Himmel der Nächstenliebe, Boden der Tatsachen – Spekulatives über Bürgergeld

Screenshot: Bürgergeld. Verein für soziales Leben

Laut KI, wie sie von Google zur Verfügung gestellt wird, liegt die durchschnittliche Summe des Bürgergeldes aktuell (Juli 2025) bei 647 € für Frauen, 637 € für Männer. Um zu realisieren, wieviel das ist, kann ich versuchen, eine Weile davon zu leben. Um zu erfahren, wieviel ich tatsächlich bekommen würde, müsste ich schon einige Unterlagen zur Verfügung stellen. Um zu wissen, was es bedeutet, müsste ich in die Lage kommen.
Auch wenn das Bürgergeld Anlass gibt, die Wirklichkeit in unendlichen Berechnungen einzufangen, so bewegen die Vorstellungen sich doch in bestimmten Bahnen. Zwar stimmt in der Wortbildung das politische mit dem ökonomischen Subjekt zauberhaft überein, aber der Zauber bedient sich wohl bei der Ambiguität des Genitivs, so dass unklar bleibt, ob es sich um das Geld des Bürgers oder doch bloß um Geld für den Bürger handelt, ersteres ein einfacher Besitz, letzteres aber ein komplexes Verhältnis, bei dem das Bürgergeld zum Objekt des doppelten Vergleichs mit Arbeitsentgelt und Lebenshaltungskosten wird. Im Pingpong des wechselnden Bezugs entfaltet sich das Drama.

Ein Kollateralschaden ist die Entwertung der Arbeit durch das Bürgergeld. Als Aufwertung gemeint, Anerkennung einer von Erwerb und Besitz unabhängigen Würde, hat der Fortschritt zu einer Fülle nachholender Erörterungen geführt. Als tückisch hat sich dabei die unüberwindbare Konkretheit der Zahlen erwiesen – „Für so und so viel Euro, die er/sie bekommt, muss ich so und so viel arbeiten“ –, ebenso der nicht wegzudenkende Eindruck der Schenkung: „Für das, was er/sie geschenkt bekommt, muss ich arbeiten“ oder „Wofür ich arbeiten muss, das bekommt er/sie geschenkt!“ Dass hierbei Äpfel und Birnen verglichen werden (vgl. die Präsentation von Johannes Steffens skrupulösem Vergleich, „Wer arbeitet, hat immer mehr), wird überdeckt durch die nicht wegzuredende Summe. Denn 647 (637) € sind nun einmal 647 (637) €.

Aber nicht der Frust, wie er im Kalauer „Haben oder nicht haben, das ist hier die Frage“ persifliert wird, hat das größte Gewicht, sondern ein Ressentiment, wie es in „umsonst“ zum Ausdruck kommt, bilden hier „kostenlos“ und „vergeblich“ doch ein Amalgam, das nichts und niemand auf dieser Welt wird auflösen können. Es macht sich in Überlegungen Luft, denen das Fatale auf den ersten Blick nicht anzusehen ist: „Bis 647 (637) Euro arbeite ich für umsonst, von da an werde ich bezahlt.“ Oder: „Bis dahin (ab da) bräuchte ich eigentlich nicht zu arbeiten.“ In weitergehenden Folgerungen: „Wäre es also nicht korrekt, wenn jede(r) 637 (647) Euro umsonst bekäme und lediglich, was er/sie darüber hinaus benötigt, erarbeiten müsste?“

Der Begriff des Dazuverdienens kommt hier ins Spiel, auch er ein Zauberwort, haftet ihm doch ein Moment von Freiwilligkeit an, so als handelte es sich um einen Bonus, über den man nach Gusto verfügen kann. Dabei heißt es: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen…. Allemal vertrauter wäre der Gedanke, für das Notwendige arbeiten zu müssen, aber nicht für die so genannte gesellschaftliche Teilhabe. Die ist zwar mit Geld nicht aufzuwiegen, als reine Konsumzeit und zum Erlebnispark aufgemotzt aber unerhört kostspielig. Der vom Arbeitsethos geprägte Erwachsene mag die Inszenierung der gesellschaftlichen Teilhabe ablehnen. Er will nicht auf den Rummelplatz geschickt werden. Immerhin geht es nicht um ein Spendieren, sondern um eine Investition in das Dasein der Gesellschaft.

„Haben Sie Einkommen?“, „Sind Sie Bürger?“

Bürgergeld, das Wort hat einen langen Weg hinter sich. Auf einmal ist es da und man müsste es anstarren wie eine Erscheinung: Warum hat man, was es bedeutet, nicht immer schon so bündig, so minimalistisch ausgedrückt? Eigentlich bloß eine Begriffsgemeinschaft wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe, bezaubert es mit seiner Unbefangenheit, seiner Natürlichkeit. Was bekommt der Bettler? Almosen. Die Bedürftige? Eine Spende. Der Bürger? Bürgergeld. Der Weg führt aus dem Dschungel der Unterscheidungen – übrigens auch aus dem Himmel der Nächstenliebe − auf den Boden der Tatsachen. Das Bürgergeld kommt dem Bürger zu, es ist nicht für ihn, sondern seins.

Was den Bürger, abseits der Rede der Philosophen, ausmacht, das war ausgerechnet in der Frage der Ämter auf den Punkt gebracht: „Haben Sie Einkommen?“ Sie war intrikat (lat. indricare „verwirren), einerseits beiläufig, wurde sie in der Regel doch nur gestellt, damit sie verneint werden konnte, andererseits eine Drohung, da sie auf einen privaten Fundus zielte, etwas, was vor dem staatlichen Zugriff geschützt werden sollte. Ein kluger Staat ignorierte es. Das war Friedenspflicht, wie sie von ihm ausging. Nimmt man das Bürgergeld dagegen beim Wort, dann löst sich die latente Feindseligkeit auf, geht es doch um das, was, wenn es nicht alle haben, doch allen zusteht, ein Einkommen in der unspektakulären Form des Geldes. Will das Amt unbedingt etwas wissen, und soll die Frage nicht länger „Haben Sie Einkommen?“ sein, dann kann sie nur noch „Sind Sie Bürger?“ sein. Sie ist albern, könnte sie doch nur mit „Sonst stünde ich ja nicht vor Ihnen“ beantwortet werden. Aber sie ist hoch gefährlich. Bei allgemeiner Anerkennung des Bürgers stellt sie die Existenzberechtigung dieses Bürgers infrage. Sie spaltet, was vorher bloß sortiert wurde. Sie rüttelt an den Grundfesten der Gesellschaft. Aus schierer Bedürftigkeit macht sie mangelnde Legitimität, fehlende Daseinsberechtigung.

Vormals war Bedürftigkeit kein Legitimationsproblem, es war ein Zuweisungs-, ein Zuteilungsproblem. Es war auch kein Wertschöpfungsproblem. Wer an der Wertschöpfung nicht teilnahm, konnte immerhin am Konsum beteiligt werden. Bürgergeld, in der angedachten Form des „bedingungslosen Bürgergelds“, will nicht reich machen, nur mit jener Summe ausstatten, die die substanzielle Gleichheit der Bürger, nicht ihre akzidentielle Ungleichheit beglaubigt. „Haben Sie Einkommen?“ „Ja, ich bekomme Bürgergeld.“ Aber – hier kann nur vermutet werden – unter dem Druck einer dynamischen Ungleichheit, an der die primitive Anhäufung von Reichtum und die Anonymisierung von Transaktionen und Finanzbewegungen Anteil haben, erodiert das Bürgerliche. Die Emphase, die sich an den Bürger geheftet hatte, verliert ihren Adressaten.

Die Ungleichheit, ehemals in der Bedürftigkeit stillgestellt, wandert in die Zugehörigkeit: Geld soll bekommen, wer im nationalen Sinn Berechtigter ist. In der Bezeichnung des Bürgergelds fehlte das Ausschlusskriterium. Dass es bedingungslos vergeben werden sollte, entsprach seiner inneren Logik. Erneut und unter anderem Bezug installiert, wird es mächtig. Indem der Staat den Gegensatz zur Gleichheit, auf der er fußt, in Gesetze fasst, die ihn beschreiben, verliert er sich in einem Widerspruch. Er verliert den Halt, den er an sich selbst hat. Ausgestattet mit einem fulminanten kategorialen Apparat, Kant und Hegel im Gepäck, einem Heer von Rechtslehrern im Gefolge, fällt ihm nichts Besseres ein, als Mauern zu errichten, Wächter an die Grenzen zu stellen, die die innere Stratifizierung durch die äußere ersetzen sollen, auf dass er wieder auf gleich ist. In einer Welt, die, ins Schlagwort gefasst, seit dem 19. Jahrhundert auf Internalisierung, seit dem 20. auf Globalisierung, seit dem 21. auf Mediatisierung setzt, ist das nicht einfach falsch, sondern regressiv, auf eine fundamentale Weise irrtümlich, in der Anmutung wie nicht wirklich. Es ist „verkehrte Welt“.

Die Lösung wird in Abschiebung statt Anerkennung gesucht

Im Abseits einer immer noch hochgehaltenen Logik, in der das eine aus dem anderen folgt und ein Rückwärts nicht vorgesehen ist, etabliert sich ein originäres So-tun-als-ob in einem wörtlich so aufgefassten Raum: Was nicht zu bewältigen ist, wird verlegt. Die Lösung wird in Abschiebung statt Anerkennung, in Einhegung und Umsiedlung, in einem Draußen gesucht, worin Materielles und Metaphysisches sich absurd vermischen. Auf die Schnelle ist damit zwar ein Ausweg gefunden, im Bemühen ausgerechnet um eine durchsichtige Ordnung aber die Orientierung, der „Durchblick“, verloren. Was man tut, das kann man nicht mehr einholen. Aber nicht nur gebärdet der Staat, je mehr er durch seine inneren Vorzüge verführt, sich desto feindseliger nach außen. Das Verhältnis dreht sich auch um. Das Prinzip der äußeren Bedrohung wird invasiv. Es wird zur Matrix für das Management des Staates, von der Notwehr an der Grenze bis zum Verwaltungshandeln im Inneren.

Nicht nur der spektakuläre Übergriff, der tragische Zwischenfall, auch die Dynamik der Begriffe bildet die Kalamität ab. Grenze und Geltung, etwa, werden aufeinander bezogen, wenn es heißt, dass die Abgrenzung nach außen die innere Gleichheit ermöglicht. Aber in Wahrheit werden sie gegeneinander mobilisiert. Eigentlich haben sie im zeitgenössischen Staat nichts miteinander zu tun. Grenze ist Derivat eines Systems, das an den Anfang gehört, wird Ungleichheit im Zeitalter des Fortschritts doch nicht länger ins System außen/innen, sondern ins System oben/unten gefasst. Wird die Reihenfolge umgedreht, dann kann dies nur in einem Akt der Willkür, sinnlosen Fuhrwerkens, enden. Prompt stellen sich die Dinge auf den Kopf. Nur dem Schein nach werden sie noch gestaltet. Was entsteht, „ist der reinste Unsinn, Mann. Ich fang noch mal von vorne an.“ (Peter Hacks, Die Katze wäscht den Omnibus. Berlin, DDR, 1972) Will man an der geschichtsphilosophischen Betrachtungsart festhalten, muss man tatsächlich noch einmal anfangen und zuallererst die Leerstelle markieren: früher…, gestern…, heute… So wäre wenigstens das Erratische beseitigt, das System der äußeren Abschottung nach ganz vorne oder, wie die Kinder sagen, „ganz hinten“ gestellt.

Bei dieser Anstrengung würde deutlich, dass das Prinzip der Grenzziehung an sich an seine Grenze gekommen ist. Wie ein Gebirge türmen die Probleme sich nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor denen auf, die sich selbst verwalten dürfen. „Für mich gibt es unendliche Optionen,“ sagt Helena, eine von denen, die sich stellvertretend für „Frauen und Mädchen mit ADHS“ äußert. Nicht eine obsolet gewordene Hierarchie nervt sie, sondern „dieses konstante Hin und Her in meinem Kopf“ (Hanna Vinokurow, Ä & K 196/197, 2025, 124-131,128.) Die diagnostische Kreativität in Sachen Neurodivergenz zeigt, dass das Denken dabei ist, sich ein anderes Schema zu erarbeiten.

Vergleichbar dem Stimmzettel, ein Ausdruck der Gleichheit

Das Bürgergeld wirkt, als gingen all diese Stürme es gar nichts an; soll man sagen, als hätte es sie hinter sich? Die Kargheit des Begriffs kontrastiert mit der Verschwommenheit der früheren Bezeichnungen, konnte man sich seinerzeit doch bereits zwischen „gesellschaftlich“ und „sozial“ verstolpern, wobei ausgerechnet ersteres eine gebildete Note hat, das lateinische Wort aber locker, daher geschwätzt klingt. Unabhängig von solcher Beckmesserei: Hätte man nicht zuallererst „das Soziale“ herausholen müssen aus dem Wortumfeld institutionalisierter Nächstenliebe, in dem es Anspielung auf Gemeinschaft statt Gesellschaft, auf Zuteilung statt Aufteilung, auf Teilhabe statt Teil sein ist? Oder „das Gesellschaftliche“ aus dem akademischen Milieu herauslösen, wo es die Aura abstrakter Allwissenheit umgibt? Am besten beides gleichzeitig versuchen?

In der Rede vom Bürgergeld scheint die Aufforderung befolgt. Indem es vom Bürger spricht, bezieht es den Einzelnen auf die Gesellschaft. Indem es von Geld redet, nennt es den Bezug. Für den, der es bloß als Mittel gelten lässt, hat das etwas Kränkendes; wer will schon „aufs Geld reduziert“ werden! Aber als wortschöpferische Trouvaille, als glücklicher Fund kann es durchaus als Wegweiser dienen. Ist Geld als Tauschmittel Bemessungsgrundlage für Ungleichheit, so Bürgergeld, vergleichbar dem Stimmzettel, ein Ausdruck der Gleichheit. Mit ihm tauscht man nicht nur, es entspricht auch. In quantitativer Hinsicht wenig, ist es in qualitativer viel; es ist das Mindeste. Geld wird gehandhabt, es wird vermehrt oder vermindert, ausgegeben oder eingenommen, aufgeteilt oder im Ganzen überwiesen. Als Bürgergeld kann es nur aufgefasst werden.

The Swiss campaigning for a basic income set world record on 14th May 2016 by unveiling the world’s largest poster. © Julien Gregorio

Die gewöhnliche Lesart lautet: Wer Geld bekommen will, der muss auch Bürger sein wollen (mit Kant: Man muss so tun, als ob man es wäre). Aber erst rückwärts gelesen wird ein Schuh draus: Wer Geld bekommt, ist Bürger. Wenn er seiner Bestimmung als Bürger nicht entkommt, dann muss er bedingungslos Bürgergeld kriegen; bedingungsloses Grundeinkommen eben.
Solange er auf Sozialhilfe angewiesen war, war er nur bedingt Bürger, der Spielraum für die Reservatio mentalis war groß. Er war uneins mit dem Geld, weil es ihm fehlte, und uneins mit der Gesellschaft, die es ihm nur tropfenweise gewährte. Nicht-Haben und Nicht-Dazugehören waren eins, das war eine schöne Übereinstimmung. Auch das Sozialamt gehörte nicht recht dazu. Selbst wenn die „Beamten“ sich spreizten, war es irgendwie abgehängt. Abhängigkeit schafft Spielraum für Abgrenzung. Sie rechtfertigt Ansprüche, vermittelt ein gewisses Vertrauen. Auf die traditionelle Frage, warum haben andere mehr, als sie brauchen, und ich habe nichts, gibt noch der moderne Sozialstaat die im Ständestaat eingeübte Antwort: damit sie davon abgeben können.

Spannend wird es erst, wenn die Strategie, sich über den Unterschied zu definieren, nicht mehr funktioniert. Ist alles eins, dann fehlt dem Begreifen der Halt, der Wut der Grund, der Entrüstung der Adressat. Die Erkenntnis muss sich eine andere Aufgabe suchen. Das Bürgergeld kann Anregung geben. Über Geld zu reden, gilt als entfremdend. Über Geld spricht man nicht, es sei denn, man will ran an die Wurzeln der Ungerechtigkeit. Dabei ist es nur ein Ausdruck der abstrakten Natur von Gleichheit. Was das für die eigene Natur bedeutet, dem kann der Bürger nachgehen, er kann sich darein vertiefen. So kann er sich der eigenen Abstraktheit nähern, die er gewohnt ist, als Quelle der Sichselbstfremdheit zu hassen. Er mag entdecken, dass ihm das Spaß bringt, hat Abstraktion doch mit Funktionslust zu tun, mit Billy Wilders „Eins, zwei, drei“, der puren Lust, die das Zählen gewährt, mit der Entdeckung der eigenen Person als Mechanismus. Gutmütige Mathe-Lehrer versuchen auf YouTube, blockierten Schulkindern das Feindbild zu nehmen, indem sie vorführen, dass Mathematik keinen verborgenen Sinn hat, nur Regeln, nach denen sie funktioniert. Wer auf das Geheimnis nicht verzichten kann, bei dem wandert es als Unverständliches in die Erklärung ein. Wenn er dabei mit einer Voreinstellung der Schulkinder rechnen kann, dann nur, weil sie im Gegenstand nicht vorkommen. Das Zauberwort heißt: Response. Es muss etwas antworten. Nur der Appell an die eigene Abstraktheit zeitigt einen Fortschritt.

 *Siehe auch: Ilse Bindseil: »Wenn ich einmal reich wär. Über die so ganz andere Unmöglichkeit eines harmlosen Traums.« In: Phase 2, 56 (2018), 20–22.

Ilse Bindseil
Ilse Bindseil ist Autorin und Redakteurin, sie war Lehrerin für Deutsch, Französisch und Philosophie an der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin-Schöneberg. Seit Ende der sechziger Jahre Veröffentlichungen im gesellschaftstheoretischen Bereich von Philosophie, Politik, Psychoanalyse, seit Ende der siebziger Jahre dazu im Bereich der schönen Literatur. Seit Ende der neunziger Jahre Redakteurin der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation.

1 Kommentar

  1. Glänzende Gedanken, funkelnde Formulierungen! Was gibt es zu meckern? Von mir aus nichts, nur nachzufragen, wie das gemeint ist mit der Grenze und der Geltung, die nicht aufeinander bezogen werden sollen… Wie kann man dieser Kalamität entgehen, wenn doch Weltgesellschaft und Nationalstaaten aufeinandertreffen? Wenn sich zwar von der Gesellschaft im Singular sprechen lässt, aber nicht vom Staat, bei dem wir es aktuell mit fast 200 zu tun haben?
    Trotz aller Bestrebungen, sich auch international und global zu organisieren, hat es die Politik, anders als zum Beispiel Wirtschaft und Wissenschaft, nicht geschafft, die Fokussierung auf Nationalität zu überwinden. Noch immer sind Bürger nur Nationalstaatsbürger, wie sehr sie individuell als Global Player unterwegs und familiär multikulturell zugange sein mögen.
    1948, auf den Gräbern und Trümmern des Zweiten Weltkriegs, rief (der Bomberpilot) Garry Davis die „Weltbürgerbewegung“ ins Leben. Vor den Vereinten Nationen, deren Vollversammlung er störte, erklärte er, er sei ihr erster Bürger. Worauf die UN feststellten, sie hätten keine Bürger, nur Staaten. Aber Davis beharrte darauf, Weltbürger zu sein „und wurde von Menschen wie Albert Einstein, Albert Camus, Jean Paul Sartre, André Breton, Albert Schweitzer, André Gide und vielen anderen Prominenten unterstützt und von hunderttausenden Bürgern getragen: die Weltbürgerbewegung, angeführt vom ‚Weltbürger Nummer eins‘: Garry Davis“ entstand. https://bilder.deutschlandfunk.de/FI/LE/_e/bf/FILE_ebff73342075122f7ea0b90a195c0692/11-30-zf-weltbuergerbewegung-pdf-100.pdf). Weltbürgerpässe wurden gedruckt und am 1. Januar 1949 wurde das Internationale Weltbürgerregister in Paris eröffnet. „Innerhalb von zwei Jahren ließen sich 750.000 Menschen aus mehr als 150 Ländern als Weltbürger registrieren“, weiß Wikipedia.
    Es ist bei einer historischen Fußnote geblieben. So wird auch das Drama um Arbeitsentgelt, Bürgergeld und Lebenshaltungskosten weiterhin nur auf nationalen Bühnen gespielt mit Helden der Arbeit in den Hauptrollen und sozialer Gerechtigkeit als Statisten.
    p.s. André Gorz (1923-2007) schreibt in seinem „Brief an D. – Geschichte einer Liebe“ (2007 Rotpunktverlag): „Unsere mühevollen Jahre haben im Sommer 1949 ein vorläufiges Ende gefunden. Weil wir alle beide für die ‚Weltbürger‘-Bewegung stritten und ihre Zeitung auf den Straßen Lausannes ausriefen, machte mir ihr internationaler Sekretär, René Bovard, der wegen Wehrdienstverweigerung im Gefängnis gesessen hatte, den Vorschlag, sein Sekretär in Paris zu werden: der Sekretär des Sekretärs. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich zu einem normalen Lohn eingestellt.“

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