Das Schweigen der Mehrheit hilft dem Antisemitismus

In Hannover beteiligten sich einige Hundert Menschen am 10. Oktober 2019, einen Tag nach dem Anschlag in Halle , an einer Mahnwache gegen Antisemitismus. (Foto: Bernd Schwabe auf wikimedia commons)

Nun ruhen einstweilen die Waffen im Nahen Osten und in Deutschland sind die verbalen Schlachten abgeflaut. Zwei Wochen lang haben die radikalislamische, von Iran aufgerüstete Hamas und der Islamische Dschihad Israel mit Tausenden Raketen beschossen, Menschen getötet und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Die israelische Armee hat das getan, was sie immer tut: Sie hat Raketenstellungen, Kommandozentralen und einen Teil des Tunnelsystems in Gaza zerstört, das die Hamas für ihren Terror gegen Israel nutzt. Auch dabei sind Unschuldige gestorben.
Zeitgleich hat in Deutschland der Antisemitismus seine Mord- und Vernichtungsphantasien wie seinen Juden-sind-an-allem-schuld-Wahn ausgetobt – vor Synagogen, bei propalästinensischen Demos und im Netz. Eine breite Gegenwehr der demokratischen Mehrheit blieb aus. Anti-Antisemitismus erschöpft sich weitgehend in Sonntagsreden. Die schweigende Mehrheit hilft dem Antisemitismus.

Judenfeindlichkeit und Boykottaufrufe gegen Juden sind auch im Nachkriegsdeutschland wahrlich nichts Neues. Relativ neu ist jedoch, mit welcher Vehemenz junge zugewanderte Muslime, vornehmlich aus arabischen Ländern, aber auch der Türkei, im Verbund mit linken Antirassisten und BDSlern („Boycott, Divestment and Sanctions“) bei erstschlechter Gelegenheit Juden und jüdische Gotteshäuser hierzulande attackieren, obwohl die mit dem Dauerkonflikt im Nahen Osten überhaupt nichts zu tun haben. Dafür mag es vielfältige Gründe geben. Doch aufrechte Demokraten und Menschenfreunde können das selbstverständlich genauso wenig zulassen wie den Antisemitismus von Deutschen von rechtsaußen und aus der Mitte.

Der immer wieder beschworene Kampf gegen Antisemitismus und Judenfeindlichkeit zeigt indes eine ziemliche Schlagseite. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle gab es großes Entsetzen und spontane Demos „gegen rechts“. Politiker gelobten, die „jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger“ besser zu schützen. Wo aber waren jetzt die angeblichen Judenschützer? Warum gab es nicht sofort eine Vielzahl von Mahnwachen und Menschenketten vor den angegriffenen jüdischen Gemeinden? Warum eilten nicht Kanzlerin Merkel oder Bundespräsident Steinmeier sogleich dorthin, um ein Zeichen der Verbundenheit mit den Juden zu setzen, die ohnehin beständig in Angst leben? Stattdessen wurden die judenfeindlichen Ausschreitungen trotz ihres eindeutigen Charakters anfangs zum Teil als „antiisraelische Demonstrationen“ verharmlost und Israel als „Angreifer“ dargestellt. Erst nach und nach gab es eher pflichtschuldige anti-antisemitische Erklärungen.

Fragwürdige Solidarität von „Antirassisten“

Besonders schwer tun sich mit der muslimischen Juden- und Israelfeindlichkeit Linke, Sozialdemokraten und teils Grüne. Für sie sind Migranten genauso wie Palästinenser generell „Opfer“ – von Rechten, „Weißen“ und bösen Mächten wie dem jüdischen Staat. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass Juden vor allen anderen schon immer Opfer waren, nicht nur von Deutschen, sondern auch von Arabern und vielen anderen. Der Wille, den Staat Israel zu vernichten, steht bei der Hamas in der Charta, die iranischen Mullahs machen daraus kein Geheimnis, und auch in Frankreich haben islamistische Terroristen Juden massakriert, darunter Holocaust-Überlebende. Weshalb reihen sich Linke dennoch ein in Demonstrationen, in denen ein „freies Palästina“ ohne Israel und ohne Juden gefordert und „tötet Juden!“ skandiert wird? Weshalb gilt die Solidarität der „Antirassisten“ zwar Muslimen, die keine ethnische Gruppe bilden, aber nicht oder kaum den Juden, die dem Rassenwahn der Nazis ausgesetzt waren?

Doch auch von anderen Seiten kam außer verbalen Erklärungen und einigen späten Kundgebungen und Mahnwachen wenig Solidarität mit den Juden hier wie dort. Ich erlebte das, als ich, von dem Schweigen entsetzt,beschloss, spontan selbst eine Solidaritätsaktion in Hamburg für Israel und Juden zu organisieren. Ich rief und mailte Freunde und Bekannte an, SPD-Bürgermeister Tschentscher, seine Grünen-Vize Fegebank, SPD-Kultursenator Brosda, Vertreter aller demokratischen Parteien, von Gewerkschaften, Kirchen, muslimischen Verbänden, Kultureinrichtungen. Reaktionen: fast keine. Als ich nachhakte, bekam ich, wenn überhaupt, ausweichende Antworten wie: „Eine Senatorin/ein Senator darf zu so etwas nicht aufrufen“. Dabei äußern sich die Angesprochenen sonst zu Allem und Jedem, und es geht hier nicht um irgendein politisches Thema, sondern einen Gründungsauftrag der nach 1945 neu geschaffenen deutschen Demokratie: das große „Nie Wieder“. Andere sagten ehrlicher: „Das mit Israel ist schwierig. Sie wissen ja, da gibt es verschiedene Ansichten.“ Wieder andere verwiesen auf schriftliche Statements, als ersetzten die ein demonstratives Zeichen menschlicher und politischer Verbundenheit.

Israel, eine liberale, multiethnische und multireligiöse Demokratie

Vertreter aus der jüdischen Gemeinschaft und ihrem Umfeld sagten mir, dass sie sich an einer solchen Aktion im Moment nicht beteiligen wollten, weil das zu riskant sei und weil die Öffentlichkeit ohnehin gegen Israel und damit die Juden gerichtet sei. Beides finde ich beschämend: Zugewanderte arabische und türkische Muslime dürfen hier schreien „Solidarität mit Palästina“, „Tötet Juden!“ und Fahnen mit dem Davidstern, dem Symbol des Judentums verbrennen, 76 Jahre nach dem Holocaust, dem „großen Brennen“ der Juden Europas. Aber es ist nicht möglich, mit wesentlich größerer Legitimität „Solidarität mit Israel und den Juden“, den Opfern hier wie dort, auch nur leise vorzubringen – mit Vertretern des demokratisch-aufgeklärten Spektrums einer Stadt und eines Landes, die stolz sind auf ihre Menschenfreundlichkeit und Weltoffenheit?

Dabei ist Israel nicht nur Zufluchtsort für die Juden gerade jetzt wieder, gegründet als Konsequenz aus der Nazi-Barbarei und dem einzigartigen Völkermord an sechs Millionen Juden und der versuchten auch kulturellen und historischen Vernichtung des Judentums. Es ist auch die einzige liberale, multiethnische, multireligiöse Demokratie im Nahen und Mittleren Osten. Und müsste daher allen, die gerne in Deutschland leben und hier Schutz und Aufnahme gefunden haben, schon deshalb nahestehen – trotz aller Konflikte im Inneren, trotz unbestrittener Diskriminierung arabischer Bürger, trotz der Besiedlung und Besetzung von palästinensisch-arabischem Land, die freilich aus den wiederholten Vernichtungsangriffen der arabischen Staaten resultiert.

Ich habe palästinensische Freunde. Die sehen das genauso. Und auch die große Mehrheit der Muslime dürfte es so sehen. Doch diese Mehrheit schweigt wie die Mehrheit der Deutschen. Solange das so bleibt, werden die Judenhasser aus allen Richtungen immer weiter machen.

Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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