
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die us-amerikanische Aggression gegen Demokratie und Rechtsstaat, die Eskalationen des Nahostkonflikts – Haltepunkte und Orientierungslinien zivilisierten Zusammenlebens befinden sich in globaler Auflösung wie lange nicht. Ludger Volmers Reflexionen, die Bruchstücke in zwei Teilen veröffentlicht (Teil I: Über humanitäre Normen und inhumane Realitäten), wollen für den politischen Diskurs Ankerpunkte einer Friedenspolitik in globaler Verantwortung fixieren. (at)
Wo rangieren in der Systematik von Legalität, Legitimität und Effizienz die „nationalen Interessen“? Sie stehen nicht darüber, sondern haben sich einzuordnen. Nationale Interessen sind dem Legalitätsprinzip unterworfen; sie können einen Aspekt von Legitimität ausmachen; sie geben nicht die geringste Auskunft über die Effizienz einer Intervention. Im Folgenden nun sollen beispielhaft einige Interventionen bewertet werden. Dabei wird historisches Wissen über Hintergründe und Verlauf der Ereignisse weitgehend vorausgesetzt.
2. Verantwortung und Freiheit
Die potenzielle Widersprüchlichkeit der drei Kriterien kann zu politischen Fehlschlüssen führen. Eine Intervention kann zum Beispiel legitim sein, obwohl sie einen Bruch mit dem geltenden Völkerrecht markiert und so gemessen am positiven Recht illegal ist. Welches Kriterium ist dann ausschlaggebend? Eine Intervention kann sich als ineffektiv herausstellen. Daraus lässt sich aber nicht auf eine fehlende anfängliche Legalität oder unzureichende Legitimität schließen. Sie kann legal und effizient sein und trotzdem einen Mangel an Legitimität aufweisen. Sie kann auch im Prozess ihren Charakter ändern. Für alles gibt es Beispiele. Die Widersprüche erzwingen eine bewusstere Reflektion der Entscheider. Sie erfordern eine präzise Zuordnung von Erkenntnissen und Mutmaßungen zu den einzelnen Kriterien. Ob dann ein, zwei oder alle drei Kriterien für eine positive Entscheidung erfüllt sein müssen, ist Sache einer politischen Bewertung. Es gibt keine mathematische Formel, die eine oft schwierige verantwortliche Entscheidung ersetzen kann, wie nicht nur die drei ausgewählten Beispiele zeigen.
2.1 Kosovo 1999: Nato-Kampfeinsatz Allied Forces
Die Intervention von Nato-Staaten im Kosovo verstieß gegen das Völkerrecht, so wie es zu diesem Zeitpunkt geschrieben stand. Es gab keinen zustimmenden Beschluss des VN-Sicherheitsrates. Resolutionen der VN-Generalversammlung, die auf die dramatische Lage im Kosovo und insbesondere die Verantwortung der rest-jugoslawischen Regierung in Belgrad hinwiesen, waren rechtlich nicht bindend und ermächtigten allein nicht zum Eingreifen. Die Intervention war völkerrechtlich illegal. An diesem Punkt sind sich fast alle Völkerrechtler einig.
Bezogen auf das nationale deutsche Recht fiel die Entscheidung zwiespältig aus. Am 16. Oktober 1998 beschloss der Deutsche Bundestag auf der Basis einer Regierungsvorlage, unter Umständen an einer militärischen Intervention teilzunehmen. Formaliter war der Vorgang in Ordnung. Dieser „konstitutive Beschluss“ war faktisch ein sogenannter „Vorratsbeschluss“, ein Beschluss, der für einen späteren Zeitpunkt gelten sollte, welchen man undeutlich vorausahnen, dessen konkrete Umstände man aber noch nicht wissen konnte. Mit dieser nach nationalem Recht korrekten Entscheidung wurde eine völkerrechtlich möglicherweise illegale Aktion innenpolitisch abgesichert. Mit weiteren Bundestagsresolutionen wurde sie später, als der Konflikt im Kosovo eskalierte, untermauert. Als es tatsächlich zur Intervention mit deutscher Beteiligung kam, betonte die Bundesregierung, dass es sich um eine Ausnahme handle, die der unzureichenden völkerrechtlichen Regelung geschuldet sei.
Die Motivation für dieses Manöver ergab sich aus Überlegungen der Legitimität. Im Kosovo drohte nach Auffassung der überwiegenden Mehrheit der politischen Beobachter inner- und außerhalb von Regierung und Parlament eine „humanitäre Katastrophe“. Dieser Begriff wurde als juristisch unverfängliche, weil unscharfe Bezeichnung eingeführt; er reflektierte auf gerade geschehene Völkermorde in Srebrenica und Ruanda, ohne den Völkermord-Begriff für das befürchtete Szenario ex ante zu verwenden. Es mögen sich in die Bundestagsentscheidung auch Aspekte des nationalen Interesses gemischt haben, die Hauptmotivation aber lag eindeutig in der ethisch-moralischen Selbstverpflichtung, die sich abzeichnende Katastrophe zu verhindern. Es ging um militärische Nothilfe. Manche Kritiker versuchten sich in Rabulistik: die Intervention sei nicht „humanitär“, weil sie nicht mit humanitären, sondern mit militärischen Mitteln geschähe. Richtig ist: die humanitäre Zielsetzung wäre mit rein humanitären Mitteln ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht erreichbar gewesen.
„Responsibility to protect“
Die Prinzipien Legalität und Legitimität gerieten in Widerspruch zueinander. Legalität war wegen des angedrohten russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat nicht zu erreichen. Das Prinzip der Legitimität trat in den Vordergrund, als es der internationalen Gemeinschaft trotz größter Anstrengungen nicht gelang, zu einem gewaltvermeidenden Verhandlungsfrieden zu kommen. Der von den USA mit Belgrad im Herbst 1998 ausgehandelte Waffenstillstand für den Kosovo wurde bereits im Spätwinter von der serbischen Seite massiv verletzt (Massaker von Racak). Der unmittelbar folgende Versuch, mit einer umfassenden Friedenskonferenz (Rambouillet) den Konflikt beizulegen, scheiterte einzig und allein an der Starrheit Belgrads. Die Veto-Macht Russland unternahm nichts, um seinen Verbündeten zum Einlenken zu bewegen und blockierte zugleich im Sicherheitsrat jede effiziente Maßnahme der VN. Vor diesem Hintergrund war die Nato-Intervention zwar nicht legal, aber ethisch-moralisch geradezu zwingend. Das Dilemma war augenscheinlich; zugespitzt: Wer einen drohenden Völkermord verhindern wollte, musste einem illegalen Waffeneinsatz zustimmen; wer diesen vermeiden wollte, nahm mit gewisser Wahrscheinlichkeit einen Völkermord in Kauf.

Versuche internationaler und nationaler Akteure, ex post das Legalitätsprinzip gegen das der Legitimität durchzusetzen, scheiterten. Russlands Versuch, durch den VN-Sicherheitsrat eine Verurteilung der Intervention aussprechen zu lassen, fand keine Mehrheit. Die internationale Gemeinschaft schien ein Gespür für die Lückenhaftigkeit der VN-Charta zu haben. Innenpolitisch wurde eine Verfassungsklage der Partei PDS gegen die Bundesregierung wegen Führung eines Angriffskrieges zurückgewiesen. Die Argumentation des Gerichts war fragwürdig. Es urteilte, dass Deutschland nicht unilateral gehandelt habe, sondern als Teil einer Organisation gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Es traf aber keine Aussage dazu, ob das Kollektiv als Ganzes gegen das Völkerrecht verstieß. Besser wäre es gewesen, auf den manifesten Widerspruch zwischen Legalität und Legitimität hinzuweisen und auf die Notwendigkeit einer Reform des Völkerrechts.
Letzteres geschah in den folgenden Jahren auf VN-Ebene. Nachdem mehr und mehr Konflikte entstanden, bei denen eine Staatsmacht gewaltsam eigene Bevölkerungsgruppen drangsalierte, anerkannte die VN-Generalversammlung eine „responsibility to protect“, eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft für bedrohte Volksgruppen – auch unter Verletzung des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten. Es ging also darum, bisher „nur“ ethisch legitimierbaren Interventionen auch eine legale Basis zu verleihen. Auch wenn diese Intention das Problem nicht löste, weil sie wie das Problem selbst Streitgegenstand wurde und im Zuge des Irak-Krieges versandete (siehe unten), belegt sie doch ex post ein Verständnis der internationalen Gemeinschaft für die Nato-Intervention im Kosovo.
Die Effizienz der Intervention war ex ante schwer kalkulierbar. Die Nato ging fälschlicherweise von einem schnellen Erfolg aus. Dieser aber blieb aus. Die Luftschläge der Nato trafen falsche Ziele und forderten zivile Opfer, was die Legitimität der Intervention zu untergraben begann. Folgerichtig nahmen die öffentlichen Forderungen nach einem Ende der Intervention zu. Eine sofortige Beendigung durch die Nato hätte bedeutet, die befürchtete humanitäre Katastrophe doch noch geschehen zu lassen. So kam es zu einem langwierigen, letztlich erfolgreichen Verhandlungsprozess um ein „militärisch-technisches Abkommen“, das zeitgleich die Intervention und die Vertreibungen der kosovarischen Bevölkerung durch Belgrad beenden sollte, von der VN akzeptiert durch die Resolution 1244 vom 10. Juni 1999.
Die ex-post-Bewertung der Effektivität, des „Erfolgs“ der Intervention, gerät oft unscharf. Der Nato wird vorgeworfen, mit ihren Aktionen nicht alle Probleme des Kosovo gelöst zu haben. Das ist zwar richtig, war aber nie das Ziel. Das Ziel bestand ausschließlich darin, den eskalierten Konflikt in Rest-Jugoslawien zwischen Serbien und dem Kosovo unter die Gewaltschwelle zu drücken und einer diplomatischen Bearbeitung zugänglich zu machen. Kriegsverbrecher sollten der Gerichtsbarkeit zugeführt werden können. Diese Ziele wurden erreicht. Ob der heutige Status befriedigend ist, ist eine andere Frage.
2.2 Afghanistan 2001: OEF und ISAF
In der Öffentlichkeit wird oft fälschlich von dem Afghanistaneinsatz geredet. Dabei gab es zwei Interventionen mit unterschiedlicher Legitimation: Die Operation Enduring Freedom (OEF) der Nato unter Führung der USA als Kampfeinsatz und die Stabilisierungsmission ISAF der VN, an der nicht nur Nato-Staaten teilnahmen.
OEF war die direkte Reaktion der USA und verbündeten Nato-Staaten auf die Terrorangriffe vom 11. September 2001. OEF war völkerrechtlich legal: der Terrorangriff wurde auf Antrag der USA von der VN als bewaffneter Angriff einer ausländischen Macht eingestuft. Die entführten Flugzeuge funktionierten als Kerosinbomben, der Anschlag war von ausländischen Mächten geplant. Der Sicherheitsrat bestätigte das Selbstverteidigungsrecht der USA nach Art. 51 der VN-Charta. Vor der Ergreifung militärischer Maßnahmen wurden die Taliban als De-facto-Machthaber in Afghanistan aufgefordert, die von dort agierenden Planer des Terrors auszuliefern und der Tätergruppierung Al-Qaida den Handlungsspielraum zu entziehen. Mit der Weigerung der Taliban erfüllte der Staat Afghanistan den völkerrechtlichen Tatbestand der „Beherbergung“. Eine solche gilt, anders als die Nichtentdeckung einiger Attentäter in Deutschland, als aktive Unterstützung. Da die VN selbst keine Maßnahmen ergriffen, durften die USA zur Selbsthilfe greifen, solange die Verhältnismäßigkeit gewahrt war. OEF galt als Selbstverteidigung der USA gegen potenzielle weitere Terroranschläge.
Der Angriff auf die USA löste den Art. 5 des Nato-Vertrages, die Beistandsverpflichtung, aus. In Deutschland wurde von Regierung und Parlament auf dem verfassungsrechtlich korrekten Weg eine Teilnahme an der Militärmission beschlossen. Die Nato führte, anders als manche Kritiker bis heute behaupten, also keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Zudem rief der Generalsekretär der VN unwidersprochen alle Staaten auf, einen aktiven Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus zu leisten, „by any means“, also auch militärisch. Die VN definierten den internationalen Terrorismus als eine der neuen Gefährdungen des Weltfriedens.
Legitimität ging verloren
Bald nach Beginn von OEF setzten die VN mit ISAF eine weitere Militärmission ein, unter eigener Oberhoheit, durchgeführt unter Führung der USA. Sie sollte parallel zum Kampf gegen den Terror der Absicherung von Entwicklung und Stabilität in ausgewählten Regionen dienen. Auch daran nahm Deutschland teil. Dieser Einsatz war ebenfalls völkerrechtlich und verfassungsrechtlich legal.
Die Reaktion der USA erfüllte auch das Kriterium der Legitimität. Selbstverteidigung ist immer legitim. Die intervenierenden Staaten suchten in der kritischen öffentlichen Diskussion weitere Legitimität zu gewinnen, indem sie die Absicht erklärten, die Lebens- und Entwicklungschancen der von den Taliban terrorisierten Bevölkerung, besonders der Frauen, verbessern zu wollen. Auf die Legitimität fiel ein Schatten, weil die USA keine sichtbaren nicht-militärischen Maßnahmen zu ergreifen schienen, etwa die Blockade des Bin-Laden-Vermögens oder diplomatische Initiativen gegenüber den Herkunftsländern der Terroristen Saudi-Arabien und Jemen. Verstörend wirkte zudem, dass die Täter um Osama Bin Laden durch die USA selbst einst im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht gefördert worden waren.
Weitere Legitimität ging verloren, als die USA eine große Anzahl von mutmaßlichen oder angeblichen Terrorunterstützern ohne Rechtsgrundlage in das Gefangenenlager Guantanamo sperrten. So diese als Kombattanten gelten konnten – immerhin war der Terrorangriff als kriegerischer Akt gewertet worden –, hätten sie Anspruch auf die Behandlung als Kriegsgefangene gehabt, als zivile Täter auf ein ordentliches Strafgericht. Die amerikanische Lesart, Täter, die das Völkerrecht verachteten, hätten keinen Anspruch auf dessen Schutzklauseln, hätte nicht zu Willkür führen dürfen, sondern Ausgangspunkt einer Reform des Völkerrechts sein müssen. Durch die Verweigerung jeglicher Rechtsmittel aber zerstörten die USA nicht nur ihren legitimen Anspruch, sondern untergruben auch das Legalitätsprinzip, auf das sie ihr militärisches Eingreifen gestützt hatten.
Die Legitimität von ISAF stand anfangs nicht infrage. Ihr Ziel war der Schutz von Entwicklung und Wiederaufbau. Der Versuch der USA, ISAF unter OEF zu subsummieren, wurde von der internationalen Gemeinschaft abgewiesen. Die Legitimität wurde brüchig, als ISAF immer öfter in Kampfeinsätze verwickelt wurde, mit zahlreichen Opfern auf allen Seiten, auch der Zivilbevölkerung. Nach der offiziellen Beendigung von OEF konzentrierten sich alle Aufgaben auf ISAF allein. Ob diese sämtlich durch das anfängliche Mandat legal gedeckt waren, kann bezweifelt werden. Zudem begann die Mission, massiv an Legitimität einzubüßen, als die humanitäre Zielsetzung sich immer weniger realisierte.
Die Effizienz der von den USA geplanten militärischen Maßnahmen wurde ex ante zumindest in der deutschen Bundesregierung bezweifelt. Hier hoffte man auf eine multilaterale nichtmilitärische Strategie gegen den transnationalen Terrorismus, konnte und wollte aber einen eigenen Militärbeitrag wegen der Nato-Beistandspflicht nicht verweigern.

OEF war anfangs in begrenztem Umfang durchaus effizient. Sie zerschlug die Trainings- und Planungscamps von Al-Qaida auf dem Boden Afghanistans. Sie trug zur Vertreibung der Taliban von der Staatsmacht bei, obwohl dies zunächst nicht definiertes Ziel war. Sie wurde jedoch zunehmend ineffizient, als Al-Qaida nach Pakistan auswich. Die USA agierten nun großflächiger und eskalierten die Vehemenz ihrer Angriffe. Dabei wurden auch Cluster- und Aerosol-Bomben eingesetzt, deren Abwurf in bewohntem Gebiet völkerrechtlich geächtet ist. Immer mehr unbeteiligte Zivilisten wurden zu Opfern. Die globale strategische Überlegenheit einer Supermacht fand in diesem asymmetrischen Krieg ihre Grenzen. Die internationale Solidarität begann zu zerbröseln. Dennoch wurde OEF bis 2014 fortgesetzt. Bin Laden wurde zwar 2011 auf pakistanischem Gebiet durch ein Spezialkommando liquidiert, doch die Ausbreitung terroristischer Netzwerke konnte nicht verhindert werden.
Angesichts der sich abzeichnenden Grenzen von OEF forderten die USA bereits Ende 2001 eine größere Anstrengung der Verbündeten. Als diese zurückhaltend reagierten, wurde mit ISAF ein Kompromiss gefunden. Während diese Mission den sozial-strukturellen Aufbau ausgewählter Regionen von unten absichern sollte (nation building, bottom up), betrieb OEF weiterhin mit militärischen Mitteln die Sicherung zentraler politischer Macht in der Hauptstadt (state building, top down). An diesem Widerspruch in der Strategie scheiterte ISAF. Von der Bevölkerung „on the ground“ wurde die Mission zunehmend als unfreundlich wahrgenommen; das machtpolitische Vakuum nach dem Ende von OEF konnte und wollte sie nicht ausfüllen. Sie geriet militärisch und politisch in die Defensive und endete mit einem fluchtartigen, politisch schmachvollen Rückzug. Es erwies sich einmal mehr als unmöglich, ein archaisches Land mit externen militärischen Mitteln in einen modernen Nationalstaat zu wandeln.
2.3 Irak 2003: Operation Iraqi Freedom
Als die USA und eine „Coalition oft he Willing“ im März 2003 den Irak mit der Begründung angriffen, das Land verfüge über Massenvernichtungswaffen und sei bereit, diese einzusetzen, gab es dafür kein Mandat des VN-Sicherheitsrates. Die USA griffen zur Selbstermächtigung auf der Basis der Sicherheitsrats-Resolution 1441. Diese hatte verlangt, dass der irakische Despot Saddam Hussein seine angeblich existierenden Massenvernichtungswaffen offenlege und beseitigen lasse. Mit diesem Verfahren handelten die USA in mehrfachem Sinne illegal. Sie ersetzten zum einen den fehlenden Beschluss des Sicherheitsrats durch den Verweis auf eine vorangegangene Sicherheitsrats-Resolution. Diese wiederum basierte auf einem fragwürdigen Kompromiss zwischen den bereits zum Angriff entschlossenen USA und europäischen Kriegsgegnern wie Deutschland, die meinten, die USA durch diesen Kompromiss vom unmittelbar drohenden Äußersten abhalten zu können. Dabei enthielt die Resolution 1441 einen Trick, der – als weitere Rechtsverletzung – die Beweislast umkehrte: dem Irak musste nicht mehr der Besitz von Massenvernichtungswaffen nachgewiesen werden, sondern Saddam Hussein sollte seine Unschuld beweisen. Ein solcher Beweis war nicht zu erbringen, da die US-Administration jede irakische Unschuldsbeteuerung mit der Behauptung besonders raffinierter Verstecke konterte. Tatsächlich existente Produktionsstätten für Raketen und Sprengköpfe hatten VN-Inspektoren auf der Basis einer VN-Resolution bereits vollständig vernichten können. Die USA legten in der Resolution nun handlungslogisch die Eskalation Richtung Intervention an.
Als finalen „Schuldbeweis“ legten die USA kurz vor der Intervention der VN öffentlich Luftaufnahmen angeblicher mobiler Chemiewaffenlabore vor. Exakt diese Bilder waren dem Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages bereits ein halbes Jahr zuvor präsentiert worden. Dieser hatte in geheimer Sitzung die Aussagekraft der Bilder und die Seriosität der Quelle bezweifelt. Im Nachhinein stellten sich die „Labore“ als Trucks mit agrarischen Pestiziden heraus. Den Auftritt der USA vor der VN bewerteten die politischen Entscheidungsträger in Deutschland mehrheitlich als Beleg dafür, dass der US-amerikanischen Sicht jegliche Rechtsgrundlage fehlte.
Die Operation gegen den Irak war von Beginn an völkerrechtlich illegal. Die Bundesregierung legte dem Bundestag keinen Antrag zur Beteiligung an der Militäraktion vor. Im Parlament überwogen bei weitem warnende und vehement ablehnende Stimmen.
Plötzlich ging es um „regime change“
Anders als im Kosovo gab es auch keinen „übergesetzlichen Notstand“, der die fehlende Legalität durch eine ethische Verpflichtung legitimerweise hätte kompensieren können. Despoten vom Kaliber Saddam Husseins gab es viele. Warum also gerade den Iraker angreifen? Zudem meinten politische Entscheider, dass sich der Despot bereits gemäßigt habe, und verlangten eine Aufhebung der gegen den Irak Jahre zuvor verhängten Wirtschaftssanktionen. Dass der amerikanische Präsident Gorge W. Bush die left-overs des von seinem Vaters Gorge Bush geführten Irak-Krieges „desert storm“ erledigen wollte, mochte eine interessante Spekulation sein, Legitimität lieferte sie nicht. George Bush sr. war bei der Mission zur Befreiung Kuweits von der irakischen Besatzung aus gutem Grunde an der irakischen Grenze stehen geblieben.
Als nach begonnenem Angriff immer deutlicher wurde, dass keine Massenvernichtungswaffen zu finden seien, änderten die USA die Legitimationsfigur. Plötzlich ging es um „regime change“ wegen der Menschenrechtslage. Viele führende Leute in der Bush-Administration hatten bereits Jahre zuvor in einem neokonservativen Memorandum Präsident Bill Clinton aufgefordert, den Irak anzugreifen und waren abgeblitzt. Statt ethischer Legitimität beanspruchte diese Politik die durch nichts ausgewiesene Vision, den gesamten Nahen und Mittleren Osten durch den militärischen Kampf gegen den zentralen Despoten Saddam Hussein im westlichen Sinne demokratisieren zu können.
Zudem spielte der Irak für die USA eine zentrale Rolle beim Anti-Terror-Kampf. Die Operation in Afghanistan galt offiziell als Phase eins. Die Phase zwei war der Angriff auf den Irak. Dabei gab es kein triftiges Indiz dafür, dass der arabisch-nationalistische Führer Saddam Hussein den islamistischen Fundamentalismus unterstützte. Doch weil sie keine Waffen gegen den eigentlichen Feind, die Terroristen, hatten, schufen sich die USA einen Feind, gegen den sie Waffen besaßen. Aus dem asymmetrischen Kampf gegen den Terror, der allein militärisch nicht zu gewinnen war, machten sie einen symmetrischen Staatenkrieg, aus dem sie meinten, als Sieger hervorgehen zu können. Legitim war dies nicht.

War es effizient? Als George W. Bush den Sieg verkündete, hatte er den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren. Bagdad war eingenommen, der Diktator gestürzt. Doch dann entwickelte sich genau das Desaster, vor dem Kritiker ex ante gewarnt hatten: die Despotie wandelte sich nicht zur Demokratie, es entstanden Chaos und Anarchie. „Regime change“ führte zum „failed state“. Der Staat zerlegte sich in seine drei ethnisch-religiösen Entitäten der Sunniten, Schiiten und Kurden, die heftige Machtkämpfe ausfochten.
Auch regionalpolitisch und im Antiterrorkampf war der „Sieg“ ein Desaster. Die Schiiten im Irak gewannen an Gewicht. Der Irak fiel als Gegengewicht zum schiitischen Iran aus, der seine Aggressivität nun auf Israel konzentrieren konnte. Als Gegengewicht wurde nun Saudi-Arabien umworben, aus dessen wahhabitisch-reaktionären Kreisen sich der Al-Qaida-Terrorismus gebildet hatte. Kurden sahen endlich die Chance auf einen eigenen Staat, was zu bewaffneten Grenzaktionen seitens der Türkei führte. Aus Afghanistan waren militärische, finanzielle und politische Kräfte abgezogen worden, um das Irak-Abenteuer zu bestehen und fehlten nun dort. Die VN standen geschwächt da; ihr Konzept der „responsibility to protect“ war desavouiert, nachdem die USA es zur Begründung ihres Einmarsches missbraucht hatten. Unmenschliche Behandlung und Folter von Gefangenen zerstörten den moralischen Anspruch der USA völlig. In der arabischen Welt radikalisierten sich nicht nur männliche Jugendliche. Das Unbehagen am Westen steigerte sich in Hass, der weitere Terroranschläge nach sich zog.
Auch war der Krieg nicht vorbei; er wandelte seinen Charakter vom symmetrischen Staatenkrieg zum asymmetrischen Guerillakrieg. Massenhaft radikalisierten sich Saddams Getreue und bildeten der Kern eines neuen gefährlichen Terrornetzwerkes, den „Islamischen Staat (IS)“. Die USA hatten einen Terrorismus von „Gotteskriegern“ erschaffen, den es zuvor nicht gab. Dieser sickerte in die gesamte euro-arabische Welt ein, beging einen Völkermord an den Jesiden und wurde zur offensiven Bürgerkriegspartei in Syrien. Seine Aktionen und der westliche Kampf dagegen produzierten Flüchtlingsströme, auch nach Deutschland, die zu größten innenpolitischen Friktionen führten.
Der Irak-Krieg war illegal, illegitim, ineffizient. Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand.
Fazit und Ausblick
Die Beispiele haben gezeigt, dass die begriffliche Triangulation einen Erkenntnisgewinn und eine systematischere Entscheidungsfindung befördern kann. Sie macht politische Entscheidungen nicht einfacher, kann aber die intersubjektive Verständigung erleichtern. Sie hilft zudem, Missverständnisse zu vermeiden. So kann etwa aus dem schlechten Ausgang einer Intervention wegen mangelnder Effizienz nicht zurückgeschlossen werden auf die Legalität ihres Beginns. Vorhandene Legalität und Legitimität garantieren noch keine Effizienz. Legalität und Legitimität können in Widerspruch geraten. Im Verlauf eines Prozesses können anfängliche Legalität und Legitimität ganz oder teilweise verloren gehen; dieses bedeutet aber nicht, dass sie anfangs nicht gegeben waren. Und für manches gibt es absolut keine gute Begründung; das „nationale Interesse“ steht blamiert da.
In Deutschland gab es institutionalisierte Bemühungen, ex post den Kosovo- und den Afghanistankrieg aufzuarbeiten – beide verliefen erschreckend defizitär. Zum einen versuchte die Partei Bündnis 90/Die Grünen zu ermitteln, ob die für die Partei schmerzlichen Entscheidungen im Kosovokrieg „richtig“ waren. Der Versuch wurde zum Paradebeispiel dafür, wie es nicht laufen darf. Randfiguren der damaligen Entscheidungsfindung konstituierten sich als eine Art Sachverständigengremien. Die Hauptakteure, die in Regierung und Bundestag über nicht allgemein zugängliches Hintergrundwissen verfügt hatten, die Wirkung der Entscheidungsalternativen intensiv abgewogen, die Entscheidungen vorstrukturiert und letztlich implementiert hatten, wurde nicht einmal angehört.
Die Rückkehr des Staatenkrieges
Nicht viel besser agierte der Bundestagsuntersuchungsausschuss, der die Verantwortlichkeiten für den desaströsen Abzug aus Afghanistan herausarbeiten sollte. Er befasste sich in der Hauptsache kleinteilig mit den Entwicklungen der letzten Jahre. Trotz intensiver Interventionen von außen, die Entscheidungen zu Beginn von OEF und ISAF einzubeziehen, kam es nur zu kurzen Befragungen der damals verantwortlichen Minister. Damit wurde das Thema extrem weit verfehlt. Denn es hätte sich herausgestellt, dass nicht allein Steuerungsprobleme in der Wirrnis der finalen Phase für das Desaster verantwortlich waren, sondern politische Fehlentscheidungen etwa 15 Jahre zuvor. Der Abzug amerikanischer Ressourcen aus Afghanistan, um einen unsinnigen Krieg im Irak zu beginnen, hätte das Signal zum verhandelten und gesichtswahrenden Exit sein müssen, zumal nach der Vertreibung der Taliban eine reguläre Regierung ins Amt gekommen war.
Die jüngste Geschichte beschert uns die Rückkehr des Staatenkrieges mit Angreifer und Verteidiger, die wir zumindest in Europa für überwunden hielten. Hier stellt sich die Frage nach einer Intervention ebenfalls, nur dass es nicht um ein eigenes bewaffnetes Eingreifen im Kriegsgebiet geht, sondern um politische, finanzielle, humanitäre, aber auch militärische Hilfe von außen. Auch in diesem Fall erweisen sich die drei Begriffe als nützlich: Der russische Überfall auf die Ukraine war völkerrechtlich illegal. Legitimität beansprucht Russland wegen der als bedrohlich empfundenen Nato-Erweiterungsstrategie und der Behandlung der russischsprachigen Bevölkerungsgruppe im Osten der Ukraine durch die Zentralregierung. Der Westen weist diese Begründungen zurück und wirft Moskau großrussischen Imperialismus vor. Ein Völkermord wie einst im Kosovo drohte jedenfalls in der Ost-Ukraine nicht; ein derartiger Vergleich ist abwegig. Zu Beginn war der russische Überfall ineffizient. Danach entwickelte er Effizienz im Bemühen, Regionen der Ukraine militärisch zu besetzen, die europäische Friedensordnung zu zerstören, die VN-Charta zu torpedieren, nationalistisch-despotische Regimes zu stärken und in Allianzen zu vereinen. Die Selbstverteidigung der Ukraine ist legal und legitim; die Effizienz wird sich zeigen. Die westliche Solidarität mit der Ukraine ist legal und legitim. Die Legitimität schützt den Westen aber nicht vor der Pflicht zur selbstkritischen Überprüfung seiner Erweiterungsstrategie und Einflusszonenpolitik. Der Effizienz scheinen Grenzen gesetzt zu sein, sowohl bei der Bereitstellung von Ressourcen als auch bei der Bildung internationaler Allianzen. Legale und legitime Solidarität schließt nicht aus, permanent nach realistischen Ansatzpunkten für einen Verhandlungsfrieden zu suchen. Sonst könnte die Legitimität der Solidarität Schaden nehmen.
Der Text steht unter dem Titel „Legalität, Legitimität, Effizienz – Eine Methodik zur Entscheidung über militärische Interventionen“ (mit Fußnoten und Literaturhinweisen) auch auf Ludger Volmers Website.
Hintergründiges zum Bomben-Angriff der USA auf die iranischen Atomanlagen bei Bruchstücke:
Mit diesem Feuer spielt man nicht
Es war nicht Israel…
Iran will mit Atombomben drohen können