Der Liberalismus, der Freiheit im Parteinamen führt, hat schon lange keine aktive Bürgergesellschaft mehr im Sinn, sondern „die Freiheit der Wirtschaftssubjekte kleiner und mittlerer Unternehmen“. Was in und mit der Gesellschaft sonst passiert, rangiert für die Lindner-FDP seit Jahren unter ferner liefen. Ändert sich das gerade? Dem großen Liberalen Ralf Dahrendorf, dem die „Apathie der Bürger“ Sorgen bereitet hat, würde es gefallen. Er fragte, was passiert, wenn passive Gleichgültigkeit an die Stelle der aktiven Teilnahme am Leben des Gemeinwesens tritt. Seine Antwort: „Im günstigsten Fall bedeutet das ein Absinken in eine Art unfreiwilligen Autoritarismus. Die Bürger schlafen und die Herrschenden tun, was sie wollen.“ Wie viel Ausblick bietet ein Rückblick mit Hilfe Dahrendorfs, der Freiheit zu seinem Lebensthema gemacht hat?
Dahrendorf hatte damals wohl die osteuropäischen Staaten besonders im Blick, denn er schrieb, dass nach der Revolution von 1989 die Demokratie überall unter Druck gerate. Autoritäre Regierungen lebten von der Apathie der Bürger, die ihren privaten Interessen nachgingen, während eine Nomenklatura aus Funktionären der Partei- und internationalen Organisationen das öffentliche Interesse in eines zu eigener Machterhaltung verwandelt hatte. Die andere Seite des neuen Autoritarismus waren die westlichen Gesellschaften der couch potatos, der Fernsehzuschauer, die ihre freie Zeit Kartoffelchips kauend auf dem Sofa verbrachten und auf dem Bildschirm eine Welt passieren ließen, an der sie keinen Anteil mehr haben und bald auch keinen mehr haben können.
Das engagierte liberale Bürgertum ist sich bis auf den heutigen Tag darüber einig, dass man der Apathie mit praktischem Handeln, das Probleme löst, begegnen kann. Schließlich ist hierzulande die parlamentarische Demokratie klassischen Zuschnitts Rückgrat der Verfassung der Freiheit und außerdem ist die Herrschaft des Rechts garantiert. Die aktive Bürgergesellschaft zeigt sich beispielsweise in ihrem Engagement in den freiwilligen und wohltätigen Organisationen, in Kulturvereinen oder Organisationen zur Fürsorge für kranke und alte Menschen.
Hätte Dahrendorf die Gegenwart als autoritativ eingeschätzt? Er hätte auf die autoritären Regimes vor unserer Haustür verweisen können: auf Russland, einige Staaten Osteuropas, die Türkei und die USA unter Trump. Aber auf Deutschland? Immerhin können wir eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten festhalten: Die Beteiligung an Bundestagswahlen ist nie unter 70 Prozent gefallen und niemals stellten die Verlierer den Machtwechsel prinzipiell in Frage. Viele Menschen nutzen das große Spektrum an Beteiligungsmöglichkeiten auf regionaler und städtischer Ebene bis hin zu den Ortsbeiräten in den Stadtteilen. In Bürgerinitiativen und Vereinen, in Unternehmen und Verwaltungen, in Beiräten von Schulen und Pflegeeinrichtungen bestimmen die Menschen mit. Kann also von autoritativen Tendenzen und politisch apathischen Bürger:innen in Deutschland nicht die Rede sein?
Schwanken zwischen Privatwohl und Gemeinwohl
Albert O. Hirschman hat zehn Jahre nach 1968 ein Buch über das Schwanken der Bürger:innen „zwischen Privatwohl und Gemeinwohl“ geschrieben.1 Damals war der große Stimmungsumschwung dieser Jahre klar erkennbar. Wesentlicher Ausdruck für den Zeitgeist von 1968 war das überraschend auftretende überwältigende Interesse für öffentliche, politische Fragen wie für Krieg und Frieden oder für die Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. Schon eine Dekade danach wurde dieser Zeitgeist als befremdlich überspannte Ausnahmeerscheinung hingestellt. Denn im Lauf der siebziger Jahre wandten sich die meisten Bürger:innen wieder der Sorge um ihre privaten Interessen zu.
Für Hirschman war der Rückzug in die private Sphäre nicht allein mit Enttäuschungen über das öffentliche Leben zu erklären, sondern die private Sphäre verfügte durchaus über Anziehungskräfte. Die privaten Tätigkeitsfelder und das Leben im privaten Bereich erlauben „die Beimischung öffentlichkeitsbezogener Motive“. Die Bürger:innen waren davon überzeugt, dass mit der Sorge um das eigene Wohl dem Allgemeinen am besten gedient ist. Diese machtvolle Ideologie vermochte den Übergang vom öffentlichen Leben in die Welt der Privatbürger zu ebnen. Die Beschäftigung allein mit den eigenen privaten Bedürfnissen bedeutete, dass man sowohl dem illusorischen und anmaßenden Anspruch abschwor, die Welt zu verbessern, als auch der Einbildung eine Absage erteilte, ihre Gesetze und Geheimnisse zu verstehen – und sich stattdessen den Angelegenheiten von unmittelbarem Nutzen pragmatisch zuwandte. 2
Dahrendorfs Beschreibung apathischer Bürger:innen zielte auf andere ab als diejenigen, die über ihre Engagement oder Nicht-Engagement entscheiden können. Diese anderen können den Wechsel in den öffentlichen Bereich nicht vollziehen, weil es ihnen an materiellen Ressourcen, kulturellen Kompetenzen und einem darauf aufbauenden Selbstbewusstsein fehlt. Mit der entschlossenen Förderung einer aktiven Bürgergesellschaft könnten wohl einige Hunderttausend zu aktiven Bürger:innen werden. Allerdings erfordert dieser Weg viel Investitionen und Zeit und lässt keine kurzfristigen Erfolge erwarten. Darauf sind wichtige Institutionen gegenwärtig nicht eingerichtet: die Arbeit ist in weiten Teilen nicht lernförderlich organisiert, die Werbung verstärkt ein konsumorientiertes Lebensgefühl und selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird Politik von Moderator:innen allzu gern auf den Dualismus von Erfolg und Niederlage von Politiker:innen reduziert.
Fragmentierte Gesellschaft
Die Gefahr für westliche Demokratien liegt nicht in despotischer Kontrolle.3 Stattdessen sind die Bürger:innen immer weniger imstande, sich einen gemeinsamen Zweck zu setzen und diesen zu erfüllen. Der amerikanische Philosoph Charles Taylor hat von einer Tendenz zum „abgeglittenen“ Subjektivismus gesprochen.4 Wenn die Menschen immer weniger spüren, dass sie durch gemeinsame Vorhaben und Loyalitäten an ihre Mitbürger:innen gebunden sind, kommt es zur Fragmentierung. Sie resultiert aus der Schwächung der Sympathiebindungen und einem sich selbst verstärkenden Fehlschlagen der demokratischen Initiative. Es fehlt, dass sich demokratische Mehrheiten im Umkreis sinnvoller Programme bilden, die zum Abschluss gebracht werden können.
In der Bundesrepublik Deutschland erscheinen die Bedingungen dafür, dass es anders werden könnte, besser als in den USA, die Taylor beschreibt. Dort gerieten die Debatten zwischen den Hauptkandidaten immer mehr aus den Fugen und die eigennützigen Tendenzen ihrer Aussagen wurden immer eklatanter. Die Versprechungen der Politiker:innen waren von geradezu lächerlicher Unglaubwürdigkeit. Komplementär dazu sank die Beteiligung an landesweiten Wahlen und hatte zwischenzeitlich die Marke von 50 Prozent erreicht.5 In Deutschland ist man davon weit entfernt, aber es gab Tendenzen im Bundestagswahlkampf, die in diese Richtung weisen. Sogenannte „Duelle“ und „Trielle“ nehmen auf unerfreuliche Weise zu und bei der Kommunikation mit den Spitzenkandidaten dominieren Sendeformate die politischen Inhalte; Sendeformate, die aus Publika couch potatos machen. Und die Partei mit der Freiheit im Namen, besinnt sie sich auf ihre politische Verantwortung? „Das alte Hallodri-Image, das sich die Liberalen über die Jahre verdient haben mit Fallschirmsprüngen, 18-Prozent-Schuhsolen und AfD-Unterstützung in Thüringen, um nur einige Stunts zu nennen – sie scheinen es gerade jetzt, da es wirklich wichtig wird, abzulegen“ urteilt ZEIT-Redakteur Lenz Jacobsen.
1 Vgl. Albert O. Hirschman, Engagement und Enttäuschung, Suhrkamp Verlag 1984 2 Vgl. Hirschman (1984, 141f) 3 Vgl. Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne (1991), suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt, 11. Auflage 2020, S.125ff 4 Vgl. Taylor (2020, S.65-81) 5 Taylor (2020, 129)