In zahllosen deutschen Fernsehsendungen zum Thema Corona treten immer dieselben 20 bis 30 Männer und Frauen auf, Virologen, Politiker, Publizisten. Warum gibt es beispielsweise kein zwei- oder drei stündiges Fernseh-Duell zwischen Christian Drosten, dem deutschen Virologen-Guru, und dem schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell? Es könnte ein Höhepunkt an demokratisch-sachlicher Aufklärung sein.
Wenn Schweden bisher in deutschen Medien eine Rolle spielt, dann meist um zu belegen, wie verheerend und verantwortungslos der dortige Weg der Pandemiebekämpfung ist. Schweden als abschreckendes Beispiel. Höhepunkt der Vorwürfe: Es würden dort vor allem die älteren und alten Menschen geopfert. Der freie Journalist Philip Franzen, ein Schwede, versucht in einem Text, veröffentlicht im Neuen Deutschland, das Für und Wider des schwedischen Weges abzuwägen. Seine These: Die schwedische Strategie sei Ausdruck der dortigen Kultur in Politik und Gesellschaft.
Unter der rotgrünen Regierung gab es in dem Land mit etwa 10-Millionen Einwohnern nie einen Lockdown; auch keinen partiellen wie in Deutschland. Schweden setzte von Anfang grundsätzlich anders als Deutschland mehr auf flächendeckende Informations- und Aufklärungskampagnen, nicht auf Schul-, Produktions- und Grenz-Schließungen oder Reiseverbote. Es gab und gibt Empfehlungen von Seiten der Gesundheitsbehörden. Die These des Autor: Da in Schweden Behörden und Staat sehr hohes Vertrauen genießen, werden auch deren Empfehlungen eingehalten. Was jedoch unbestritten ist: In Deutschland gibt es bisher knapp 10.000 Tote, im viel kleineren und zudem gering besiedelten Schweden sind es knapp 6.000 Menschen, die an oder mit Covid-19 starben. Hier ein ausführlicher Vergleich der „Krisenperformance“ zwischen Deutschland und Schweden auf dem Blog von Norbert Häring mit Stand August 2020.
Die psycho-soziale Dimension der Pandemie, welche die schwedische Regierung in ihrer Politik besonders beachtet, wird auch von Fachleuten wie dem kanadischen Autor Steve Taylor in seinem „Porträt der nächsten Pandemie“ in den Vordergrund gerückt.
In diesen Tagen wird auch in Deutschland prominenter ein Thema diskutiert, das bisher eher am Rande eine Rolle spielte: Wie können Alte und Pflegebedürftige in Heimen geschützt werden, ohne sie wie bisher sozial weitgehend isolieren zu müssen: Eine Diskussion in der ARD, zu der es auch eine beeindruckende Dokumentation gibt.
Was ist überhaupt primäres Ziel
In einer Artikelserie (drei Teile) hat jüngst das Schweizer Online-Magazin infosperber viele Informationen rundum die Corona-Pandemie zusammengetragen: Sollen (steigende) Fallzahlen allein Maßstab für Entscheidungen über Geschäfts- und Schulschließungen sein? Muss zu diesen Zahlen nicht zwingend kommuniziert werden, wie hoch die Zahl der getesteten Personen ist und wie viele an Symptomen leiden? Wie sinnvoll ist die Containment-Strategie, also die Strategie möglichst viele Menschen, auch solche ohne Symptome, zu testen? Oder ist es nicht besser — auch wegen begrenzter Kapazitäten — sich fast nur auf die höchst gefährdeten Gruppen und deren Umfeld (Angehörige, Pflegende, Ärzte) zu konzentrieren? Fragen, die im infosperber zu der übergeordneten Frage führen: Was ist überhaupt das erste Ziel staatlichen Handelns. Die möglichen Antworten: Möglichst wenige Infizierte? Möglichst wenige Covid-19-Tote? Keine Überlastung des Gesundheitssystems, um Triage-Entscheidungen zu verhindern? Oder generell möglichst wenige Tote, egal woran sie sterben könnten? Mit jedem Ziel rücken bestimmte Maßnahmen in den Mittelpunkt, werden andere unterlassen oder unwichtiger. Beispiel: Wäre letzteres das Ziel, dann dürften Ressourcen im Gesundheitssystem nicht zugunsten der Covid-19-Patienten und zu Lasten von Patienten umgeschichtet werden, die schwer an anderen Krankheiten leiden, wie es in diesem Frühjahr erfolgte und wie es jetzt wieder droht.
Einen aktuellen Faktencheck gibt es in der neuen Ausgabe von Publik-Forum. Und dieses Papier von sechs Wissenschaftlern vom Frühjahr (April) ist auch heute noch mit Gewinn zu lesen, weil sie aus verschiedenen Fachrichtungen auf die Pandemie schauen; eine Herangehensweise, die wieder selten geworden ist.
Vielleicht ist die Idee von alternativen Wegen durch die Krise, die konzeptionell umfassend reflektiert sind und die sich politisch gezielt steuern lassen, der Komplexität der Situation gar nicht angemessen? Vielleicht tasten sich Schweden wie Deutschland mehr oder weniger auf ihre Weise durch die Krise?
Zu dem am Ende verlinkten Thesenpapier von Schrappe et al. gibt es inzwischen übrigens drei Nachfolge-Papiere und ganz aktuell eine ad-hoc-Stellungnahme: https://www.monitor-pflege.de/news/ad-hoc-stellungnahme-zur-ministerpraesidenten-konferenz