Wirtschaft als Geiselnehmer, Gewerkschaft als Sympathisant

Großflächenplakat des Deutschen Gewerkschaftsbundes (links) im Bundestagswahlkampf 1998, gesehen in Düsseldorf, fotografiert von Sieglinde Rübel-Arlt

„Der eine versteht von selbst etwas; der zweite versteht etwas, wenn es ihm von anderen klar gemacht wird, und der dritte versteht weder von selbst etwas, noch wenn es ihm von andern verdeutlicht wird.“ (Machiavelli) Wer jetzt nicht versteht, dass das bedingungslose garantierte Grundeinkommen ein guter Weg ist, die Arbeit und damit die Bevölkerungsmehrheit aus der Geiselhaft der Wirtschaft zu befreien, dürfte zur dritten Art gehören. Die Möglichkeit einer eigenständigen sozialen Existenz kann und muss grundsätzlich von der Notwendigkeit einer bezahlten persönlichen Arbeitsleistung entkoppelt werden.

Ein Seil zum Hüpfen oder Tauziehen ist etwas anderes als ein Seil zum Absperren oder Abschleppen und in der Hand eines Selbstmörders ist es wieder etwas anderes. Wenn ein so banales Teil wie ein Seil so multifunktional sein kann, was soll man dann davon halten, wenn etwas so Multifunktionales wie die Arbeit so banalisiert wird? Die Phantasie der real existierenden Arbeitsgesellschaft scheint nicht dafür auszureichen, sich Arbeit anders als unter der Regie kapitalistischen Wachstumswahns und egozentrischer Freiheitsillusionen vorzustellen. Nein, es herrscht keine Naturgewalt, die erzwingt, Geld als Kapital einzusetzen. Nein, es gibt keinen Sachzwang, die soziale Existenz der Einzelnen von bezahlten persönlichen Arbeitsleistungen abhängig zu machen.

Lassen wir den Kapitalismus beiseite, weil es der Sozialismus, den wir kennen, auch nicht besser macht. Konzentrieren wir uns auf diesen zweiten Punkt, dass in den reichsten Gesellschaften der Menschheitsgeschichte die meisten Menschen in sozialer Existenzangst gehalten werden. Mehr noch. Selbst in höchstentwickelten Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Deutschland herrscht nicht nur Angst vor Armut, sondern auch tatsächliche millionenfache soziale Not. Die Methode, die solche Zustände erzeugt, ist bekannt.

Geld ist ein geniales Tool

Ihr Wirtschaftsleben organisieren moderne Gesellschaften über Geld. Geld ist ein geniales Instrument. Geld ermöglicht Freiheiten, die unter der Bedingung von Natural- und Gütertausch jenseits jeder Vorstellung waren. Weil Geld so genial und so universal einsetzbar ist, griff es, man nennt es Kommerzialisierung, über den ökonomischen Warentausch weit hinaus und erfasste fast das gesamte soziale Leben. Inzwischen gibt es nicht mehr viel, das man nicht kaufen kann. Aber vor allem gibt es fast nichts mehr, das man nicht kaufen muss, wenn man ein Bedürfnis verspürt oder auch nur einen Bedarf hat, und sei es unterwegs zu pinkeln. Zahlungsfähigkeit ist für Personen und Organisationen zum ersten gesellschaftlichen Existenzkriterium aufgestiegen.

Dass ohne Moos nix los ist, kann man kritisieren, sollte sich die Begründungen dafür aber gut überlegen, denn das Grundproblem ist nicht das Geld, sondern seine Verteilung. Die Arbeitsgesellschaft erzählt sich das Märchen – und glaubt daran –, dass die Höhe der Entgelte (Löhne, Gehälter, Boni, Renten etc.) wie auch der Vermögen direkt zusammenhängen würden mit dem Ausmaß persönlicher Arbeitsleistungen. Sei’s drum, lassen wir auch die Gerechtigkeitsfrage beiseite.

Wo kämen wir hin

Der springende Punkt, der ein bedingungsloses garantiertes Grundeinkommen (nicht zu einem Königsweg, aber) zu einem guten Weg macht, liegt hier: Das bedingungslose garantierte Grundeinkommen entkoppelt die Möglichkeit einer ungefährdeten sozialen Existenz jeder Person von der Notwendigkeit einer persönlichen bezahlten Arbeitsleistung. In der Coronakrise gewinnt dieser Grundgedanke neue Aktualität. Über Rahmenregelungen, Risiken und Nebenwirkungen wird sehr kontrovers diskutiert.

Natürlich bleibt die Gesellschaft als ganze von Arbeitsleistungen abhängig, Geld und das, was man dafür kaufen kann, fällt, Überraschung, tatsächlich nicht vom Himmel. Aber die Geiselnahme der Gesellschaft durch die Wirtschaft wäre beendet. Es wäre vorbei, jeden miesen, ausbeuterischen Billig-Job damit rechtfertigen zu können, keine Arbeit sei so schlimm wie keine. Es wäre vorbei, für die Produktion jeder überflüssigen, minderwertigen, gesundheitswidrigen, Umwelt zerstörenden Ware unter gewerkschaftlichem Beifall argumentieren zu können, auf diese Weise würden doch Arbeitsplätze gesichert. „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten: ‚wo kämen wir hin?’ und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.“ (Kurt Marti)

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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