
(Foto, 2021: Spitzahorn auf wikimedia commons)
Vor sechzig Jahren endete in Frankfurt der Auschwitzprozess, den der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiiert hatte. Gegen 20 Angeklagte wurden am 19. und 20. August 1965 die Urteile verkündet. An diesen Einschnitt in der bundesdeutschen Justizgeschichte erinnerte jetzt der Förderverein Fritz Bauer Institut e.V. am historischen Ort, dem Frankfurter Saalbau Gallus. „Gelungene Aufarbeitung?“ hieß die Veranstaltung, die Dieter Wesp für den Förderverein organisiert hat. Mit ihm und dem Zeitzeugen Peter Kalb, der als junger Frankfurter Student die Zeugen, Überlebende der Vernichtung in Auschwitz, betreut hatte, sprach Jutta Roitsch.
Jutta Roitsch: Peter Kalb, Sie sind jetzt selbst Zeitzeuge dieses Prozesses geworden. Als sehr junger Student haben sie Zeugen betreut, die für diesen Prozess das Land der Täter betreten haben und im Gerichtssaal die Männer wiedersahen, die in Auschwitz über Leben und Tod entschieden haben. Was hat Sie bewogen, sich als Betreuer zu melden? Und wer hat über die Auswahl entschieden?
Peter Kalb: Das war eher ein Zufall. Es gab bereits eine kleine Gruppe von Frauen um die Initiatorin und ebenfalls Betreuerin Ulla Wirth, die Zeugen betreute. Der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn hatte veranlasst, dass für die Unterstützung der Zeuginnen und Zeugen ein kleiner Geldbetrag zur Verfügung stand. Abgewickelt wurde die Abrechnung aus formalen Gründen über das Rote Kreuz in Frankfurt. Auf diesem Weg erfuhr die Geschäftsführerin beim Roten Kreuz, Frau Brosch, dass die Zeugenbetreuung unter großem Personalmangel litt. Sie kannte mich persönlich und fragte meinen Vater, damals im Landesvorstand des DRK Hessen, ob er mich um Unterstützung bitten könne. Mein Vater sprach mich an, ob ich bereit wäre, Kontakt zu den Damen aufzunehmen. Das tat ich dann auch – ohne zu wissen, was mich da erwarten würde.

Die Fahrt nach Frankfurt und die Bereitschaft, sich diesem Prozess zu stellen, dürfte den Zeugen schwergefallen sein. Und dann steht da so ein junger deutscher Student in Schlips und Anzug und kümmert sich um sie, spricht Deutsch und macht Ausflüge in den Taunus. Und im Gerichtssaal sehen sie, kaum vier Meter entfernt, vor sich ihre Peiniger. Wie sind die Zeugen mit diesen extremen Widersprüchen und psychischen Belastungen fertig geworden?
Peter Kalb: Die Zeuginnen und Zeugen standen erkennbar sehr unter erheblicher Anspannung und hatten nicht selten Angst vor ihrem Auftritt vor Gericht. Viele von ihnen sind von ihrem Leidensgenossen in Auschwitz, von Hermann Langbein, gedrängt worden, in Frankfurt auszusagen. Je nach Anreise habe ich sie vom Bahnhof oder Flughafen abgeholt und zum Hotel gebracht. Am Prozesstag habe ich sie dann in der Regel im Hotel abgeholt und ins Haus Gallus gefahren. Nach ihrer Aussage habe ich Spazierfahrten oder Wanderungen vorgeschlagen. Je nach Interesse besuchten wir den Goetheturm im Stadtwald, den Taunus oder die Saalburg usw.; wir fuhren auf Wunsch auch einmal zum Heidelberger Schloss. Die Bedürfnisse waren sehr unterschiedlich. Manche wollten überhaupt nicht über ihre Zeit in Auschwitz oder den Prozess sprechen, andere waren dankbar für ein Zuhören. Mir war wichtig, niemanden zu drängen, aber ihnen zu vermitteln, ich stehe zur Verfügung, wenn gewünscht.
Die Damen Wirth, Minssen und Bonhoeffer hatten bisweilen das Gefühl, die betreuten Zeuginnen und Zeugen könnten sie fragen, was sie selber denn in der Nazi-Zeit gemacht haben. Der Widerstand der Familie Bonhoeffer war ihnen nicht bekannt. Ich hatte es einfacher, schon auf Grund meines Alters konnte ich nicht in die NS-Zeit verstrickt sein.
Und übrigens: Ich trug als Student eher selten Anzug und Schlips.
Auf der Empore des Saals, der heute den Namen Fritz Bauers trägt, saß nicht nur die Presse. Angeblich haben 20 000 Besucherinnen und Besucher den Prozess zwischen 1964 und 1965 beobachtet. Wie haben Sie diese Besucherschar wahrgenommen? Waren es, sozusagen im Vorachtundsechzig der Studentenbewegung, vor allem Schulklassen oder Studentengruppen?

(Foto, 2016: Frank C. Müller auf wikimedia commons)
Peter Kalb: Ja richtig, im Haus Gallus gab es diese Empore, die ich gerne aufsuchte und von dort den Prozess verfolgte. Da sah ich, wie viele Besucherstühle oft freiblieben. Vom Fritz Bauer Institut habe ich die Schätzung gelesen, dass ca. 20.000 Besucher zum Prozess kamen, inklusive Schulklassen. Der Prozess dauerte 20 Monate mit ca. 150 Prozesstagen. Man kann geteilter Ansicht sein, ob 20.000 Besucher viel sind. Waren das nicht eigentlich nur sehr wenige Interessenten? Zum Prozess musste sich, anders als heute, niemand anmelden, auch keine Schulklasse, es gab keine Sicherheitskontrollen und der Zugang war frei zugänglich. Der Prozessort Frankfurt und Umland hat zahlreiche Schulen. Und damit eine große Zahl an Schülerinnen und Schüler im geeigneten Alter, deren Lehrkräfte diese einmalige Chance für politische Bildung ignoriert und verpasst haben.
Wie haben eigentlich Ihre damaligen Mitstudenten und Ihre Professoren auf Ihr Engagement und Ihre Eindrücke reagiert? Hat es im Institut für Sozialforschung von Professoren wie Adorno oder Horkheimer oder wissenschaftlichen Mitarbeitern Unterstützung gegeben?
Peter Kalb: Die Mitstudenten haben sich meine kursorischen Berichte freundlich angehört – und dann ging es wie gehabt weiter. Ich glaube nicht, dass eine größere Anzahl von ihnen ins Haus Gallus gekommen ist.
In dieser Zeit lernte ich über ein Projekt Max Horkheimer kennen. Dieser legendäre Sozialwissenschaftler hat sich sehr genau nach meinen Eindrücken im Prozess erkundigt. Er war damals schon emeritiert. Trotzdem hat er mich nach Klärung der Formalien als Doktorand angenommen. Horkheimer kam häufig von seinem Wohnsitz in der Schweiz nach Frankfurt. Wir hatten einen engen Kontakt, auch schrieben wir uns viele Briefe und telefonierten oft miteinander. Er kannte mein Thema gut, ich wollte über die Widerstandsgruppe in Auschwitz arbeiten. Seine Unterstützung war sehr wichtig für mich. Leider endete diese Freundschaft mit seinem Tod im Juli 1973.
Welche Spuren hat diese Aufgabe der Betreuung bei Ihnen persönlich und beruflich hinterlassen?
Peter Kalb: Was ich im Auschwitz-Prozess gehört habe, in den vielen Unterhaltungen mit den Zeuginnen und Zeugen, hat mich bis heute begleitet, man kann wohl sagen geprägt: bei meinem politischen und ehrenamtlichen Engagement, bei meiner beruflichen Arbeit als Verlagsleiter und als Chefredakteur einer pädagogischen Fachzeitschrift im Beltz-Verlag in Weinheim.
Für mich gibt es eine Zeit vor und nach dem Prozess. Die Berichte der Zeuginnen und Zeugen aus dem Prozess und außerhalb davon haben meinen Blick und meine Wahrnehmung geprägt und geschärft. Dankbar bin ich für die vielen Bekanntschaften und Freundschaften mit etlichen Zeugen und Zeuginnen, die über den Prozess hinaus andauerten. Ich habe meine Entscheidung für die Betreuung und Unterstützung, trotz der unbestreitbaren emotionalen Belastungen in dieser Zeit, nie bereut.
In meinem Wohnort in Bensheim habe ich mich auf unterschiedliche Art und Weise dafür eigesetzt, dass die Vergangenheit meiner Stadt in der NS-Zeit nicht vergessen wird. Wichtig ist mir, dass heute auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge ein Mahnmal errichtet wurde. An der Errichtung und Ausgestaltung konnte ich an maßgeblicher Stelle mitwirken und Einfluss nehmen. Zahlreiche Stolpersteine im Projekt von Gunter Demnig, die, zum Teil mit Unterstützung einer Schule, verlegt wurden, erinnern an die jüdischen Bürger und Bürgerinnen. Doch der Blick zurück alleine reicht natürlich nicht. Welche Lehren sind aus der Vergangenheit zu ziehen, wo ist unsere Demokratie heute wieder gefährdet, wie sollte das Zusammenleben mit Minderheiten, insbesondere Eingewanderten, gestaltet werden – diese Themen habe ich als Vorsitzender einer Geschichtswerkstatt zusammen mit meinen Vorstandskollegen in zahlreichen Veranstaltungen aufgegriffen.
Und doch noch einen Nachsatz zum Prozess: Schon lange frage ich mich, warum die Rolle der Zeuginnen und Zeugen bislang nur so am Rande zur Sprache kam. Im Fritz Bauer Institut sind viele hervorragende Publikationen zum Prozess erschienen, aber, so weit ich sehe, keine Betrachtung der Zeuginnen und Zeugen im Prozess. Wer diese Personen im Prozess erlebt hat oder heute die Tonbandaufzeichnungen hört, kommt zu vielen weiteren Erkenntnissen aus dem Prozess und zum KZ Auschwitz: durch die originale Stimme. Man spürt die Erregungen, man hört fast die Tränen. Nichts ist vergessen. Sie alle waren tapfer und haben ihre Zeugenpflicht erfüllt und damit dem Prozess eine große Eindringlichkeit gegeben. Ohne sie und ihre authentischen Berichte hätte der Prozess nicht seine so große Bedeutung auch in unserer Öffentlichkeit bekommen.
Dieter Wesp, Sie haben dem Titel der Veranstaltung bewusst ein Fragezeichen mitgegeben: „Gelungene Aufarbeitung?“ Fritz Bauer wollte den Deutschen mit diesem Prozess die Augen öffnen, sie über das Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufklären. Ist das nicht gelungen?

Dieter Wesp: Bei einem Menschheitsverbrechen wie Auschwitz von „Aufarbeitung“ oder gar „Wiedergutmachung“ zu sprechen, ist eigentlich unmöglich. Dies mit juristischen Mitteln zu versuchen und dabei als Maßstab das zur Tatzeit gültige Recht des nationalsozialistischen Deutschen Reiches zu verwenden, verschärft diese Fallhöhe nochmals. Henry Ormond, der als Nebenkläger am Frankfurter Auschwitzprozess beteiligt war, hat deshalb für alle Angeklagten 3000mal Lebenslänglich gefordert. Verglichen damit sind die gesprochenen Urteile als absolut ungenügend zu bezeichnen.
Fritz Bauer, der sich dieses Dilemmas sicher bewusst war, ging es deshalb auch in erster Linie nicht um die Bestrafung der Täter, sondern um die Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft. Das ist sicher mit diesem Prozess in Gang gekommen.
Für diesen Prozess gab es weder Sicherheitskontrollen noch schriftliche Protokolle. Film-und Tonbandaufzeichnungen waren verboten. Dennoch liefen Tonbänder mit. Zu welchem Zweck, wenn Veröffentlichungen verboten waren?
Dieter Wesp: Ja, es stimmt. Mit Paragraf 169, Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes wurden ab 1964 Film- und Tonaufnahmen von Verhandlungen untersagt. Für den Auschwitzprozess war es aber zugelassen, Tonaufnahmen „zwecks Stützung des Gedächtnisses“ anzufertigen. Man muss dazu auch berücksichtigen, dass in Deutschland, anders als im amerikanischen Justizsystem, es keine Protokollierung des Prozessgeschehens gibt.
Wer hat nach dem Prozess dafür gesorgt, dass diese Tonbänder nicht vernichtet wurden?
Dieter Wesp: Eigentlich hätten die Tonbänder nach dem Prozess, bzw. nach den abgeschlossenen Revisionsverfahren, vernichtet werden müssen. Es gab eine Anweisung des damaligen hessischen Justizministers Lauritz Lauritzen, der dieses Amt von 1963 bis Ende 1966 bekleidete: Er verfügte kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, im September 1965, die Bänder sollten erhalten bleiben. So waren diese Aufnahmen 1989 noch beim Landgericht vorhanden und wurden erst dann dem Hessischen Hauptstaatsarchiv übergeben.
Warum hat es fast vierzig Jahre gedauert, bis jedermann nachlesen kann, was hier in diesem Gerichtssaal geschehen ist, in dem es um die planmäßige Vernichtung des europäischen Judentums gegangen ist?
Dieter Wesp: Vielleicht war es ganz gut, dass die Bänder solange praktisch vergessen waren, sonst gäbe es sie möglicherweise schon längst nicht mehr. Mit der Übernahme durch das Hauptstaatsarchiv waren sie als Originale gerettet. Es dauerte dann noch einmal 15 Jahre, bis das Fritz Bauer Institut in Kooperation mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und dem Deutschen Rundfunkarchiv die Transkription und einen Teil der Tonaufnahmen veröffentlichte. Seit 2013 sind alle Texte und Töne auf der Webseite auschwitz-prozess.de öffentlich zugänglich. Damit erfüllte sich das, was Peter Kalb, von der Fernsehsendung „Panorama“ am 20. August 1965, dem letzten Tag der Urteilsverkündung, im Gerichtssaal befragt, als Erster forderte: die Bänder sollten veröffentlicht werden, damit sie dauerhaft Zeugnis ablegen, über das, was im Prozess ausgesagt wurde.