Metallarbeitgeber treiben den Widersinn auf die Spitze

Screenshot: Website Gesamtmetall

Der größte Arbeitgeberverband Deutschlands in der Privatwirtschaft, der Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie, Gesamtmetall, hat einen neuen Präsidenten gewählt (eine Präsidentin gab es noch nie), der am 1. Januar 2026 sein Amt antreten wird. Das ist ein eigentlich ein Routinevorgang. Dass es diesmal keine Routine ist, liegt an einem sehr wichtigem Detail: Der neue Gesamtmetallpräsident, Dr. Udo Dinglreiter, ist Mitinhaber und Geschäftsführer eines Maschinen- und Anlagenbauers in Bayern mit circa 200 Beschäftigen und mehreren Standorten, der nicht tarifgebunden ist. Ein Novum in der 135-jährigen Geschichte, wie Gesamtmetall selbst herausstellt: Er sei „der erste aus einem nicht tarif­ge­bun­denen Unter­nehmen“.

Diese Art der Mitgliedschaft sogenannter OT-Mitglieder (ohne Tarif) ist eigentlich widersinnig. Denn die Kernaufgabe der Arbeitgeberverbände, der Existenzgrund, dessentwegen sie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, ist es, Tarifverhandlungen zu führen und Tarifverträge abzuschließen. Nach 1945 waren Arbeitgeberverbände ebenso wie Gewerkschaften die Grundlage der Tarifautonomie, also der staatsfreien kollektiven Regelung von Entlohnung, Arbeitszeit und anderen wesentlichen Arbeitsbedingungen. Selbstverständlich waren alle Mitglieder der Arbeitgeberverbände tarifgebunden, Flächentarifverträge wurden für ganze Regionen und Branchen abschlossen. Ein Haustarifvertrag wie bei der Volkswagen AG war eher die Ausnahme.

Nur mit Flächentarifverträgen wird der wichtigste Zweck eines Tarifvertrages erfüllt, arbeitgeber- und arbeitnehmerseitig Löhne und Gehälter sowie Arbeitszeiten und andere wesentliche Arbeitsbedingungen dem zwischenbetrieblichen Wettbewerb zu entziehen. Eine OT-Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden gibt es seit gut fünfzig Jahren. Sie ist in doppelter Hinsicht problematisch1. Die Arbeitgeberverbände unterhöhlen ihren eigenen Daseinszweck und legen die Axt an die Wurzeln des Tarifsystems. Die Öffnung der Arbeitgeberverbände für OT-Mitglieder ist eine Begleiterscheinung der neoliberaler Deregulierung und Flexibilisierung ab Anfang der 1980er Jahre. Ihre Zahl ging nach der Wiedervereinigung 1989/90 noch einmal sprunghaft nach oben. Parallel dazu ging die Tarifbindung deutlich zurück. Lag sie in den 1960er und Anfang der 1980er Jahre noch bei 80 bis 85% in der Gesamtwirtschaft, Ende der 1990er Jahre immerhin noch bei 76% im Westen und 63% im Osten, liegt sie heute im Westen bei etwa 50%, im Osten bei gerade 40%.

Ein verheerendes Signal

Um der erodierenden Tarifbindung in allen Ländern Europa entgegenzuwirken, hat der Rat der Europäischen Union 2022 eine Mindestlohnrichtlinie beschlossen. Sie nennt auch das Ziel , die Tarifbindung in den Mitgliedsländern auf 80% anzuheben. Die Umsetzung dieses Ziels ist, wenn auch mit großer Zurückhaltung formuliert, Teil des jetzigen Koalitionsvertrages und Regierungsprogramms. Wenn in dieser Situation der Vertreter eines Unternehmens ohne Tarifbindung zum Präsidenten wählt wird, dann ist das ein verheerendes Signal.

Dinglreiter bekennt sich halbherzig zum Flächentarifvertrag, der aber nicht für jedes Unternehmen passe, und betont, dass er alle Mitglieder vertreten müsse.2 Er öffnet damit einem weiteren Schub der OT-Mitgliedschaft Tür und Tor und setzt bislang tariflich gesicherte Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen noch stärker dem Wettbewerb aus. Für künftige Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie ist noch mehr Druck auf betriebliche Flexibilisierung zu erwarten, die den Tarifvertag als Mindestnorm entleert und ihm immer stärker den Charakter einer bloßen Zielvorstellung oder Empfehlung beimisst, also keine Sicherheit für die Beschäftigten bietet. Die Tarifautonomie, die auf unmittelbar und zwingend geltenden Tarifverträgen beruht, kommt als ein Eckpfeiler des Sozialstaates ins Wanken. Die Tarifbindung, die sich vor allem auf den Flächentarifvertrag stützt, droht als ein Fundament der Sozialpartnerschaft, des sozialen Zusammenhaltes und der positiven Wirtschaftsentwicklung, geschleift zu werden.

Journalist:innen, unabhängig und überparteilich, geben einem Arbeitgeberverband Gesicht und Stimme (Screenshot: Website ISNM)

Das ist aber nur die eine Seite. Die Metallarbeitgeberverbände greifen auch heftig in die Sozialstaats-Debatte ein, über ihr aggressives „Kind“, die „Initiative Neue Sozial Marktwirtschaft“ (INSM). Sie wurde von den Metallarbeitgebern 1999/2000 gegründet und wird von ihnen bis heute finanziell gut ausgestattet – vermutlich aus den nicht steuerpflichtigen „Aussperrungsrücklagen“, auf die zurzeit wohl kaum zurückgegriffen werden muss. Die Initiative stritt gerade heftig “Seit´an Seit“ mit der Jungen Union und den entsprechenden Unions-Abgeordneten gegen den Rentenkompromiss des Koalitionsvertrages und den Gesetzesentwurf der Bundesregierung. In plakativen Anzeigen, für die sich Wirtschaftswissenschaftler:innen und Journalisten:innen hergegeben haben, wird kühn behauptet, dass nahezu oder fast alle der jeweiligen Zunft gegen das Rentenpaket seien3.

Journalist:innen, unabhängig und überparteilich, geben einem Arbeitgeberverband Gesicht und Stimme (Screenshot: Website ISNM)

Die Tarifautonomie und der Sozialstaat des Grundgesetzes scheinen für immer mehr Kräfte in den Unionsparteien und in der Wirtschaft eine unerträgliche Bürde zu sein, nicht mehr der essenzielle Teil des demokratischen Staates und der demokratiefördernden Gesellschaft. Demokratie und Sozialstaat stehen nach dem Grundgesetz in einer unauflöslichen Verbindung. Und die empirische Sozialforschung belegt, dass mit dem Wegfall gesicherter Arbeitsbedingungen und sozialstaatlicher Sicherung die Neigung zu rechtsextremen und rechtspopulistischen Positionen zunimmt. Weder Tarifautonomie noch Sozialsystem dürfen den Wechselfällen der wirtschaftlichen Entwicklung zum Fraß hingeworfen werden.

Der Ausfallschritt des Verbandes der Familienunternehmer

Das Tarifvertragssystem hat sich immer als hochflexibel erweisen, das zeigt die Praxis der IG Metall in Krisenzeiten. Aber es darf nicht zum Einfallstor für die Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbedingungen werden. Die Sozialsysteme waren über Jahrzehnte vor allem durch die paritätische Finanzierung gesichert (die eigentlich eine arbeitnehmerseitige Finanzierung war, denn auch die Arbeitgeberanteile der Sozialversicherung wurden immer den Lohn- oder Arbeitskosten zugerechnet). Wenn das, aus verschiedenen erklärbaren Gründen, nicht mehr richtig funktioniert, kann man die Leistungen und Ausgaben nicht einfach den geringeren Einnahmen aus dieser Finanzierung anpassen, sondern muss andere Lösungen finden.

Wer das nicht will, wer sich hier verweigert, hebelt nicht nur den Sozialstaat aus, sondern untergräbt die Demokratie. Der Verband Die Familienunternehmer hat in einem Ausfallschritt den Dreiklang orchestriert: Er ist vehement gegen Flächentarifverträge, er fordert die sozialstaatlichen „Belastungen“ deutlich zu reduzieren und hat zumindest versucht, die Beziehungen zur AfD zu normalisieren. Letzteres ist nicht gelungen, aber das Denken, das dahintersteht, scheint sich in Teilen der Wirtschaft und der Unionsparteien und auch in einigen Medien immer stärker zu verbreiten. Ihnen allen sei deutlich ins Stammbruch geschrieben: Es geht nicht nur um den Sozialstaat, es geht um die Zukunft der liberalen Demokratie in Deutschland – und in Europa.


1  Siehe dazu K. Lang/ S.Schaumburg, Handbuch Tarifvertrag. Geschichte-Praxis-Perspektiven, Frankfurt/Main 2022, S. 175 ff.
2   Website Gesamtmetall gesamtmetall.de
3   Website insm.de, Aktuelles – Kampagnen, Listen to the press 28. November 2025; Listen to the science

Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

1 Kommentar

  1. Vielleicht lag Bärbel Bas bei den Jusos mit ihrer politischen Einschätzung zur Rolle der Arbeitgeberverbände in diesem Land doch nicht so falsch. Aus meiner Erfahrung aus nun über 60 Jahren aktiver Gewerkschaftsarbeit in verschiedenen Funktionen leite ich die Erkenntnis ab: Sozialpartnerschaft funktioniert immer nur dann, wenn die Gewerkschaften stark genug waren/sind, der Arbeitgeberseite auf Augenhöhe entgegenzutreten. Grundvoraussetzung dafür ist die eigene Stärke. Die gewinnt man u.a. dann, wenn man „nah bei den Leuten“ ist. Lässt diese Stärke nach, dann ist es in weiten Teilen der Deutschen Wirtschaft mit der Sozialpartnerschaft ganz schnell vorbei.

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