Das politische Publikum ist im falschen Film

Rabbi Nilton Bonder erzählt in seinem meisterhaften Büchlein „Der Rabbi hat immer recht. Die Kunst Probleme zu lösen“ von Isidor Rabi, 1944 Nobelpreis für Physik. Rabi sei überzeugt, seinen Erfolg seiner Mutter zu verdanken: „Nach der Schule fragten die Mütter immer ihre Kinder, was sie an diesem Tag gelernt hätten. Meine Mutter aber wollte wissen: ‚Was hast du denn heute in der Schule für Fragen gestellt?’“ In der eMail einer Freundin stand dieser Tage die Frage: „Wieso berichten die Medien jeden Furz, den Herr Trump lässt? Wieso geben sie ihm so viel Raum in ihrer Berichterstattung?“ In Bonders Buch gibt es auch eine Geschichte mit der Quintessenz, „dass man niemals eine gute Frage gegen eine Antwort eintauscht“. Ich versuche trotzdem zu antworten.

Keine Aufklärungs-, eine Animations- und Unterhaltungsfunktion.
Bild: Annalisa Batista auf Pixabay

Die Verwunderung über den medialen Trump-Hype und die aktuelle Debatte über die Qualität der Krisenberichterstattung der (deutschen) Massenmedien speisen sich aus derselben Quelle: der Differenz zwischen den Realitäten der Ökonomie der Aufmerksamkeit und der Idee öffentlicher Aufklärung. Allen, die diese Idee hochhalten, gehört meine Sympathie, aber mein Interesse gilt den Realitäten und damit dem Problem, weshalb sich diese Idee laufend blamiert. Deshalb: Die öffentliche Kommunikation der Gegenwartsgesellschaft erfüllt primär keine informative Aufklärungsfunktion, sondern eine Animations- und Unterhaltungsfunktion.

Öffentlichkeit in ihrer Bestform

Doch vorab will ich festhalten: Die Idee, dass Öffentlichkeit und Aufklärung ebenso wie Öffentlichkeit und Demokratie zwei Seiten derselben Sache sind, ist keine idealistische Flause, sondern ein gut durchdachtes Konzept. Vor allem Jürgen Habermas hat es entwickelt und ausführlich begründet. Öffentlichkeit in ihrer Bestform ist das Medium der Selbstorganisation freier und gleichberechtigter Subjekte. Diese Subjekte verzichten auf Drohungen und Lockungen, sie kommunizieren verständigungsorientiert miteinander, bis sie ein rational motiviertes Einverständnis erzielen. Zu schön, um wahr zu sein, spotten die Realisten. Als ob Habermas das nicht wüsste. Ideale Sprechsituationen und ihre Diskurse, schreibt er, „sind aber Inseln im Meer der Praxis, also unwahrscheinliche Formen der Kommunikation“. Aber ohne die von Habermas sorgfältig ausgearbeiteten Normen der Richtigkeit, der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit hätten wir keinen so seriösen Maßstab für Kritik der real existierenden Öffentlichkeit.

Zwischen der Idee informativer öffentlicher Aufklärung und massenmedialer Animation existieren vielfältige Zwischenstufen, die wir jetzt auslassen. Im klassischen Weiß-Schwarz-Denken fragen wir direkt nach der Produktionslogik kommerzialisierter Öffentlichkeit. Oder nein, eine Zwischenstufe sollten wir doch nehmen. In der (politischen) Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts waren die Stimmen der Parteien, Kirchen und Verbände vorherrschend. Im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts zum Beispiel „gehörten bis zu 80 Prozent der Zeitungen zu einer politischen Partei – was aber auch hieß, dass diese sogenannten ‚partisan papers’ oft schamlos einseitig berichteten.“ (Jan-Werner Müller in der FAZ von 27. 04. 2020) Sie haben Öffentlichkeitsarbeit gemacht, keinen Journalismus.

Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Unterhaltung, Journalismus

Wo einst Partei-, Kirchen- und Verbandspolitik war, breitete sich mit dem Aufkommen der Funkmedien der Kommerz aus. Massenmediale Offline- und Online-Öffentlichkeiten, wie wir sie nicht nur aus den Vereinigten Staaten kennen, müssen als erstes Aufmerksamkeit herstellen. Veröffentlichungen, die keine Aufmerksamkeit finden, werden nicht gesehen, nicht gehört und nicht gelesen.

Produziert und konsumiert wird in vier (sich zunehmend vermischenden) Programmformaten: Werbung, Öffentlichkeitsarbeit (PR), Unterhaltung und Journalismus. Werbung bezahlen und bestimmen ihre Absender. Öffentlichkeitsarbeit bezahlen und bestimmen im Internet die Absender; in den Offline-Medien bestimm(t)en die Redaktionen, was sie senden und drucken. Unterhaltung bezahlt weitgehend das Publikum selbst oder sie wird aus der Werbung finanziert, die des großen Publikumsinteresses wegen geschaltet wird. Journalismus lebt von der Mischfinanzierung aus Werbung und zahlendem Publikum.

Wo Habermas ideal freie, gleichberechtigte und vernünftige Subjekte vor Augen hat, dort operieren real große Medienunternehmen Über „die zehn umsatzstärksten Medienkonzerne Deutschlands“ mit Bertelsmann der Spitze findet man hier etwas. Doch das sind Zwerge im Ranking der umsatzstärksten Medienkonzerne der Welt, das von US-Unternehmen angeführt wird. Medienunternehmen machen, seit es sie gibt, zwei Dinge am liebsten, Geld und Propaganda. Optimal ist es für einen Medienkonzern, mit Propaganda Geld und mit Geld Propaganda machen zu können. In Deutschland war der Axel Springer-Konzern in dieser Hinsicht einsame Spitze, einsam ist er nicht mehr.

„Es mag nicht gut für Amerika sein, aber es ist verdammt gut für CBS“

Erfolgsfaktor öffentlicher Kommunikation ist Aufmerksamkeit, Erfolgsfaktor wirtschaftlicher Operation ist Geld. Wenn Wirtschaftsunternehmen Veröffentlichungen produzieren, müssen sie solche Aufmerksamkeit erzeugen, mit der Geld zu machen ist.

„Who would have thought that this circus would come to town. It may not be good for America, but it’s damned good for CBS“, sagte 2017 Leslie Moonves, Chef der Sender-Gruppe CBS.

„Bruce Stokes, Direktor des renommierten Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center in Washington, wundert sich schon lange nicht mehr über die Nachrichten-Shows seines Landes. Er hält sie – bis auf wenige Ausnahmen – für Schlagzeilen-Produzenten, die vor allem eines leisten müssen: Die Zuschauerzahlen nach oben treiben, um Geld zu machen. Was er nicht vermutet hatte: Seit Donald Trump sich zur Präsidentschaft im Weißen Haus aufmachte, haben die großen Fernsehsender mehr von ihm profitiert, als sie zu glauben gewagt hätten. Zumindest als ‚Money Maker’“.

(Deutschlandfunk Kultur)

Weshalb funktioniert das mit Donald Trump so hervorragend? Weil Trump ein Unterhaltungskünstler ist. Unterhaltung ist das mit Abstand erfolgreichste Programmformat der Massenmedien – schon immer gewesen. Die Medienunternehmen können mit einem großen, zahlungswilligen Publikum rechnen, Zuschauer und Zuhörer bekommen Geschichten nach dem Motto real, fiktional, scheißegal in Form eines Angebots, das sie jederzeit folgenlos an- und abschalten können. Allen schreienden Schlagzeilen und skandalisierenden „Aufmachern“ zum Trotz ist eine solche Öffentlichkeit konservativ. Ihr Innovationspotential tendiert gegen Null. Sie greift am liebsten Bekanntes auf, prominente Personen und durchgekaute Themen, weil ihre Veröffentlichungen damit sofort anschlussfähig sind. Vor dem Risiko, „ein neues Fass aufzumachen“, scheut sie zurück, das überlässt sie anderen, Protestinitiativen zum Beispiel, und hängt sich dann dran oder auch nicht.

Claas Relotius war keine Panne

Wie Trump die Rolle des Politikers im allgemeinen und die Rolle des Präsidenten im besonderen spielt, das hat Star-Potential. Alleine die Aufregung, die er damit erzielt, dass er sich um die offiziellen Erwartungen an diese Rollen einen Dreck schert, hat hohen Unterhaltungswert. Zusätzlich entsteht dadurch Spannung – eine Kernkomponente von Unterhaltung wie die Print- und TV-Krimiflut zeigt –, dass er die große Rolle des US-Präsidenten ja tatsächlich ausübt, die damit verbundene Macht hat und alles Mögliche anrichten kann.

Die deutschen Massenmedien wollen an diesem Geschäftsmodell partizipieren, vielen voran Spiegel-Online. Dass Claas Relotius vor allem Spiegel-Autor war und so viele Amerika-Geschichten geschrieben hat, ist keine zufällige Panne. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung, „Missbrauchte Politik„, hat nachgezeichnet, wie dieses Geschäftsmodell – auf vergleichsweise kleiner Stufenleiter – im deutschen Bundestagswahlkampf 2013 praktiziert wurde.

Die geneigten, politisch engagierten Publika in Deutschland, darunter meine fragende Freundin, rezipieren die Trump-Berichterstattung falsch. Sie erwarten informativ-aufklärenden Journalismus, obwohl es der Unterhaltungswert ist, der das Thema Trump pusht. Dass es am Rande des täglichen 24stündigen Unterhaltungsprogramms, garniert mit viel Werbung, auch richtig guten Journalismus gibt – war nicht Thema dieses Textes.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

2 Kommentare

  1. Hallo Herr Böttger, besten Dank für Ihren Hinweis. Ich habe den Link auch im Text sofort geändert. Das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik kenne und schätze ich.

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