Ein einheitlicher, allgemeinverbindlicher Pflege-Tarifvertrag ist am Widerstand der kirchlichen Träger Caritas und Diakonie gescheitert. Die katholische Caritas erklärte, man wolle sich nicht von einer „Minderheit“ einen Tarifvertrag aufzwingen lassen. In der zuständigen Arbeitsrechtlichen Kommission auf evangelischer Seite ließ man die Arbeitnehmerseite erst gar nicht zu Wort kommen: der Antrag auf Abstimmung wurde abgelehnt. Anfangs war die Empörung über diese Haltung groß, auch in den beiden Großkirchen meldeten sich Kritiker:innen zu Wort. Bei aller Kritik und Empörung: Dass die Kirchen hier ein so wichtiges Projekt mit einem einfachen Nein schlicht zum Scheitern bringen konnten, ist schon keine Thema mehr. Oder doch?
Kaum bekannt ist, welche Rolle die katholische Caritas und die evangelische Diakonie im Gesundheitsweisen und Sozialbereich spielen. Der Marktanteil kirchlicher Träger in der Pflege wird auf 70 % geschätzt. Immerhin arbeiten für sie ca. 900.000 Menschen, und zusammen mit den weiteren Beschäftigten der Kirchen mitsamt ihrer Wohlfahrtsträger kommen sie auf mehr als 1,2 Millionen. Das enorme Wachstum der kirchlich Beschäftigten hält schon lange an und steht im umgekehrten Verhältnis zur Mitgliederentwicklung. Damit sind die beiden Kirchen nach dem Öffentlichen Dienst der größte Arbeitgeber in der Bundesrepublik – weit vor großen Automobilkonzernen. Für all diese Beschäftigten gelten das Betriebsverfassungsgesetz und die Personalvertretungsgesetze nicht, die Geltung des Tarifvertragsgesetzes wird beharrlich bestritten. Etliche Arbeitsgerichtsprozesse, höchstrichterliche Urteile auf EU-Ebene, hartnäckiges Drängen der Gewerkschaft ver.di – inklusive Durchsetzung des Streikrechts – haben diese geschlossene Abwehr bislang nur punktuell durchlöchert.
„Staatskirchenrecht“: von Weimar nach Bonn
Die Kirchen berufen sich auf den Artikel 140 Grundgesetz, in dem 1949 festgestellt wurde, dass die religions- und weltanschauungsrechtlichen Regelungen der Weimarer Verfassung von 1919 in ihrem Wortlaut weiterhin gelten. Dabei geht es unter anderem um das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, also das Recht, ihre inneren Verhältnisse eigenständig und ohne staatliche Einmischung, aber „in den Schranken der Gesetze“ zu regeln. Diese Weimarer Verfassungsartikel galten und gelten immer noch zurecht als vorbildlich, und in der Weimarer Republik gab es durchaus bei konfessionellen Trägern Betriebsräte. Sogar über einen Streik von Friedhofsgärtnern wird berichtet.
In Weimar 1919 und in Bonn 1949 waren aber die Ausgangsbedingungen völlig anders. In der Ersten Republik wollte die katholische Kirche – damals reichsweit eine Minderheit gegenüber der protestantischen – sich schützen vor Angriffen und Eingriffen wie zuzeiten des Kulturkampfes. Die protestantische Kirche wiederum, im Pastoren-Korps mehrheitlich republikfeindlich, empfand dieses Schutzbedürfnis erstmals. In beiden Lagern waren die Verfassungsregeln auch ein Kompromiss zwischen republikfreundlichen und -feindlichen Kräften.
n Bonn 1949 hatten sich die Verhältnisse gewendet: Nun war der immer noch gut organisierte Katholizismus in der Mehrheit, die evangelischen Kirche aber in der Minderheit. Jetzt hatte die evangelische Kirche, vor allem durch die Erfahrungen der Bekennenden Kirche, ein hohes Interesse an Abwehr staatlicher Eingriffe, während die neuen Machtverhältnisse es der katholischen Kirche möglich machten, massiv auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates Einfluss zu nehmen. Aus Bischofskreisen erreichten Adenauer sogar Drohungen, das Grundgesetz gegebenenfalls zu Fall zu bringen. Neben dem Thema der konfessionellen Schule und der Elternrechte fand man in den Weimarer Artikeln einen Kompromiss, der auch akzeptiert wurde.
Durch alle Auseinandersetzungen hindurch entwickelte sich, zumindest in der Grundform, ein Verständnis des säkularen Rechtsstaates, in dem die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht in eine Privatsphäre verbannt wurden (das französische Laizismus-Modell), sondern zur Kooperation mit dem Staat eingeladen wurden. Wobei allerdings der Staat keine Wertentscheidungen zu treffen hatte, sondern sich neutral (aber nicht passiv) verhalten musste. Will heißen, er durfte und darf keine Religionsgemeinschaft gegenüber anderen bevorzugen oder benachteiligen. Angesichts der extrem hohen und anfangs wachsenden Mitgliederzahl der beiden Großkirchen tauchten hierbei kaum Probleme auf.
Überdehnung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts
Seit den 1950er Jahre setzte dann, vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, eine immer weiter vorangetriebene Ausdehnung oder auch – wie Kritiker sagen – Überdehnung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ein. Daran entzünden sich bis heute die Kontroversen. So war auch wiederkehrende Frage zu beantworten, inwieweit eine kirchliche Arbeit, die einer gewöhnlichen Arbeitnehmertätigkeit gleichkommt, anders behandelt werden soll als die gleiche Arbeit im weltlichen Bereich.
Mit mehreren Urteilen hat das Bundesverfassungsgericht über einen langen Zeitraum dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Vorrang vor allgemeinen Arbeitnehmerrechten eingeräumt. Das schien in den 1950er und 1960er kein sonderlich brennendes Problem. Die Kirchen repräsentierten eine überwiegende Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung, man kann sogar von einer Revitalisierung kirchlichen Lebens in der Gesellschaft sprechen. Die bislang einzig relevante Opposition, die Sozialdemokratie, wurde erfolgreich gerade dadurch, dass sie sich weltanschaulich öffnete. Und in den kirchlichen Trägern, etwa katholischen Krankenhäusern, waren noch zu einem hohen Anteil Ordensmitglieder beschäftigt, deren arbeitsrechtlicher Sonderstatus immer unbestritten war und auch heute noch ist.
Mit der ausdrücklich republikanischen und teilweise auch radikaldemokratischen Neuorientierung auf evangelischer Seite sowie dem turbulenten und anfangs tiefgreifenden Reformprozess in der katholischen Kirche in den 1960er Jahren stand auch die Legitimität kirchlicher Aktivitäten nicht in Frage; zumal das militante Eingreifen der katholischen Kirche in Wahlkämpfe – langsam – nachließ.
Dieser soziale und alltagskulturelle Hintergrund verblasste, sein orientierender Rahmen, der das Thema des kirchlichen Arbeitsrechts in den vergangenen Jahrzehnten plastisch machte, verflüchtigte sich. Gleichwohl, es war und blieb eigentlich ein kirchliches und, durchaus anspruchsvoll, ein theologisches Thema: Weniger die Frage, wie viel „Welt“ denn in die Kirchen kommen sollte, sondern wie das christliche Leben ein Leben „in der Welt“ (und zwar so, wie sie ist und wird) sein kann. Während diese Frage hin und her gewendet wurde, sowohl theologisch wie kirchenrechtlich, blieb es bei den kirchlichen Trägern wie Caritas oder Diakonie nicht nur beim Alten. Sie dehnten sich immer weiter aus, übernahmen – gerade bedingt durch den Rückzug des Staates aus der sozialen Grundversorgung – immer mehr ganz gewöhnliche, weltlich gesehen allerdings anspruchsvolle Aufgaben. Sie wurden damit gleichzeitig in manchen Regionen dominierend im Gesundheitswesen und sozialen Einrichtungen, die zu garantieren eigentlich der „sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20 Grundgesetz) berufen ist. Dieser aber ließ es zu, zumal eine fatale Gesetzgebung seit Anfang der 1960er Jahre Großorganisationen wie Caritas und Diakonie nach dem „Subsidiaritätsprinzip“ mit regionalen und rein lokal operierenden Trägern gleichstellte.
Währenddessen erodierte die kirchliche Mitgliedschaft zusehends, zuletzt geradezu eskalierend. Womit auch die Akzeptanz der Privilegien auf dem Arbeitsmarkt und im Arbeitsrecht in Frage gestellt waren und sind. Der bislang durchweg unklar beschriebene Prozess gesellschaftlicher Säkularisierung (der eben nicht Abschied von Glaube, Religiosität bedeuten muss) hat die Kirchen verschiedentlich beschäftigt, aber ohne Not daran festhalten lassen, eine überdehnte Auslegung des religions- und weltanschauungsrechtlichen Sonderstatus für sich zu reklamieren.
„Christliche Dienstgemeinschaft“
Eiserne Klammer all dieser Rechtsverhältnisse ist der Begriff der „christlichen Dienstgemeinschaft“. Grundlegende Annahmen des Verfassungsrechts, etwa die einer „strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer“, aus der sich das Koalitions- und Streikrecht mitbegründet, sollen nicht gelten. Denn, so die kirchliche Auffassung: den Arbeitgeber binden dieselben Normen wie die Arbeitnehmer.
Das System der kirchlichen Mitarbeitervertretungen, das am Ende – so sagte es die Caritas explizit – „Zwangsschlichtungen“ vorsieht, verhindert Rechtschutz bei normalen Arbeitsgerichten, entfaltet dagegen eine eigene Arbeitsgerichtsbarkeit nach Kirchenrecht. In Einzelfällen, bei Vertragsstreitigkeiten, können Arbeitnehmer:innen die gewöhnliche Arbeitsgerichtsbarkeit anrufen, die dann aber nur auf kirchenrechtlicher Ebene entscheiden soll. Das sind Spuren einer „Parallelgesellschaft“.
Nachgerade abstrus wird die „christliche Dienstgemeinschaft“, wenn ein Arzt – wie geschehen – gekündigt wird, weil er nach einer Scheidung wieder geheiratet hat. Unter dem Druck der öffentlichen Kritik hat auch die Caritas die Normen „liberalisiert“. Nunmehr aber so, dass im Einzelfall geprüft wird – mithin für die Betroffenen reine Willkür herrscht. Aber auch auf übergeordneter Ebene wird die „christliche Dienstgemeinschaft“ ad absurdum geführt. So hatte der evangelische Kirchengerichtshof einmal über Auslagerung durch Leiharbeit zu urteilen. Er verbot dies, teils mit dem Hinweis, Leiharbeit sei nur zulässig, wenn sie Schwankungen in der Personalbesetzung abfedere, – aber auch, wenn das betreffende Leiharbeitsunternehmen selbst der „christlichen Dienstgemeinschaft“ verpflichtet sei.
Von den schlechten Regeln gibt es seit einiger Zeit wenige, gute Ausnahmen. So sind die evangelischen Kirchen etwa in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein einen anderen Weg gegangen. Sie haben Tarifverträge mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossen. Sie wissen offenbar, dass das kirchliche Arbeitsrecht zunehmend an Akzeptanz verliert, weil die Kirchen selbst ein Akzeptanzproblem haben. Es geht also nicht darum, dass ein neuer „Kulturkampf“ des Staates gegen die Kirchen entfacht wird, sondern dass die Kirchen diese Konflikte aufnehmen und sich einer innerweltlichen Auseinandersetzung auch in ihren inneren Verhältnissen stellen. Bis es so weit ist, bleibt nichts anderes als Drängen und Kämpfen, auch Streiken, fürs gleiche Recht aller Arbeitnehmer:innen.
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