Vom intellektuellen Gestus des Durchblicks

Bild: geralt auf Pixabay

Wie sich Antisemitismus heute zeigt und welche Verantwortung Hochschulen in Forschung, Lehre und akademischer Kultur tragen, waren die Fragestellungen des Workshops „Antisemitismus und Universität“, der im Dezember 2025 an der Bauhaus-Universität Weimar stattfand. Bruchstücke dokumentiert den Vortrag, den Ilse Bindseil in ihrer unverkennbaren Komposition aus Klärung und Selbstaufklärung im Rahmen dieser Veranstaltung hielt. (at)

Während ich zum wiederholten Mal hin und her dachte, was ich auf der hiesigen Tagung beitragen und ob von mir überhaupt etwas kommen könnte, was im Innern dieser Veranstaltung Platz hätte, das heißt, aus einer grundlegenden Übereinstimmung zwischen ihr und mir heraus entstanden wäre, da fiel mir als by-product ein weiteres Bausteinchen der Selbstanalyse in den Schoß, die meine Bemühungen um konsistentes Nachdenken schon immer begleitet. Es betraf eine Mini-Szene aus den glorreichen 68er Jahren, in denen das Urvertrauen in die Berge versetzende Kraft der Aufklärung auch mich erfasst hatte, die ich aber erst jetzt verstanden habe.

Bei einem Besuch zu Hause in der Provinz hatte mir eine Tante, die in unserer anspruchsvollen Familie keinen guten Stand hatte, dafür über die Vorkommnisse in unserer Kleinstadt bestens Bescheid wusste, erzählt, die Eltern meiner ehemaligen Klassenkameradin E., von der ich ewig nichts gehört hatte, seien ja so unglücklich, weil in den USA, wohin die Familie in der Zwischenzeit ausgewandert war, die Tochter sich verlobt hätte. Ja und, fragte ich in dem ungezogenen Ton, in dem ich mit meiner Tante verkehrte. Mit einem Juden, sagte sie, so als wäre damit alles gesagt, und ließ mich sprachlos zurück. An diese Szene habe ich immer wieder einmal gedacht.

Meiner Tante war nicht beizukommen

Aber erst jetzt verstehe ich: Bei dem Unglück, das sie so lebhaft empfand, spielte, was unter Hilbergs Begriff der „Vernichtung der europäischen Juden“ um die Zeit längst zu einem Bestandteil meines Alltagsbewusstseins geworden war, noch in anderer Weise als der viel zitierten Verdrängung eine Rolle, nämlich gar keine. Für sie fand das Unglück, von dem sie ja lediglich berichtete, wie in ihrem eigenen Leben statt, damals, als sie jung war, sagen wir um die Wende zu den dreißiger Jahren, als sie, die gehobene Tochter im heiratsfähigen Alter, die Erbin, sich in der Weise hätte vergessen können, in der meine Mitschülerin E. das in den USA offenbar in den 60ern getan hatte. „Wenn das mir passiert wäre!“ Der fromme Schauder wirkte bei meiner Tante noch nach. In ihm überlebte mitnichten das Schicksal, das ihr nach einer solchen Entscheidung in Deutschland bevorgestanden hätte, sondern das ins 19. Jahrhundert gehörende Erschrecken über den gesellschaftlichen Verstoß.

Meiner Tante war nicht beizukommen. Sie war, das konnte ich nur staunend feststellen, eins mit ihrem Verstand und ihrem Gefühl. Kritik prallte an ihr ab. Mir kam es vor, als würde ich, so oft ich auf sie schoss, ebenso oft daneben treffen.

Warum mir die Geschichte heute einfällt und ich sie unbedingt erzählen will? Wie es in den Traditionen mündlicher Erzählung üblich ist, will ich von der Frage mit einer anderen Geschichte ablenken. Im Oberstufenfach Philosophie, das ich in Berlin etliche Jahre unterrichtete, sah der Lehrplan für das sogenannte Kurssystem vier unterschiedliche Themenbereiche vor. Nach „Ethik“ war „Geschichtsphilosophie“, in meinem Verständnis Aufklärung, dran. Mit „Ethik“ hatte ich nichts am Hut, Geschichtsphilosophie war mein Thema. Anstatt mich auf den Unterricht vorzubereiten, nahm ich mir vor, das Thema mit dem Fritzchen-Witz anzufangen, den vor vielen Jahren mein Vater beim Frühstück nach einem Kegelabend erzählt hatte. Danach würde sich alles von selbst ergeben. Der Witz geht so:
Fritzchen ist zu Beginn des Naturkunde-Unterrichts gerade noch hinter der mit einem ausgestopften Tier ausgerüsteten Lehrerin in den Klassenraum geschlüpft und hat sich ganz hinten, in die letzte Reihe, gesetzt. Auf die Aufforderung der Lehrerin: Schaut mal genau hin, Kinder, was habe ich euch mitgebracht, meldet er, um sein Zuspätkommen wiedergutzumachen, sich als erster. Eigentlich ist es ja ein Eichhörnchen, sagt er in dem altklugen Ton, den er gewöhnlich draufhat, aber wie ich den Betrieb kenne, wird es wohl das liebe Jesulein sein.

Marterl Schoeffau Kiefersfelden (Foto: Rufus46 auf wikimedia commons)

Weil Philosophie mit Witzen nichts zu tun hat?

Niemand, als ich den Witz erzählte, lachte. Auch in späteren Kursen, wenn ich, von einem eigentümlichen Wiederholungszwang getrieben, sobald die Reihe an die Geschichtsphilosophie kam, immer wieder damit anfing, grinste nicht ein einziger. Dabei war es doch ein schöner antiklerikaler Witz, in dem alles vorkam, Priestertrug ebenso wie das über die Sinne vermittelte Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit. Auch der Seitenhieb auf „die herrschenden Verhältnisse“, die seit den 68er Jahren eine große Rolle spielten, fehlte nicht. Was, also, war so falsch an ihm, dass mir noch das leiseste Lächeln verweigert wurde? Freilich hatten die Berliner Kids der 90er und 00er Jahre mit Religion im Allgemeinen so wenig im Sinn wie mit den Marterln, die in Bayern die Straßen- und Wegränder zierten, im Besonderen. Wenn sie eine Vorstellung von Rebellion hatten, so war sie anders als Fritzchens. Aber mussten sie deshalb so verständnislos tun? Warum wollten sie sich in die Situation partout nicht hineinversetzen? Weil, in ihrer Vorstellung, Philosophie mit Witzen nichts zu tun hatte?

Dazu muss man wissen, dass wir über das Philosophische der Philosophie pausenlos lachten, über die Kapriolen der Logik, insbesondere mein notorisches Scheitern an der Tafel, wenn ich versuchte, meine „inneren Anschauungen“ in eine schlüssige Formel, eine selbsterklärende Skizze zu fassen, ja, in meiner Erinnerung war der Philosophieunterricht ein einziges Gelächter. Nur über den Fritzchen-Witz lachte keiner. Weil Philosophie sich mit Altklugheit nicht verträgt? Urteilen, so erscheint es mir im Nachhinein, war für die Kids gleichbedeutend mit Rechthaberei, mit Besserwisserei. Es versprach ihnen nicht Aufklärung, es war ein Teil der „herrschenden Verhältnisse“. Hier hätte ich einsteigen müssen. Aber das war für mich in der Situation einfach zu schwierig.

Bild: Alfred Le Petit auf wikimedia commons

Wenn ich mir den damaligen Reinfall vor Augen führe, dann merke ich, wie mich die Erinnerung an die Nachkriegszeit einholt, in der man auf harmlose Witze förmlich erpicht war. Was diese Erinnerung mit mir macht, davon könnte ich stundenlang erzählen. Aber könnte ich auch den Witz erklären? Mache ich doch mit links, hatte ich damals gedacht und war dann von einer Hemmung befallen worden, weil ich mich nicht entscheiden konnte, wo ich anfangen sollte: beim Anfang oder beim Ende, bei Kant oder bei Adorno, bei der Aufklärung oder bei der „Dialektik der Aufklärung“, und wie der Esel Buridan zwischen den zwei Heuhaufen hin und her schwankte und den Unterricht verhungern ließ. Was war die Aufklärung, die der Witz leistete, und was die Unwahrheit, die er womöglich weitergab? Diese Frage will ich Ihnen anhand der letzten Geschichte, die ich aus dem Schulleben erzähle, vor Augen stellen. Sie handelt von jugendlicher Aversion gegen die als übergriffig wahrgenommene Betätigung des Intellekts. Reflexion, ja, so könnte man sagen, Intellektualismus, nein. Aber wer wollte das trennen? Für die Kids gab es nichts, was verschiedener gewesen wäre.

„Das wollen (oder: das mögen) wir nicht“

Ich hatte den Artikel eines renommierten Intellektuellen verteilt, der nach meiner Erinnerung auf der ersten Seite des Feuilletons der FAZ erschienen war. Denken in der alltäglichen Anwendung wollte ich vorführen, so wie es unter dem Diktat von Aktualität und Öffentlichkeit mit Politik, Kultur und Ideologie verbacken ist. Ich wollte den Kids zeigen, dass man sich vom Gestus des Durchblicks nicht einschüchtern zu lassen braucht, würde sich doch der Inhalt selbst des anspruchsvollsten Textes erschließen, wenn man ihm mit den einfachen Mitteln der Textanalyse zu Leibe rückte. Wo der Begründungszusammenhang verklausuliert erschien, da würde die Grundannahme von close reading und explication de texte, dass ein vollständiger Text sich selbst erklärt, das Vertrauen stärken und ein gelegentlicher Rückgriff auf Freuds „Darstellungsmittel des Traums“ würde den Intellekt beflügeln. Warum sollte man nicht ab und zu mal richtig schlau sein! Dabei wollte ich den Jugendlichen nichts aufschwatzen, ich wollte ihnen nichts unterjubeln. Ich wollte ihnen beweisen, dass ihr Verstand auf der Höhe des allgemeinen Verstands war; sie mussten ihn nur betätigen.

Eine schöne Idee, also, und, dachte ich, eine erlernbare Methode. Leider teilte ich den Ausgangspunkt der Berliner Jugendlichen um die Wende zum 3. Jahrtausend nicht, von dem aus sie im Gesagten das Gemeinte erkennen und auf der Grundlage ihrer Gewissheiten den Schein entlarven und „das Sein“ herausarbeiten konnten. Und so lief es ganz anders. Die sogenannte Stillarbeitsphase hatte kaum begonnen, als eine Schülerin nach vorn kam und mir das Blatt mit der Bemerkung „das wollen (oder: das mögen) wir nicht“ auf das Pult legte. Entschlossenes Schweigen machte sich breit. Dann ging ich zu etwas anderem über, zu Kant vermutlich. Kant war vielleicht unverständlich, aber nicht übergriffig. Er war nie übergriffig.

Ich war damals verwundert, wie auf unbekanntem Terrain. Bei den Kids lief etwas anders als bei mir, dabei waren wir doch stets ein Herz und eine Seele gewesen. Empowerment hatten sie offenbar nicht nötig. An Selbstbewusstsein fehlte es ihnen nicht. Ablehnung, Zurückweisung stand ihnen durchaus zur Verfügung. Aber was lehnten sie ab? So viel kann ich vermuten: Ihre – jetzt würde ich die Vorsilbe gern einmal gebrauchen − urtümliche Abneigung galt dem Moment von Anmaßung, das aller intellektuellen Rede eigen ist, insofern sie suggeriert, sie kann’s, sie darf’s und sie tut’s, ist sie doch, mit dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, verbunden. Von solcher Rede fühlten sich die Jugendlichen angegriffen, in ihrer Unantastbarkeit und Souveränität verletzt, von ihr fühlten sie sich nicht angesprochen, sondern vereinnahmt, und wenn mitgemeint, dann missverstanden.

Undeutliche Sachverhalte, diese notorischen Wirklichkeiten

Die schlimmste Kränkung war für sie, so empfand ich es damals, wenn man glaubte, solche Rede hätte ihnen etwas mitzuteilen. Wo sie doch Unterwerfung verlangte, wenn nicht unter bestimmte Personen, dann unter ein System. Ich fand, sie hatten recht. Im Unterschied zum Denken ist das Intellektuelle Anwendung und als Anwendung Grenzüberschreitung. Dabei verliert sich das Selbstgenügsame, das Uneigennützige, das Interesselose des Nachdenkens, an seine Stelle tritt der Gestus des Durchblicks, in der Kindersprache, der Gestus des „Bestimmers“. Heranwachsende, sage ich ein wenig pathetisch, merken das, sie finden es „unanständig“, sie spüren die Lüge darin. Da erklärt jemand die Verhältnisse, aber sich selbst, die eigene Rolle, nicht; würde er es tun, wäre seine Erklärung womöglich überflüssig. Stattdessen wurde ihnen ein Gebäude aus verdinglichten Denkbestimmungen angeboten, in dem sie ihr Zuhause erkennen sollten. Aber sie dachten gar nicht daran.

Ich erinnerte mich, dass, als wir einmal, wir alle einzeln für uns, „Meine zehn Gebote“ aufgeschrieben hatten, die ich in einer Schulvitrine ausstellen wollte, eine Schülerin unter anderen Geboten, die sie halten wollte, „meine Musik“ genannt hatte, „ihre“ Musik als etwas, was sie befolgen, dem sie als Kristallisation ihres Ich-Seins die Treue bewahren wollte. Ob es diese Schülerin war, die mir das Blatt auf das Pult legte? Wer weiß. Ob sie die praktizierte oder bloß die gehörte Musik gemeint hatte? Vielleicht war es die gehörte, aber ohne „bloß“.

Der Intellektuellenhass der Nazis hat in den endlosen Nachkriegsjahren das Verhältnis zu den Intellektuellen, auch das Verhältnis der Intellektuellen zu sich selbst, allzu sehr vereinfacht. An der Denunziation des „zersetzenden Intellekts“ lässt sich bis heute das Völkische erkennen. Unmöglich, das böse Wort, das zum Inbegriff des Faschismus geworden ist, nicht als eine Unterstellung aufzufassen, die abgewiesen werden, eine Drohung, gegen die man sich zur Wehr setzen muss. Nicht weniger unmöglich, den Intellekt, der in Deutschland den Unterschied zum Faschismus garantiert, stets im gleichen Maße und im selben Augenblick, in dem man ihn benutzt, infrage zu stellen. Dabei ist er doch ein sprichwörtlich weites Feld, nicht nur in jeder seiner Anwendungen von nicht eingestandener Motivation und unabsehbaren Folgen, auch jederzeit auf dem Sprung, sich selbst als die Antwort auf die zu entwirrenden Verhältnisse zu setzen.

So wie in der japanischen Anekdote, die ich Janwillem van de Weterings Büchlein „Der leere Spiegel“ verdanke, der Teufel durch eine nicht endende Folge kleinteiliger Aufgaben und Arbeitsaufträge von seiner Mordlust, die ja nur seine Natur ist, abgelenkt werden muss, so auch der Intellekt durch eine nicht enden wollende Zweifelsucht von seiner Ichbezogenheit und seinem Größenwahn, die nicht weniger in seiner Natur liegen. Je souveräner mit dem Begriffsapparat hantiert wird, desto gefährlicher wird es.
Wenn um den Begriff als um die Sache selbst gekämpft wird, dann wird das Abgewehrte zum Herbeigewünschten. Dass nur der Begriff, nicht die Sache herbeigewünscht, wird, wird zur Bagatelle. Der Intellekt fasst den Unterschied nicht auf. Bezaubert von der Folgerichtigkeit, mit der er denkt, merkt er nicht, dass aus der Widerlegung ein Herbeiprozessieren wird. Im Bemühen, einen undeutlichen, entstellten Sachverhalt, wie er in der sogenannten Wirklichkeit notorisch ist, auf den Begriff zu bringen, klärt er nicht die Sache, sondern verdinglicht den Begriff. Die Absicht ist lauter: Der Begriff wird angestrengt, damit der Sachverhalt beseitigt werden kann. Aber der Mechanismus, der das Verschwinden des Sachverhalts an die Verewigung des Begriffs koppelt, ist fatal, muss, damit der Begriff sich bewähren kann, doch auch der Gegenstand ewig sein. Zu allen Zeiten und in all seinen Erscheinungsformen muss er derselbe sein.

Erst war die Welt wüst und leer, dann war sie geordnet

Für gewöhnlich denken wir außerhalb des akademischen Zusammenhangs gar nicht an den Intellekt, halten seine Ambiguität, sein konstitutionelles Schwanken zwischen Analysieren, Identifizieren und Urteilen, ja, auch seine innere Triebhaftigkeit, seinen Drive, für einen Ausweis seiner Natürlichkeit, seiner Lebendigkeit. Er soll nun einmal beides sein, theoretisch und praktisch, Sinnbild einer Einheit, die freilich in ganz anderer Weise zu realisieren wäre, ohne dass wir uns, wie es der intellektuellen Selbsterfahrung vorkommt, früher oder später vergaloppieren. Schwierig zu entscheiden, ob wir den Intellekt bloß naiv handhaben oder ob wir mit ihm immer schon, gleichsam als ein Tribut an seine geistige Natur, wie mit einem Fetisch und mit den Begriffen wie mit dem eigentlichen Ziel der geistigen Anstrengung umgehen, so als wären Mord und Totschlag nur der Kohlenstoff, sie, die Begriffe aber, wären die Diamanten.

Womöglich kommt es auf den Unterschied nicht an. Gegen die Dialektik, den latenten Richtungswechsel, der jeglicher intellektuellen Anstrengung immanent ist, scheint jedenfalls kein Kraut gewachsen. Der verhängnisvolle Magnetismus zwischen den Gegensätzen, Freuds altvertrauter „Gegensinn der Urworte“, ist die Achillesferse jeglichen Arguments. Verdinglichung und Verselbständigung beschreiben die Mechanismen der Umkehrung, bei der aus dem Gefürchteten die Absicht, aus der Frage die Antwort, aus dem Zweifel die Bestätigung und die Beweisführung selbst zum entscheidenden „Schritt vom Wege“ des guten Denkens wird. Die tendenzielle Umwertung aller Werte, die uns aus der Kulturtheorie so vertraut ist, hier im Verhältnis des Denkens zum Gedachten, zeigt sie auf ihre materielle Grundlage, auf die Ersetzung des Gegenstands durch seinen Begriff, die Umkehrung des grammatischen Verhältnisses ist darin ebenso eingeschlossen wie die Perversion der ursprünglichen Absicht, die auf Auflösung zielte und in Verewigung endet. Es lohnt sich, sich immer wieder und rechtzeitig zu fragen: was will ich eigentlich? Will ich feststellen oder will ich festschreiben? Will ich analysieren oder will ich hervorbringen, halte ich mich vielleicht ein kleines bisschen für den lieben Gott? Wann bin ich im intellektuellen Sinn glücklich: wenn das von mir Untersuchte nicht mehr ist oder wenn es sich bestätigt, wenn ich es aufgelöst oder wenn ich es in eine unzerstörbare Anwesenheit verwandelt habe?

Das Letzte, was ich erzählen will, ist keine Geschichte, weil es nicht lange genug her ist, aber es hat mir ein Licht aufgesteckt. Es kam mir vor, als träte ich einen Schritt zurück in die Komfortzone einer prästabilierten Ordnung, von der ich in meiner Kinderbibel gelesen hatte: Zuerst war die Welt wüst und leer, dann war sie geordnet. In kindlicher Beschränktheit hatte ich das Wüste als eine Vorstufe aufgefasst, und was mir später in Bildern der Apokalypse vor Augen kam, das weckte in mir keine Vorstellungen. Hieronymus Bosch war nicht mein Ding und den Maelstrom Edgar Allen Poes, ein Lieblingsschreckensbild meiner Generation, fand ich gedrechselt. Als kürzlich, in einer bereits weit fortgeschrittenen Phase des jüngsten Geschehens in Nahost, ein israelischer Militärangehöriger in verantwortlicher Position die ihrerseits verantwortlichen Politiker warnte, der militärischen Aktion fehle zunehmend die Grundvoraussetzung, nämlich die Vernunft, da fühlte ich mich einen Moment geborgen. Um einen Krieg führen zu können, machte er nämlich klar, dass man sein Ziel kennen muss, wohlgemerkt das militärische, nicht das ideologische oder allgemein menschliche Ziel. Aus dem militärischen Ziel ergeben sich die einzelnen Schritte des Krieges, das militärische Ziel aber ist sein Ende; „Ziel erreicht“, wie das Navi sagt. Fehlt das Ziel, dann ist die Welt nicht nur für den Militär „wüst und leer“.

„Am Anfang war die Erde wüst und leer … am Ende auch?“ (Screenshot: Piratenpartei)

Ich erinnerte mich an meinen einzigen bewusst erlebten Eindruck vom 2. Weltkrieg, da war ich fünf. Es muss also 1950 gewesen sein, als wir auf der Fahrt in die neue Heimat durch das zerstörte Köln fuhren. Es war ein gruseliges Bild, aber ein Bild, denn wir saßen im Zug und die Zugfenster waren heil. Wenn ich die Empfindung der Fünfjährigen simulieren soll: Ich war der Mensch in seiner Unversehrbarkeit, und die Häuser waren Trümmer. Als ich die dringliche Aufforderung des israelischen Militärangehörigen an seine Regierung vernahm, das militärische Ziel der militärischen Aktion mitzuteilen, da dachte ich unwillkürlich, vielleicht ist, so zu denken, preußisch, denn es war mir immer rätselhaft geblieben, wieso man innerhalb des Militärischen so feinsinnige Unterschiede machen konnte; als 68erin hatte ich mich gefragt, was das sollte. Er, Militär in leitender Position, war von der Notwendigkeit des Endes – mit Schopenhauer: als Wille und militärische Vorstellung – durchdrungen. Er war sich bewusst, dass zum militärischen Handeln nicht nur eine Ausführung, sondern eine Absicht gehört und zur Absicht ein Plan und zum Plan eine Kenntnis seiner Umrisse und zur Kenntnis seiner Umrisse eine Vorstellung vom Ende der militärischen Handlungen. Sollte die Welt nach dem militärischen Eingriff nicht wüst und leer sein, dann musste das Ziel klar und das Ende vorbedacht sein.

Rational ist nur, was sich an Vernunft orientiert

Wie gesagt, mir war, als würde es im dusteren Raum plötzlich hell. Ohne dass es ihm jemand mit dem großartigen Gestus des Intellektuellen hatte mitteilen müssen, war sich der Militärangehörige über die Voraussetzungen seines Handelns im Klaren. Als wäre die entscheidende Spaltung der Gesellschaft aufgehoben, so kam es mir vor, ins Werk gesetzt von jemandem, bei dem ich, ewige Adeptin der Kinderbibel, doch eher an den lieben Gott gedacht hätte. Die Korrektur der biblischen Erzählung, die das Wüste zum Motor der Schöpfung macht, wäre ein Indikator dafür, dass das gesellschaftliche Bewusstsein nicht anders kann, als sich die Tatsachen zu eigen machen. Wird in der Schöpfungsgeschichte die Erde durch göttliches Ordnen bewohnbar, so wird sie in der Geschichte, mit Walter Benjamin zu sprechen, durch ein „spontanes Nachbild“ des göttlichen Eingriffs, intellektuelles Herumfuhrwerken, recht eigentlich wüst und leer.

Da ich aus einer für meine Generation sicherlich typischen Grundangst heraus gar nicht anders kann, als meine Gedanken beständig am NS-Projekt der Vernichtung der Juden zu überprüfen, habe ich prompt einen Augenblick über den „fabrikmäßigen Massenmord“1 und über die „Endlösung“ als Zielvorstellung nachgedacht, ist das fatale Projekt einerseits von Rationalität doch förmlich durchdrungen, andererseits unter der Devise „Macht euch den Verstand untertan“ in bis dahin unerreichte Dimensionen des Bösen gelangt. Man kann nicht behaupten, dass der Verstand nach solcher Unterordnung noch besonders Widerstand und nicht im Gegenteil aktiv Beihilfe geleistet hätte. Rational ist eben nur, was sich an der Vernunft orientiert. Andernfalls ist, was Rationalität vorspiegelt, nichtig, und was sie realisiert, destruktiv.


1 Ich benutze einen Begriff von Michael Kuhlmann, den er in einer Rezension vom 29.7.2024 im Deutschland Radio verwendet hat.

Ilse Bindseil
Ilse Bindseil ist Autorin und Redakteurin, sie war Lehrerin für Deutsch, Französisch und Philosophie an der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin-Schöneberg. Seit Ende der sechziger Jahre Veröffentlichungen im gesellschaftstheoretischen Bereich von Philosophie, Politik, Psychoanalyse, seit Ende der siebziger Jahre dazu im Bereich der schönen Literatur. Seit Ende der neunziger Jahre Redakteurin der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation.

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