loyale Einheit der Special Operation Forces sei in Frankfurt gelandet, um die Server der Firma Scytl zu beschlagnahmen. Dabei sei es zu einer Schießerei mit fünf Toten gekommen. Dennoch sei der Einsatz von Erfolg gekrönt gewesen. Die Rechner befänden sich nun in den richtigen Händen und könnten ausgewertet werden, der definitive Beweis für die Wahlfälschung werde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Allerdings ist er vier Jahre später immer noch nicht erbracht. Solche Geschichten ließen sich prima über die Kommunikationsnetze des Internets verbreiten.

Internetknoten Frankfurt am Main: In der Banken- und Eurometropole ist zur Zeit der größte Internetknoten des Planeten angesiedelt.

Fahrradtour ins Ostend: keine besonderen Vorkommnisse

In der damaligen angespannten Situation, über die in der Frankfurter Presse freilich nichts zu erfahren war, nahm sich der Autor dieser Zeilen ein Herz, bestieg sein Fahrrad und begab sich auf die gefahrvolle Tour ins Frankfurter Ostend, wo nahe der Kaiserlei-Brücke Serverfarmen wie Pilze aus dem Boden schießen, um die Situation vor Ort in Augenschein zu nehmen. Ergebnis: keine aufgebrochenen Eingänge, keine frischen Einschusslöcher, keine Patronenhülsen am Boden, kein eingetrocknetes Blut, keine Reifenspuren von davonbrausenden Military SUV’s. Vielleicht waren sie per Hubschrauber gekommen, sodass sich alle Spuren auf den Dächern befanden? Also beim nächsten Kiosk nachfragen: Gestern oder vorgestern besonders laut gewesen? Flugzeug- oder Motorenlärm, Schüsse, rennende Soldaten auf der Straße, laute Kommandos auf Englisch? Nein, nichts dergleichen, keine besonderen Vorkommnisse.

Kurz darauf korrigierten die Verschwörungserzähler, die Schießerei habe weiter nördlich im Frankfurter US-Konsulat stattgefunden, wo die Eingreiftruppe mit dort stationierten CIA-Leuten gekämpft habe. Warum ein spanisches Privatunternehmen seine Server in eine US-Einrichtung verlegen sollte, blieb offen. Ein britisch-deutscher Blogger aus Aschaffenburg setzte sich humorvoll und mit viel Liebe zum Detail mit dieser Variante der Erzählung auseinander.

Das Gebäude des früheren Neckermann Versands (hinten) wird zur Serverfarm umgebaut |  Interxions Frankfurter Rechenzentren gehören zu Europas größten Datenschaltstellen. (Fotos: © Detlef zum Winkel)

Von der Frankfurter Räuberpistole blieb nichts übrig

Scytl erklärte, sein Frankfurter Büro schon 2019 geschlossen zu haben und keine Server mehr in Deutschland zu unterhalten. Im Übrigen sei das Unternehmen weder am Wahlvorgang noch an den Auszählungen beteiligt gewesen, weil es dafür gar keine Produkte besitze. Seine Tätigkeit bestehe lediglich in der Aufbereitung der sukzessiv in der Wahlnacht eintreffenden Daten für die Fernsehnachrichten. Dominion und Smartmatic klagten wegen Verleumdung vor Gericht und erhoben milliardenschwere Schadensersatzforderungen gegen Fox News, Giuliani, Powell und andere, die sie im Wesentlichen auch durchsetzen konnten.

In den USA hatten die wilden Verdächtigungen tatsächlich zur Folge, dass die Auszählungen in zwei swing states, Georgia und Wisconsin, händisch wiederholt wurden. Das Ergebnis bestätigte Chris Krebs; es gab nur minimale Abweichungen und die konnten nicht auf die digitale Technik zurückgeführt werden. Donald Trump ließ sich davon nicht beeindrucken. Er feuerte seinen Verteidigungsminister Mark Esper sowie dessen zivile Berater im Pentagon und nötigte seinen Justizminister William Barr zum Rücktritt. Dafür begnadigte er seine straffällig gewordenen Mitstreiter Paul Manafort (Vermögensdelikte), Michael Flynn (verheimlichte Russland-Kontakte) und Steve Bannon (Unterschlagung), die er unverzüglich in Schlüsselpositionen der MAGA-Kampagne einsetzte.

Der Schlussakt dieses versuchten Staatsstreichs, wie viele und bedeutende Kommentatoren schrieben, bestand darin, Amtsträger und Abgeordnete der Republikanischen Partei massiv unter Druck zu setzen, damit sie die in den Bundesstaaten ermittelten Wahlergebnisse nicht anerkennen oder im Nachhinein korrigieren. Gleichzeitig mobilisierte MAGA zu einer Kundgebung am 6. Januar in Washington. Der Rest ist bekannt.

Von Giulianis Frankfurter Räuberpistole ist buchstäblich nichts übriggeblieben – außer einem Umstand, der möglicherweise die Phantasien der Verschwörungserzähler beflügelt hat. Am Abend des 3. November 2020 (Lokalzeit) soll der Datendurchsatz am Internetknoten im Frankfurter Ostend einen neuen Rekord erreicht haben, d.h. dass die bisherigen Spitzenwerte an diesem Gateway, das zu den größten der Welt gehört, übertroffen wurden. Das seien bestimmt die Wahldaten gewesen, dachten in ihrer ständigen Sorge um die Größe Amerikas Sidney Powell und einige ultrarechte Herren, die sich einen Anschein von IT-Wissen geben wollten. Doch bei dem Datenvolumen, das von DE-CIX als Betreiber des Knotens aufgezeichnet wurde, hätten selbst 100 Millionen Datensätze elektronisch erfasster Stimmen keine besondere Rolle gespielt. Inzwischen erreicht der Datenverkehr bei DE-CIX noch deutlich höhere Rekorde, ganz ohne Wahlen in den USA. Aber wer weiß, vielleicht gibt es am 5. November wieder einen Rekord.

Wer zu spät kam, geht nach Offenbach oder Hanau

Was passiert da eigentlich in Frankfurt am Main? Eine Ahnung vermitteln Mitteilungen, mit denen das hessische Ministerium für Digitalisierung und Innovation Standortwerbung macht. Demnach erwirtschaftete die hessische IKT-Branche (Informations- und Kommunikationstechnik) im vergangenen Jahr mit fast 130.000 Beschäftigten in über 10.000 Unternehmen ca. 41 Milliarden Euro Umsatz. Das seien mehr Beschäftigte als im Fahrzeug- und Maschinenbau zusammen, bei steigender Tendenz. Stolz gibt das Ministerium bekannt, dass sogenannte Tech-Riesen weitere 10 Milliarden Euro in Rechenzentren und Fachkräfte des Rhein-Main-Gebiets investieren wollten. Beim genaueren Hinsehen handelt es sich im Wesentlichen um den Amazon-Konzern, von dem allein 8,8 Milliarden kommen sollen.

Braucht FKK mainhatten („Saunaclub-Erotik-Bordell“) ein so großes Rechenzentrum, das hier seine Rückseite zeigt? (Foto: ©Detlef zum Winkel)

Bei dieser Ballung von Rechenzentren geht es nicht um Fulda, Bensheim, Limburg oder Kassel. Vielmehr findet sie aus Effizienz- und Kostengründen in möglichst naher Umgebung des bereits erwähnten Internetknotens statt, also im Frankfurter Ostend. Hier haben die Tech-Riesen ein ganzes Viertel aufgekauft, um in Windeseile ihre hässlichen fensterlosen Gebäude zu errichten, in denen zehntausende von Servern aufgestellt sind, deren Abwärme in 24×7 Schichten, also pausenlos, in den Frankfurter Himmel geblasen wird. Wer zu spät kam, um hier Flächen zu erwerben, geht nach Offenbach oder Hanau.

In der Tat sieht es so aus, dass die globalen IT-Player wie Amazon, Alphabet (Google), Meta (Facebook, Whatsapp), Microsoft, Apple oder X Corp. von Elon Musk (die ehemalige Twitter-Plattform) ihre unfassbaren Datenmengen, die sie anfangs ausschließlich in den USA gespeichert haben, nun auch in Europa ablegen. Dazu sind sie nach europäischem Recht sogar verpflichtet: Personenbezogene Daten von EU-Bürgern dürfen nicht außerhalb der Europäischen Union gespeichert werden. Hinzu kommen die Auto-bezogenen Daten. Mit dieser Regel, die vermeintlich dem Datenschutz dient, hat sich die EU wahrscheinlich ins eigene Knie geschossen. Heutzutage ist nicht mehr relevant, wo die Daten gespeichert werden, sondern dass sie überhaupt erfasst werden.

Zurück zum Wahltag in den USA. Sollten die Verschwörungs-Spezies von MAGA ein weiteres Mal Legenden über das böse Frankfurt erfinden, hätte das immerhin den Vorteil, dass die Öffentlichkeit ein neues Feature der Stadt am Main wahrnehmen würde: Frankfurt ist nicht nur die Stadt der Banken, des Flughafens und der Dauerbaustellen, sondern auch eine Stadt der Daten. Das birgt Chancen: Nach einer Enteignung der Tech-Riesen, die leicht zu begründen wäre, bräuchte man nicht von Null anzufangen, wenn man beispielsweise eine europäische Suchmaschine entwickeln wollte. Die Datenbasis wäre schon vorhanden.

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

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