
Dem früheren, 2018 verstorbenen Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg wurde ein mit hoher Wahrscheinlichkeit erfundenes, sprachlich auf seine ostpreußische Einfärbung zielendes Bonmot nachgesagt. Er soll im Bundestag erklärt haben: Meine Damen und Herren, wie jeht´s denn weiter mit die Renten? Es jeht ja weiter mit den Renten. Und wenn es weiterjeht, dann jehts ja. Wie gesagt, wahrscheinlich mehr oder weniger jut erfunden. Ehrenberg war von 1976 bis 1982 Bundesarbeitsminister. Der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung lag während seiner Amtszeit auf 18 Prozent. Heute liegt der Beitragssatz bei 18,6 v.H. So schrecklich groß ist die Differenz also nicht.
Es gab damals eine Art „Grundrauschen“ bezogen auf spätere Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung. Im Durchschnitt ein längeres Leben, längerer Rentenbezug. Mehr nicht. Erst als die Prognos AG 1986 mit einer Studie aufwartete, in welcher ohne Korrekturen spätestens für die Zeit nach 2030 Beitragssätze zwischen 26 und 27 v.H. prophezeit wurden, reagierte der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber ist übrigens derjenige, der in solchen „Fällen“ landläufig und irreführend als „die Politik“ bezeichnet wird.
Den einzigen Ausreißer in der Beitragssatz-Zahlenreihe gab´s zu Norbert Blüms Zeiten mit angekündigten 20,3 v.H. – die freilich abgewendet wurden, weil die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte angehoben wurde.Stephan Lessenich schrieb vor Jahren:
Mit einer geradezu schicksalhaft anmutenden Gewissheit werden wir in unregelmäßigen, den wechselnden politischen und ökonomischen Konjunkturen geschuldeten Abständen Zeugen der jeweils neuesten „Krise“ des Sozialstaats, des jeweils Jüngsten Gerichts über seine Paradoxien und Dysfunktionen, seine intendierten und nicht-intendierten sozialen und ökonomischen Effekte. In immer neuen Anläufen werden die fatalen Konsequenzen wuchernder sozialpolitischer Intervention und ausufernden sozialstaatlichen Engagements beklagt: die ungebremste Kostendynamik, die Schwächung von Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung und Gemeinsinn, die beschäftigungsfeindliche Reglementierung des Arbeitsmarkts.

Als Beleg präsentierte er: „Prangt auf der Titelseite eines der Zentralorgane der deutschen Printmedienlandschaft in übergroßen Lettern „Der Unsozialstaat“ als Aufmacher (vgl. hier DIE ZEIT Nr. 21 vom 20.5.1999), dann wissen wir, dass wir nun die nächste Runde dieser ewig jungen Debatte miterleben dürfen.“
Während all der Diskussionsrunden vom, über und gegen den Sozialstaat sitzt stets eine „alte Dame“ mit dabei; eine sehr, sehr, sehr alte Dame, die wir alle kennen, die freilich ständig übersehen wird: die Zeit. Die sehr, sehr alte Dame beteiligt sich nicht, hört nur zu, man hat den Eindruck, dass sie mitunter ergrimmt gucken würde, wenn sie könnte oder ironisch lächeln. Gleichwohl hat sie eine Schlüsselrolle. Ein Blick auf diese:
Man rechnet mit Zeiträumen von zehn und mehr Jahren von der Markteinführung eines verkaufsfähigen Produkts bis zur ersten grundlegenden Überarbeitung und eventuellen Neugestaltung. Dazwischen liegen Investitions- und Produktionszyklen.
Während der vergangenen 20 Jahre ist die Produktivität pro Kopf und Stunde in der Bundesrepublik deutlich gesunken. Das war in allen Industriestaaten so, in der Bundesrepublik aber noch mal deutlicher. In den OECD-Staaten wurde die Produktivität um rund 1 Prozent per annum seit 2005 gesteigert. In der Bundesrepublik wuchs die Arbeitsproduktivität in der genannten Zeitspanne jährlich um 0,5 bis 0,6 v.H. – und zwar im scharfen Wettbewerb um Kunden und Absatz und Erfolg auf Märkten. Eigentlich ein Desaster.
Der andere Rhythmus des Sozialstaates
Der Sozialstaat weist im Teil Rentenversicherung einen im Vergleich dazu längeren zeitlichen Verlauf auf; man kann auch sagen: einen anderen Rhythmus. Der lebt aus der Generationen-Erwerbstätigkeit und der darin steckenden Ergiebigkeit, also aus einer Zeitspanne zwischen 30 und 40 und mehr Jahren (vereinfachte Darstellung). Während die eine Ergiebigkeitsspanne nach 40 Jahren praktisch ausläuft, hat sich die nächste aufgebaut. Der Sozialstaats-Rhythmus kommt auf das Mehrfache der Dauer von Produktzyklen. Unaufhebbar. Diese Differenz besteht übrigens auch in kapitalgedeckten Sicherungssystemen. Was funktioniert denn nun nicht?
Es fehlen Brücken zwischen beiden Sphären.
Schaut man sich die Situation etwas genauer an, ist es so: Der Kapitalstock auf der privaten, gewerblichen Seite, also Anlagen und Maschinen der Betriebe und Unternehmen, betriebswirtschaftlich aktuell und potenziell nutzbringende Forschungsergebnisse, also all das, was Unternehmen aktuell und künftig an Ertrag bringenden Faktoren und Fakten haben – auch in ihren Datenbanken stehen haben – also der „Kapitalstock“ besteht so wie er ist, schon viel zu lange. Er ist veraltet.
Zu viele Unternehmen haben zu gering, vielleicht auch zu vorsichtig in die Zukunft investiert. Das beste Beispiel liegt auf der Hand: Während andere, Konkurrenten in China und anderswo mit aller Kraft in die Elektromobilität drängten. wurde über die Notwendigkeit eines Einstiegs in der Bundesrepublik lange geredet, auf die Erfolge der vorhandenen Kapazitäten verwiesen, darauf gesetzt, dass die Steuerzahler Investitionslasten übernähmen, es wurde missachtet, verschlafen, ignoriert. Wer die Wirtschaftsseiten liest, erfährt, dass Porsche zurück zum Verbrenner-Motor möchte. Im Pharmabereich konzentrierten sich Unternehmen zu sehr auf etablierte Produkte. Neues, auch Massengeschäfte wanderten nach Asien ab. Beispiele ließen sich fortsetzen.
Auch der „Kapitalstock des Volkes“ – also Schulen, Unis, Straßen, alles Öffentliche, das Nutzen bringt, ist wenigstens in großen Teilen veraltet. Ein aufschlussreiches Beispiel: Zwei Drittel der auf Datenabgleich doch essentiell angewiesenen Ausländerämter in Deutschland sind nicht mit digitalisierter Verwaltung ausgestattet, sondern arbeiten immer noch mit Kopier- Apparaten.
2023 hat beispielsweise der Verband der forschenden Pharmaunternehmen (VfA) darauf in einer aufschlussreichen Studie hingewiesen. Aus der Studie geht hervor: Es wurde zu wenig in die Modernisierung der Anlagen und Fabriken, in Forschungsabteilungen und moderne Datenverarbeitung – sprich: Digitalisierung – investiert.
Tatsächlich würde eine ganze Menge gehen
Die erwähnte alte, sehr alte Dame hat möglicherweise ihre Brille aufgesetzt, weil sie nicht glauben wollte, was sie sah: Dass der Staat Bundesrepublik sehr viel Geld ausgeben will, um Investitionen auf den Weg zu bringen; dass aber vielfach lieber gemäkelt wird, als den Steuerzahler- und Kredit-Impuls aufzugreifen. Sie würde die Brille auch schon deswegen nicht absetzen, weil an den allgemeinbildenden Schulen des Landes 43 v.H. der Lehrkräfte Teilzeit arbeiten, obwohl fehlende Stunden nur zum Teil ausgeglichen werden können. Vielleicht beschlug ihr die Brille sogar, als sie erfuhr, dass es möglich ist, sich 15 Jahre als Lehrkraft krankschreiben zu lassen – ohne eine einzige Überprüfung des Krankseins vorzunehmen.
Sie wird ziemlich erschrocken gewesen sein, als sie aus der Feder des Berufsbildungs-Instituts des Bundes las, dass 2,9 Millionen junge Leute bis zum Alter von 35 Jahren überhaupt keine berufliche Ausbildung vorweisen können. Lieber jobben und chillen als lernen. Und schließlich wird sie ihre Brille ernüchtert abgesetzt haben, als sie las, dass die Bundesrepublik von jetzt ab für mehr als 20 Jahre Jahr für Jahr um die 400 000 einwandernde Menschen benötigt; aber eine Partei mit viel Zulauf die meisten der mittlerweile Zugewanderten wieder rauswerfen will.
Ich zweifle sehr daran, dass eine Ministerin oder ein Minister heute noch sagen würde: Wenn es weiter geht, dann gehts ja. Tatsächlich würde aber eine ganze Menge gehen. Die gesamte Sozialstaats- Verwaltung technologisch verbessern und digitalisieren. Anreize materieller Art setzen, damit Teilzeitarbeit nicht weiter ausufert. Und zugleich die Kinderbetreuung weiter ausbauen. Materiellen Druck aufbauen, damit mehr junge Frauen und Männer sich ausbilden lassen. Zugewanderten Frauen und Männern den Einstieg ins bundesdeutsche Erwerbsleben durch bessere Sprachbildung erleichtern. Und in diesem Zusammenhang – natürlich – mehr Wohnungen bauen.
Und ganz zum Schluss würde ich versuchen, mit der sehr, sehr alten Dame dennoch mal ins Gespräch zu kommen, ihr Wissen anzuzapfen, um zu erfahren: Wie viele Milliarden €uro mehr müsste unser Staatswesen aufbringen für Sicherheit und inneren Frieden, wenn der Sozialstaat abgebaut würde?