Gefesselt, mit Haut und Haaren einverleibt oder Ohne Abstand kein Anstand

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Kennen Sie das noch? Vor nicht allzu langer Zeit sind die meisten von uns (ich bin Österreicher) pünktlich um 19:30 Uhr vor dem Fernsehgerät gesessen (mit „sicherem“ Abstand zum Bildschirm, meist auf dem Sofa oder einem gemütlichen Stuhl) und haben uns an einem Ort (im Wohnzimmer) zur gleichen Zeit (um halb acht) mit derselben massenmedialen Hintergrundrealität (den „Nachrichten“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks) versorgen lassen. Dort hat uns lange Zeit Hugo Portisch „die Welt“ erklärt – und wir sind dieser „Instanz“ andächtig gefolgt und haben das Gesagte nicht weiter hinterfragt (da lag ein Latenzschutz drüber, das war außerdem ganz schön „wissenschaftlich“, also wahr – und zudem verständlich). Ein wenig systemischer vielleicht? Ok.

Das gesellschaftliche Subsystem der Massenmedien ist mit sämtlichen gesellschaftlichen Subsystemen strukturell gekoppelt und erzeugt eine eigene Realität, die Hintergrundrealität genannt werden kann. Wofür ist das Subsystem „Massenmedien“ die Lösung? Für das Problem, dass die moderne Gesellschaft sich funktional in verschiedene Subsysteme ausdifferenziert hat und es seitdem keine übergeordnete „Ordnungsmacht“ mehr gibt (außer im Kriegsfall oder vielleicht im Anfangsstadium einer Pandemie). Dem Subsystem der Massenmedien nun ist es gelungen, die gesellschaftsgefährdende Partikularisierung, also das Auseinanderfallen der Gesellschaft, zu verhindern. Wie? Indem es operativ eine verbindliche Hintergrundrealität erzeugt hat – nach dem Kodex „aktuell/nicht aktuell“. Diese Hintergrundaktualität hat die Wahrnehmung in der Gesellschaft mit einem ausdifferenzierten System der daueraktiven Massenmedien überformt. Und ja: Auf ebendiese Hintergrundaktualität haben sich die einzelnen Subsysteme geeinigt – Massenmedien haben die Orientierung in der modernen Gesellschaft gesichert.

Aus dem Leben von Zwergkängurus

Und ganz egal, wie aufgeregt, nervös, genervt wir waren. Kaum auf dem Sofa, kaum 19:30 Uhr, in sicherer Distanz zum Schirm, kaum war die Signation verklungen – haben wir uns alle beruhigt, konzentriert, in Richtung des Fernsehgeräts geschaut, neugierig alles aufgenommen, was uns da – von ehemals elitären Repräsentanten, den „Meinungsmachern“, den „Torwächtern“, den „Priestern der Meinung“ vorselektiert, geboten wurde. Und wir haben gewusst: Dem Nachbarn geht’s jetzt genauso. Die Funktion einer solchen Wahrnehmungssynchronisation für den Erhalt des sozialen Friedens ist nicht zu unterschätzen.

Foto: Benjamint444 auf wikimedia commons

Der Systemtheoretiker Dirk Baecker hat diesbezüglich einmal aus dem Leben der Zwergkängurus berichtet. Wenn einige Exemplare zusammenkommen, dann geraten sie schnell aneinander, weil ihre Gliedmaßen derart unruhig sind, dass sie einander damit zunächst ohne Absicht treten, sich anschließend boxen und sich wechselseitig immer mehr in Richtung Massenschlägerei eskalieren. Bevor es aber richtig ernst wird, lässt sich Folgendes beobachten: Einigermaßen erschöpft setzt sich ein Känguru hin und schaut auf einen Punkt am Horizont. Nacheinander setzen sie sich hin, schauen aber nicht den Nachbarn an, nein, sie sehen alle in dieselbe Richtung, fixieren diesen einen Punkt am Horizont. Daraufhin beruhigen sie sich und „gehen“ nach einer Weile wieder friedlich ihrer Wege.

Sie erinnern sich: Im Wohnzimmer, zur selben Zeit, in Distanz zum Bildschirm, im festen Rhythmus dasselbe sehen, im Wissen darum, dass auch der Nachbar gewissermaßen in die gleiche Richtung schaut, ruhig werden und eine vorselektierte unhinterfragte Realität teilen.

Erosion der Deutungshoheit öffentlicher Medien

Warum ich bis hier in der Vergangenheitsform geschrieben habe? Nun, die oben beschriebene geteilte Hintergrundrealität ist im Schwinden begriffen, es kommt mehr und mehr zur Erosion der Deutungshoheit öffentlicher Medien. Was passiert gerade? Das System der Massenmedien wird durch die sogenannten „sozialen“ Medien massiv unter Druck gesetzt. Diese erheben den Anspruch, zu definieren, was in der Gesellschaft gerade aktuell ist und setzen dabei darauf, angeblich ungefiltert authentisch zu sein. Somit greifen sie die Exklusivität des Systems der Massenmedien hinsichtlich seiner Funktion an.

Wie schaffen soziale Medien das? Deren separierte Meinungs- und Gesinnungsräume befördern und verstärken die Aufspaltung des ehemals gemeinsamen Kommunikationsraums der gesellschaftlichen Subsysteme und sind ein Turbo für die Immunisierung gegen die Aufklärungsangebote der Massenmedien. Elektronische Medien wie das Radio oder das Fernsehen versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln.

Ich werde in der Folge nur einige wenige Punkte ganz kurz thematisieren. Sollten Sie sich in dieses Thema vertiefen wollen, so darf ich Ihnen gleich an dieser Stelle drei Bücher empfehlen, nämlich:

  • Matthias Eckoldt: Kritik der digitalen Unvernunft – warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt; Carl-Auer Verlag, 1. Auflage 2022;
  • Byung-Chul Han: Im Schwarm – Ansichten des Digitalen; Verlag Matthes & Seitz, 6. Auflage 2023; sowie
  • Peter Reichl: Homo cyber – Ein Bericht aus Digitalien; Verlag müry salzmann, 2. Auflage 2024.

Distanz- und Respektlosigkeit

Wesentlich erscheint mir zunächst, dass digitale Medien die Distanz abschaffen. Jede Technik ist zugleich ein Medium, weil sie die sensomotorische Kompetenz des Menschen vergrößert. Die im Internet vollendete elektrische Schaltungstechnik aber erweitert sogar unser Zentralnervensystem. Dessen – evolutionär erfolgreiche – Idee war allerdings, im Inneren eine Instanz zu schaffen, die den Körper als Außenwelt erfährt. Das Zentralnervensystem bildet nämlich den gesamten Körper auf der Großhirnrinde ab. Im Inneren des Körpers ist das Äußere desselben präsent. Und umgekehrt. Das Zentralnervensystem ist zugleich außen und tastet den Körper ab, den es reflektiert. Das Zentralnervensystem überzieht also die gesamte moderne, elektronisch mediatisierte Welt. Elektronische Medien erfassen die Grundstruktur menschlicher Wahrnehmung selbst. Es wird demnach der ganze Mensch ins digitale Mediensystem verstrickt. Wir sind gefesselt, mit Haut und Haaren einverleibt. Auge und Ohr erfahren in den digitalen Medien eine narzisstische Selbsterregung, es ist eine Sucht, aus der es kaum ein Entrinnen gibt. Wir sind dauererregt und nervös. Da ist nichts mehr mit Sofa, Distanz zum Bildschirm, Beruhigung – wir surfen mit Leib und Seele, hyperaktiv im parallelen Hyperlink-Universum, und sind dabei ganz allein, verzückt von uns selbst.

Zudem – ein ganz anderes Schlaglicht: Respekt setzt einen distanzierten Blick voraus, also Distanz. Respekt bildet den Grundstein für Öffentlichkeit und diese setzt ein respektgeleitetes Wegsehen vom Privaten voraus. Ohne Ab-Stand ist auch kein An-Stand möglich – und auch der Ver-Stand setzt einen distanzierten Blick voraus. Digitale Medien bauen Distanzen ab, auch durch Entmediatisierungen. Der Abbau räumlicher Distanzen geht mit der Erosion mentaler Distanzen einher.

Anonyme Anerkennung und kognitive Dissonanz

In sozialen Medien sind Trolle unterwegs und streuen Desinformationskampagnen, bevölkern Echokammern, die wiederum „alternative“ Wahrheiten wiederhallen lassen. In diesen „Räumen der Gleichgesinnten“ werden „Likes“ gesammelt, gibt sich der homo digitalis mit anonymer Anerkennung zufrieden, mit Fastfood, das nicht satt macht, aber süchtig. Dort wird Unruhe erzeugt und durch Algorithmen noch eskaliert – je radikaler ein „Post“, umso erfolgreicher (er wird öfter geteilt und/oder erhält mehr Likes). Soziale Medien sind Durchlauferhitzer der Empörung, Affektmedien, welche die Nutzer von der sinnlich erfahrbaren „ersten“ Realität abschirmen. Umso größer der Schock des „Auftauchens“, des Konfrontiertwerdens mit derselben.

Ein Fall kognitiver Dissonanz: Des Kaisers neue Kleider
(Wladimir Scheljapin auf wikipedia)

Und was dann? Naja, wie geht denn die menschliche Psyche üblicherweise mit Differenzerfahrungen um? Solche kognitiven Dissonanzen sind belastend und das psychische System ist bemüht, sie auszulöschen oder zu reduzieren, also diese Erfahrungen zu ignorieren und zu verdrängen. Verstrickt mit der vereinnahmenden digitalen Welt werden die Repräsentanten der ersten Realität (etwa Wissenschaftler, Massenmedien, usw.) ignoriert, entwertet und verleumdet. Einer unendlichen Zahl von „Mein-ungen“ stehen kaum mehr „Unser-ungen“ gegenüber – und dann gibt es eben keinen menschengemachten Klimwandel, und damit basta. Und andere Menschen? Die zunehmende Narzissifizierung der Wahrnehmung bringt den Blick, den Anderen zum Verschwinden. Wenn ich meine Sicht der Welt für allgemein verbindlich halte (bei all dem Applaus, den ich bekommen habe, muss das ja wohl so sein), dann ist ein Zusammentreffen mit Menschen mit anderen Auffassungen ein Schock, eine Zumutung. Da ist sie wieder, die kognitive Dissonanz, die reduziert gehört – Meideverhalten ist angesagt.

Algorithmen und Vernunft

Algorithmen dienen einem Ziel: Die Nutzer sollen möglichst lange auf Facebook, Instagram, Youtube, usw. bleiben. Sie sind adaptiv, soll heißen, sie verändern ihr Verhalten immer ein wenig und evaluieren zugleich die Reaktion der Nutzerin. Die Möglichkeit zur Bildung von Gruppen verlängert die Verweildauer des Nutzers. Dort bekommt man digitalen Applaus und kaum bis gar keine Widerrede – es ertönt das, meist verstärkte, Echo der eigenen Meinung. Da gibt es dann keine offene Debatte mehr, im Gesinnungsmedium lärmt es aber trotzdem deshalb so richtig, weil die davon ausgeschlossenen „Feinde“ nach Strich und Faden „fertig gemacht“ werden. Zudem sind die ja kaum sinnlich wahrnehmbar. Sie sind Folien, die hemmungslos mit Diffamierungen und „shit storms“ überzogen werden können.

Algorithmen kennen weder Vernunft noch Unvernunft, sie kennen nur Avernunft, sie bewerten Daten im außermoralischen Sinne. Soziale Medien haben ein Ziel: Profitmaximierung in Zeiten des digitalen Datenkapitalismus. Dafür ist jedes Mittel recht: Die Dauer der Sehzeit hat mittlerweile die Klickzahl als wesentliche Größe abgelöst. Die Verstrickung des Menschen muss also intensiviert werden. Wie das geht? Mit Gruppen, mit Einladungen zu anderen ähnlichen Gruppen, mit immer extremeren Inhalten, mit Lügen und Verschwörungserzählungen, mit weiteren Dopaminkicks.

Repräsentative Demokratie in Bedrängnis

Soziale Medien stellen den Egoismus über das Gemeinwohl. Es steht nicht das gute Miteinander im Mittelpunkt, sondern die narzisstische Autoerotik. Sie gefährden die Demokratie und sie gefährden unsere und die Zukunft unserer Kinder. Der zunehmende Entmediatisierungsdruck erfasst auch die Politik und bringt die repräsentative Demokratie in Bedrängnis: Die politischen Repräsentantinnen erscheinen als Barrieren, der zunehmende Präsenzzwang, der durch die digitalen Medien erzeugt wird, bedroht allgemein das Prinzip der Repräsentation. Es wird mehr Partizipation verlangt, mehr Transparenz. Doch Repräsentation wirkt wie ein Filter, der positive Effekte erzeugt. Totale Transparenz wiederum nimmt der Politik die erforderlichen geschützten Räume der Entschleunigung, wo etwas in Stille gedacht werden und vielleicht auch in der Folge etwas gewagt werden kann. Das Diktat der totalen Transparenz hingegen erzeugt einen starken Zwang zum Konformismus, zur Wiederholung des Gleichen.

Es geht, mit Hannah Arendt, darum, zu handeln, eine neue Welt beginnen zu lassen. Der Mensch muss wieder die Lufthoheit über seine Existenz erringen. Ansonsten wird die Regression der Masse in die Unmündigkeit erfolgen, denn soziale Medien organisieren den jugendlichen Nihilismus und die Infantilisierung der Erwachsenen und führen zum Ende der Aufklärung. Die massive Regulierung von sozialen Medien ist dringend geboten, solange sich dafür noch politische Mehrheiten finden. Diese Forderung muss so lautstark erschallen, dass sich Politik dazu verhalten muss – derzeit ist es noch viel zu ruhig.

Unter dem Titel „Von Zwergkängurus und Medien: Ein paar Anmerkungen zu ‚einst und jetzt‘ aus (vor allem) systemtheoretischer Sicht“ steht der Beitrag auch auf Tom Hansmanns Blog.

Tom Hansmann
Tom Hansmann ist Jurist, Systemiker, Coach, Supervisor & Mediator; Managementtrainer, Organisationsberater (insb. systemische OE) und Universitätslehrer; langjährige Erfahrung in Führungsfunktionen, diverse Fachpublikationen. Seit einigen Jahren hauptberuflich als Umweltexperte tätig.

1 Kommentar

  1. Der Analyse stimme ich weitgehend zu. Insbesondere die Forderung nach Regulierung kann nicht laut genug unterstützt werden. Die Hoffnung, allein auf Regulierung zu setzen, greift aber zu kurz. So gesehen finde ich es schade, dass die Geschichte „nicht zu Ende erzählt wurde“. Denn, statt sich den „Sozialen Medien“ kraftvoll entgegenzustellen, geht der Trend eher in die andere Richtung. Fast alle Medien, egal ob Print, Rundfunk oder Fernsehen, die sich mit Vermittlung von Politik im weitesten Sinne beschäftigen, passen sich den schlechten Beispielen, mit denen die „Sozialen Medien“ agieren, an. Da geht Geschwindigkeit vor Sorgfalt, da geht die Quote vor Seriosität, da geht im Zweifel eigene Weltanschauung vor journalistischer Zurückhaltung.
    Zwei Beispiel aus der aktuellen Berichterstattung (SPD Kanzlerkandidat, Telefonat von Scholz mit Putin) sollen belegen, was ich meine.
    SPD Kanzlerkandidat: Es ist sicher das gute Recht, auch das von Journalistinnen und Journalisten, sich die Frage zu stellen, ob Olaf Scholz der richtige SPD Kanzlerkandidat im bevorstehenden Bundestagswahlkampf ist. Auch gegen einen als Kommentar gekennzeichneten Beitrag zu dieser Frage ist nichts einzuwenden. Wenn aber seit Tagen quer durch alle Medien mit zweifelhaften „Stimmen von der Basis“ und unter Berufung auf sozialdemokratische „B-Promis“ und „Politikveteranen“ der Versuch unternommen wird, Scholz zu beschädigen und Pistorius gegen ihn in Stellung zu bringen, dann hat dies mit seriösem Journalismus nichts mehr zu tun. Da verlassen Journalisten ihre Chronistenpflicht und werden dabei gewollt? zu politischen Akteuren. Das wiederum führt dazu, dass sich deren Glaubwürdigkeit mit rasender Geschwindigkeit auf das Niveau der „Sozialen Medien“ zubewegt.

    Telefonat Scholz mit Putin: Auch hier gilt, man kann das Telefonat für falsch oder für richtig erachten. Das weltanschaulich geprägte Trommelfeuer für oder gegen diese Position kann man aber getrost den „Sozialen Medien“ überlassen. Das Gegenteil ist allerdings zu beobachten. Da wird Scholz, wie vielfach geschehen, unterstellt, dass Wahlkampfmotive ihn zu diesem Schritt bewogen haben. Das ist schon grenzwertig. Perfide wird es allerdings zu unterstellen, dass die grausamen Luftangriffe Russlands auf zivile Ziele in der Ukraine in den letzten Tagen eine direkte Folge des geführten Telefonats wären. Auch wenn es schwerfällt: Es ist nicht die Aufgabe von seriösem Journalismus im Für und Wider von Waffenlieferung versus Diplomatie (was ja gar kein Gegensatz sein muss) einseitig Partei zu ergreifen und gar die moralische Keule zu schwingen. Mir genügt es völlig, wenn darüber berichtet und mir die Entscheidung überlassen wird, wie ich das einordne.

    Wenn sich die „seriösen Medien“ auf den Weg zurück machten zu den journalistischen Prinzipien von z. B. Hans-Joachim Friederichs („Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“), dann ließe sich die von Tom Hansmann beschriebene Gefahr auch wieder bannen.

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