Die Charakterisierung war treffend und gilt heute mehr denn je. „Scholz“, schrieb der Spiegel im November 2007, „ist ein gutes Beispiel dafür, welche Umwege man in der Politik manchmal gehen muss, um dort zu landen, wo man hinpasst.“ Oder, um es im Fall von Olaf Scholz zu präzisieren, um dort zu landen, wo man hinzupassen glaubt.
Als der Spiegel das schrieb, hatte Scholz ein wichtiges Etappenziel erreicht, war Arbeitsminister im ersten Kabinett Angela Merkels geworden, weil Franz Müntefering sich aus privaten Gründen aus dem Amt zurückgezogen hatte. Dass dem spröden Norddeutschen dieser Sprung gelingen konnte, hatte drei Jahre zuvor kaum jemand für möglich gehalten, nachdem er als Generalsekretär unter dem SPD-Vorsitzenden Gerhard Schröder krachend gescheitert war. Unbeliebt in der Partei, niedergeschrieben von den Medien als „Schröders Hofsänger“, schien er 2004 die Zukunft hinter sich zu haben.
Dabei sollte der Job des Generalsekretärs eigentlich Belohnung sein für den ersten Umweg, den der 1998 in den Bundestag eingezogene Arbeitsrechtler gehen musste. Als Landesvorsitzender der Hamburger SPD wurde er 2001 von den Genossen in der Hansestadt, aber auch von der Parteiführung im Willy-Brandt-Haus gedrängt, den Posten des Innensenators in der Hansestadt zu übernehmen, um eine drohende Niederlage bei der Landtagswahl durch einen strikten „Law and Order“-Kurs zu verhindern. Der Versuch misslang. Die SPD verlor erstmals seit den fünfziger Jahren ihre Führungsrolle in Hamburg. Ausgerechnet der Rechtsausleger Ronald Schill wurde unter dem Ersten Bürgermeister Ole von Beust (CDU) Nachfolger des Innensenators Scholz. Was für die Hamburger SPD eine Katastrophe war, kam Scholz nicht ungelegen. Er konnte sich wieder der Bundespolitik zuwenden. Das hielt er für angemessener als die Niederungen der Landespolitik zu bespielen.
Sein Ruf als Macher an der Alster
Der erneute, ungeliebte Umweg Hamburg wurde für Scholz ein Jahrzehnt später indes zum Glücksfall. Hatte er sich 2007 noch vehement dagegen gewehrt, die bundespolitischen Ambitionen aufzugeben und als Spitzenkandidat anzutreten, erkannte er 2011 – im Bund war die SPD in der Opposition – die Gunst der Stunde, trat für das Amt des Ersten Bürgermeisters an und gewann mit absoluter Mehrheit. Die Republik staunte. Der in den Medien immer wieder hervorgekramte „Scholzomat“ als Menschenfischer? Einen Teil des Erfolgs verdankte er einer abgewirtschafteten CDU-Landespartei. Doch der andere war seinem Verdienst geschuldet, eine lange zerstrittene SPD straff auf Gemeinschaftskurs gebracht zu haben. „Wer Führung bei mir bestellt, bekommt sie auch“, ließ er den Genossen keinen Zweifel, wer künftig den sozialdemokratischen Ton an der Alster vorgeben würde. Der „sitestep“, wie er sein Hamburger Engagement nannte, geriet zum Erfolgsmodell.
Während sich die Berliner SPD-Granden in der zweiten großen Koalition mit Angela Merkel ab 2013 nur mühsam – oder gar nicht – gegen den Niedergang der Volkspartei auflehnen konnten, genoss er an der Alster den Ruf als Macher. Der geriet nur einmal in Gefahr, als Scholz als Gastgeber des G-7-Gipfels 2017 mit den Großen der Welt eine Weihestunde in der Elbphilharmonie genoss, während die Stadt von der Randale der Gipfelgegner erschüttert wurde. Mit der ihm nicht fremden Arroganz hatte er zuvor die Gefahr verdrängt und versichert, als Bürgermeister alles im Griff zu haben. Hamburg als „Tor zur Welt“ sollte auch ihm das Tor zur Weltpolitik öffnen.
Viele Klischees im Umlauf
Dass die Macht in dem Stadtstaat Olaf Scholz auf Dauer nicht genügte, dass er seinen Platz in der ersten Liga der Republik sah, war nie zu übersehen. Von Gerhard Schröder gibt es das Bild, dass er als junger Abgeordneter am Zaun des Bonner Bundeskanzleramtes gerüttelt und gerufen haben soll: „Ich will hier rein“. Eine Szene, für Scholz nicht vorstellbar. Er vermittelte in seiner Laufbahn immer die Gewissheit, dass sich für ihn das Tor in die bundesrepublikanische Regierungszentrale irgendwann von selbst öffnen werde.
Über den oft unterkühlt wirkenden Juristen sind viele Klischees im Umlauf. Arrogant, besserwisserisch, humorlos, unkommunikativ, beratungsresistent. Vorurteile, die Olaf Scholz nur in Ansätzen gerecht werden. Am ehesten trifft auf ihn eine andere Charakterisierung zu. Ein zielstrebiger Zauderer. Das Kanzleramt seit seiner Zeit als Arbeitsminister (2007 bis 2009) im Blick, hat er immer wieder gezögert, dies öffentlich anzumelden. Viele, die in der SPD unter dem unberechenbaren Vorsitzenden Sigmar Gabriel litten, hatten erwartet und gehofft, Scholz würde gegen ihn antreten. Der aber spitzte nur die Lippen, wog das Risiko ab und wartete. Wissend, dass er das schlechte Image aus seiner Generalsekretärzeit in der Partei nie losgeworden war.
Er ließ Gabriel vorbeiziehen, arrangierte sich mit der kurzen Amtszeit als SPD-Chef und der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz und glaubte endlich eine Perspektive gefunden zu haben, als Andrea Nahles 2018 das Parteizepter übernahm. Ein Gespann: sie SPD-und Fraktionsvorsitzende, er als Finanzminister Vizekanzler in der ungeliebten großen Koalition, mit der Perspektive von Nahles als Kanzlerkandidat für 2021 ausgerufen zu werden.
Der Traum platzte, als Nahles – zermürbt von Sticheleien in Bundestagsfraktion und Partei, gescheitert an einem aufbrausendem Führungsstil – schon ein Jahr später hinwarf. Wieder einmal schien Scholz seine Zukunft hinter sich zu haben, zumal er nach einigem Zaudern den monatelangen, zähen Kampf um den Parteivorsitz gegen die weithin unbekannte Hinterbänklerin Saskia Esken und deren Partner Norbert Walter-Borjans verlor.
Wieder einmal abgestraft von der Basis, gab er dennoch nicht auf. Die Hartnäckigkeit, die er sich über die Jahre als fanatischer Jogger und Ruderer antrainiert hat, bescherte ihm gegen alle Widerstände die Kanzlerkandidatur und dann einen nicht für möglich gehaltenen Wahlsieg. Belächelt von Partei, Medien und Wählern, als er über Monate mantraartig immer wiederholte, er werde Kanzler werden, war er offenkundig der einzige, der daran glaubte. Bis zum 26. September als Wahlsieger. Die lange Geschichte von Niederlagen und Umwegen, von Zielstrebigkeit und Zaudern, die Überzeugung, dass sich irgendwann die Tore der Regierungszentrale öffnen werde, am morgigen Mittwoch wird sie beendet sein.
Olaf Scholz tritt als vierter Kanzler der SPD die Nachfolge von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder an. Ein Ziel, an das er immer geglaubt hat.
Der Beitrag erscheint auch im Blog der Republik
Siehe dazu auf bruchstücke „Ich, Olaf Scholz„
In der Regel einige Tage nach der Wahl durch den Deutschen Bundestag gibt der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung ab. Diese Antritts-Regierungserklärungen folgen im Großen und Ganzen einem Modell, das schon Konrad Adenauer am 20. September 1949 praktiziert hat. Am Anfang steht dabei „die Interpretation des Wählerauftrages. Der Dank geht an die Wähler und häufig auch staatsmännisch an den Vorgänger im Amt. Daran schließt sich unmittelbar die Klage über das schwierige Erbe an. […] Mit welchen neuen Leitformeln und Grundideen diese Aufgabenstellung der neuen Regierung erfolgen soll, wird bereits gleich am Anfang der Regierungserklärung betont.“
Korte, K.-R. (Hrsg.) (2002): „Das Wort hat der Herr Bundeskanzler“. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 15 (at)