
Friederike Nadig, genannt „Frieda“ war Sozialfürsorgerin. 1935 haben die Nazis sie aus ihrem Beruf entfernt, sie arbeitete von 1937 bis 1945 auf dem Gesundheitsamt Ahrweiler. Sie unterstützte Elisabeth Selbert erfolgreich im Parlamentarischen Rat zu Bonn. Mit der Forderung nach gleichem Lohn und Gleichheit für uneheliche Kinder scheiterte sie in Bonn. Später gehörte sie als SPD-Abgeordnete dem Bundestag an. 1970 ist sie verstorben. In Bonn-Röttgen ist eine Straße nach ihr benannt.
In der eben erschienenen Anthologie des Elsinor Verlags „Bonner Bogen„, herausgegeben von Harald Gesterkamp und Monika Littau, habe ich eine Geschichte über sie geschrieben. Bis auf Bonn und die Ahr und „Frieda“ Nadig sowie deren Lebensweg ist diese Geschichte Fiktion.
1
Die Dörfer an der Ahr waren kleine Welten für sich. Abgelegen, still und nach Sonnenuntergang dunkel. Jacob lebt seit seiner Geburt 1930 in einem der Dörfer. Leicht ist sein Leben dort nicht. Seine Familie hat ihn zwar wie einen eigenen Sohn angenommen. Im Dorf nennt man den Jungen jedoch „Bastard“.
Jacobs leibliche Mutter war in Remagen in Stellung. In der fremden Stadt ist sie mit sich, ihren Enttäuschungen, Wünschen, Sehnsüchten zu oft völlig allein. An einem ihrer seltenen freien Tage wird sie von einer zufälligen Bekanntschaft geschwängert, in die sie sich verguckt hatte. Die Frau des Hauses macht kurzen Prozess: Sie sei „wie eine läufige Hündin“. Sie verliert ihre Stellung. Die junge Frau klopft nach der Geburt vergeblich bei ihren Eltern an. Deren Abneigung gegen eine Tochter mit einem unehelichen Kind ist stärker als die Bindung an Kind und Enkel.
Jacobs Mutter bittet in ihrer Verzweiflung die Schwester, ihr beizustehen. Da deren Tochter auszieht, könnte sie auf einem Zimmerchen unterkommen. Die Schwester und deren Mann beraten sich. Der Vater sagt: „Komm zu uns. Der Junge muss doch ein Zuhause haben.“ Sie sind anständige Leute.
Mit der Zeit zeigt sich, dass Jacobs Mutter der Ausgrenzung im Dorf nicht gewachsen ist. Der Pfarrer meidet vom Zeitpunkt ihres Einzugs das Haus der Familie Thelen. Er wettert zwar nicht von der Kanzel herab; er spricht jedoch von Leuten im Dorf, die nicht willkommen seien. Es gibt Männer im Ort, die anzüglich werden; die ihre Finger nicht bei sich behalten können. Man kann es ja mal versuchen. Die junge Frau wehrt sich. Auch das kommt nicht gut an. Nicht mal unter den Frauen der Greifer. Daher bleibt sie daheim, sie verlässt das Haus fast nicht mehr. Auf den Dörfern ist es zu jener Zeit so: Da wenig geschieht, steckt das wenige, das passiert, tief in den Köpfen. Wie in einer zugekorkten Flasche.
Eines Tages ist Jacobs Mutter spurlos und ohne ihr Kind verschwunden. Ihre Schwester fragt im Dorf nach. Sie reist zu ihren Eltern, fragt ob Klara, so heißt die Verschwundene, sich bei ihnen gemeldet habe. Die verneinen. Die Mutter der beiden Frauen schimpft; der Vater weint. Die Polizei weiß nichts. Eine Vermisstenanzeige bleibt ergebnislos. Klara bleibt verschollen. Später adoptieren die Eheleute den Jungen.
Oft ist Schmalhans Küchenmeister der Familie. Der Vater verdient als Arbeiter wenig. Die Mutter kümmert sich um Haus und Hof. Jacob und zwei seiner Brüder besuchen die Volksschule. Er verdient sich etwas Geld, wenn er im Herbst Kühe und Ziegen hütet.
Jahre später erkrankt der Vater in der Lunge. Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes im Kreis sorgt dafür, dass er ins Krankenhaus eingeliefert wird. Sie beschafft auch ein wenig Geld, damit die Familie nicht ins Hungern kommt. Jacob beobachtet die Frau. Er wundert sich, weil ansonsten stets Männer die Dinge regeln.
Jahre später begegnet Jacob der Frau ein zweites Mal. In der Nachbarschaft wohnt eine ältere Frau, die sich manchmal etwas merkwürdig verhält. Sie wischt mit einer Hand etwas vor dem Gesicht weg, das nur sie sieht. Sie kann sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen, erhält Unterstützung durch die Caritas. Sie ist Leuten ein Dorn im Auge, weil sie in deren Vorstellungen von der neuen Zeit nach 1933 nicht passt. Sie sei eine „unnütze Fresserin“, sagen die, eine „Verrückte“. Als gefordert wird, dass man diese Frau wegschaffe, informiert Jacobs Vater die Frau vom Gesundheitsamt.
Wie Jacobs Vater erzählt, hat die Frau vom Gesundheitsamt dem Vorsteher im Ort erklärt, ihrer Ansicht nach sei die alte Frau völlig harmlos. Sie sei bei gutem Zureden auch noch zu bestimmten Arbeiten im Ort zu gebrauchen. Der Junge steht Tage später an der Straße, als die Frau vom Gesundheitsamt vorbei geht. Er nimmt die Mütze vom Kopf, grüßt. Sie grüßt zurück, tritt näher, schaut ihn aufmerksam an. „Du bist der jüngste der Thelens-Jungen“, sagt sie, „der Jacob. Ist deine Mutter da?“
Jacob fühlt sich ein wenig unwohl, weil er von der resoluten Frau angesprochen wird. Seine Mutter kommt hinzu. Sie sagt ihrem Sohn: „Lass uns einen Augenblick allein. Ich will etwas bereden.“
2
Im Spätsommer 1948 verlässt Jacob das Dorf, er fährt mit der Bahn nach Bonn. Bruder Kaspar ist aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Hermann-Josef übersteht Flak-Helfer-Monate unverletzt. Die Schwester kehrt der zerstörten Stadt Köln den Rücken. Der Vater kommt zwei Jahre nach Kriegsende aus der Gefangenschaft zurück. Alles und jedes hängt an seiner Mutter. Jacob ist ein magerer Kerl. Ruhige blau- graue Augen, schmale Schultern. Er trägt einen umgearbeiteten Anzug seines vermissten Bruders.
Neben der Bahn und in Bonn sind Folgen des Kriegs gegenwärtig. Zerbombte Häuser, geschwärzte Mauerreste, zugeschüttete Keller, an einigen Stellen türmt sich noch Schutt. An anderen Stellen wird bereits wieder aufgebaut. Auf dem Bonner Münsterplatz ist die Beethoven-Statue inmitten der Zerstörung heil geblieben. Im Dorf erfüllte Unruhe den Jungen, weil sich da nichts tat. In Bonn legt sich eine Art Fiebrigkeit über ihn. Er staunt über die Straßenbahn, er lernt, Entgegenkommenden auszuweichen. Er steht staunend vor einem Kiosk mit seinen vielen Zeitungen. Er beobachtet und nimmt unentwegt auf.
Mit einer Empfehlung des Lehrers seines Dorfes in der Tasche kommt er in Bonn voran. Dem Lehrer fiel der aufgeweckte Junge auf. Er behält ihn im Auge. Jacob stellt sich vor, er wird eingestellt, er soll Botendienste und sonstige Aufgaben für den Parlamentarischen Rat erledigen. Er zeigt dem prüfenden Staatsdiener auf dessen Wunsch auch seine sauberen Hände und kurz gehaltenen Fingernägel vor. Er wird sogar eingekleidet. Mit einer weiteren Empfehlung des Lehrers kann er ein Zimmer mieten.
Jacob begreift rasch den Weg der Papiere im Parlamentarischen Rat: Aus den Parteien über die Ausschüsse, Ausschussvorsitzende, Stellvertreter auf die Arbeitsebene und von dort wieder zurück in den vollständigen Rat mit seinen 65 Mitgliedern. Vier Frauen befinden sich darunter. Er memoriert die Namen der Ratsmitglieder, damit er Papiere fehlerfrei verteilen kann: Adenauer, Becker, Bauer….Menzel, Mücke, Nadig … bis zu Wessel und Zinn. Er verteilt während der Sitzungen Papiere. Junge Spunde wie er schauen damals Ratsmitgliedern nicht neugierig in die Gesichter, sondern eilen mit gesenktem Kopf diskret von Platz zu Platz. Möglichst ohne Aufsehen. Wie Ameisen auf ihren Straßen.
An einem Morgen muss Jacob erstmals im Plenum zugegen sein. Im Vorübergehen bemerkt er, dass er die Stimme, die spricht, schon früher gehört hat. Er schaut auf zum Rednerpult, um nur wenige Meter entfernt die Frau zu erblicken, die seinen Vater vor Jahren ins Krankenhaus gebracht und die sich im Dorf aufmerksam um die angefeindete, verwirrte alte Frau gekümmert hatte:… „Daher kann ich, meine Damen und Herren, kein Verständnis für ihre Ansicht aufbringen. Wir Frauen haben in den zurückliegenden Jahren dieselbe Arbeit in den Fabriken und Ämtern geleistet wie die Männer. Daher besteht kein Grund, uns den gleichen Lohn zu verweigern. Das ist ungerecht. “ Kein Beifall. Spöttische Zurufe. Gelächter. Auf dem Weg zu ihrem Platz muss sie an Jacob vorbei.
Sie wirft einen Blick auf ihn, er weicht aus, um sie vorbei zu lassen. Sie bleibt stehen, schaut auf ihn zurück. „Ihr Gesicht kenn ich doch. Woher kenne ich sie?“
„Ich komme aus…“
„Ja“, sagt sie, unterbricht den jungen Kerl. „Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie gehören zu den Thelens, sind einer der Thelens Jungen? Stimmts?“
Jacob nickt. „Ich bin der Jacob. Caspar ist tot, Hermann-Josef arbeitet auf der Bahn.“
Nadig heißt die Frau, das weiß Jacob aus seinen Listen. Friederike Nadig, von manchen Frieda genannt. Von älteren Kollegen hat er gehört, die habe Haare auf den Zähnen. Sie ist fast einen Kopf kleiner als er. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit einer Brosche auf dem Brustteil. Sie hat ihre Haare, wie Jacob das von der Mutter kennt, mit einer Brennschere onduliert und zurückgekämmt. Sie schaut den Jungen angestrengt an. Keineswegs abweisend. Aber auch nicht besonders freundlich. Müde kommt sie ihm vor. „Wie geht es den Eltern“, fragt sie.
Jacob möchte erzählen, aber sie unterbricht ihn. „Gib Deine Papiere jemand anderem, komm mal mit vor die Tür des Saals. Ich kann etwas Unterbrechung brauchen. Ich regele deine Abwesenheit.“
Einige Minuten später treffen sie sich. „Arbeiten sie noch auf dem Gesundheitsamt“, fragt Jacob.
„Nein, seit Ende des Krieges nicht mehr. Ich bin zurück in die Heimat, wurde später in den Rat gewählt. Das wollte ich so. Unbedingt. Jetzt kümmre ich mich um anständige, am besten gleiche Löhne für die Frauen. Um die Rechte der Frauen überhaupt. Auch für die Frauen in eurem Dorf, für Deine Mutter und Deine Schwester. Und um mehr Rechte für unehelich geborene Kinder.“
„Haben Sie deswegen damals mit meiner Mutter geredet“, platzt es aus Jacob heraus. „Über meine… eigentliche Mutter?“
„Du weißt also Bescheid?“
„Ja“, antwortet Jacob. „Ich weiß das. Hab s aber gut getroffen.“
„Da hast Du Recht“, antwortet Friederike Nadig bedächtig. „Darüber haben wir geredet. Ich habe ihr berichtet, dass es keine Hinweise auf Deine leibliche Mutter gebe. Das hat Deiner Mutter im Dorf damals … sehr weh getan. Über Dich haben wir nicht viel geredet. Deine Mutter war sicher, dass aus Dir etwas wird.“
Die Frau schaut zu ihm hoch. Der junge Kerl wendet verlegen den Kopf weg. „Vergiss nicht, Deine Eltern von mit zu grüßen. Sag Deiner Mutter, dass ich auf Dich aufpassen werde.“
Harald Gesterkamp & Monika Littau (Hrsg.) (2025): Bonner Bogen. Elsinor Verlag
168 Seiten, 16,90 Euro. ISBN 978-3-942788-92-2