Thema Zwangsheirat — lieber doch verdrängen?  

Darf an deutschen Schulen nur dann über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen geredet werden, wenn sie in der katholischen Kirche geschieht? Aber auf gar keinen Fall, wenn es sich um Zwangsverheiratung unter Migranten handelt? Verstörende Fragen des Kulturrelativismus, die wieder einmal ein Fall an einem Siegburger Gymnasium aufwirft.

Screenshot: Polis aktuell Nr. 1-2016, Wien; https://www.politik-lernen.at/dl/usuoJMJKomLnLJqx4KJK/pa_2016_1_zwangsheirat_web.pdf

„Ein türkischer Familienvater in Deutschland verheiratet seine Tochter ohne deren Einverständnis mit dem Sohn seines Bruders, um diesem eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und damit eine Existenz zu sichern. Besprich die Situation mit deiner/m Tischnachbarin/Tischnachbarn. Welche Konflikte seht ihr darin?“ Diese Aufgabe aus einem in Nordrhein-Westfalen amtlich zugelassenen Schulbuch stellte ein Lehrer an einem Siegburger Gymnasium im Philosophieunterricht einer Oberstufenklasse. Soweit völlig normal. Und vor allem auch dringend geboten, ist dieses Thema doch für viele Mädchen und junge Frauen aus arabischen und türkischstämmigen Familien von hoher Bedeutung. Zudem fordern Bundesfamilien- und Frauenministerium, das entsprechende Ministerium in Nordrhein-Westfalen, Opferberatungsstellen und Experten eine solche offensive Auseinandersetzung bereits seit langem.

Orchestrierter Shitstorm?

Was jedoch auf diesen Schulunterricht folgte, zeigt, wie tief der Kulturrelativismus bei uns bereits bis weit hinein in Teile der Politik eingesickert ist, auch eine Folge verhängnisvoller Debatten in links-identitären Kreisen und des Wirkens reaktionärer Islamverbände und anderer Islamisten.

Die Föderation Türkischer Elternvereine in Nordrhein-Westfalen protestierte gegen diesen Unterricht, begleitet von einem offensichtlich orchestrierten Shitstorm im Internet. Das Argument der Kritiker: Das sei Diskriminierung. Viele türkischstämmige Eltern aus Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern seien fassungslos, dass die Aufgabe so gestellt worden sei, schrieb der Verein in einem Offenen Brief an die Schulministerin des Bundeslandes, Yvonne Gebauer (FDP); der Verein ist dem Umfeld der AKP zuzurechnen, der Regierungspartei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.  

Die Kritiker weiter: Besonders der Nebensatz sei „fatal“. Deren Urteil im Wortlaut: „Er beinhaltet, dass die besagte türkische Familie ihre Tochter nicht nur ohne ihr Einverständnis verheiratet, sondern sich zudem auf illegale Weise gesellschaftliche Vorteile einschleicht also ‚Schmarotzer‘ sind.“ Diese Art der Unterrichtsgestaltung bediene sich damit des „Vokabulars von rechtsradikalen Populisten und trägt dazu bei, dass sich diese Art von Klischees in den Köpfen der Schüler*innen verfestigt“. Also eine Argumentation getreu des alten Mottos: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Dabei sagen Experten seit langem, dass solche Entscheidungen und Ereignisse alltäglich sind. Die Kritik wird, ausgerechnet von einem solchen Verband, allerdings vorbildlich gegendert vorgetragen.

Kotau einer liberalen Ministerin

Und was macht die liberale FDP-Ministerin: Sie verbittet es sich nicht, dass ausgerechnet ein AKP-naher Verband sich in die Bildungshoheit des Staates einzumischen versucht. Vielmehr duckt sie sich weg. Aber damit nicht genug: Sie gibt dem türkischen Verband auch noch recht. Ihre Stellungnahme: „Die konkrete Aufgabe, die Teil eines Schulbuches ist, verstößt gegen das Kriterium der Diskriminierungsfreiheit“. Und weiter: Ihr Ministerium werde das kritisierte Schulbuch „darüber hinaus intensiv prüfen und den Verlag auffordern, es zu überarbeiten.“ Das alles ist ihr noch nicht genug. Sie fügt dem allem noch eine Entschuldigung hinzu: „Die Haltung der Landesregierung ist glasklar: Schulen sind Orte des Miteinanders, an denen es keinen Platz für Ausgrenzung und Vorurteile in welcher Form auch immer gibt.“ Serap Güler, bis vor kurzem hochgehandelte Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen, jetzt CDU-Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Bundesvorstand, assistiert, indem sie das Thema verharmlost und relativiert. So sagt sie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: Zwangsehen gebe es auch im „christlichen und jüdischen Kontext“. Bei dem „Phänomen“ handele es sich um „Einzelfälle“. Auch die Schulleitung entschuldigte sich.

Lediglich die Bezirksregierung Köln nahm Lehrer und Schulbuch in Schutz. Die Stellungnahme: Es gehe in dieser Unterrichtsreihe zu dem übergeordneten Thema Kultursensibilität (!) gerade nicht um Vorverurteilungen und das Schüren von Ressentiments, sondern ganz im Gegenteil um die „Entwicklung eines kultursensiblen eigenen Sach- und Werturteils im Horizont philosophischer Ansätze“.

Foto: wikimedia commons

Eine brisante Verknüpfung?

Ist ein solches Thema türkisch- und arabischstämmigen Schülerinnen und Schülern tatsächlich nicht zuzumuten? Oder muss es nicht vielmehr Aufgabe der Schulen sein, genau diese Fähigkeit auch bei ihnen zu entwickeln und zu fördern, mit solchen umstrittenen Vorgängen kritisch und konstruktiv umzugehen? In Wahrheit diskriminiert doch umgekehrt derjenige, der behauptet, es sei stigmatisierend, Migranten mit solchen Themen wie Kopftuchzwang und Zwangsheirat zu konfrontieren. Denn bei diesen Themen geht es doch um nichts anderes als um den Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt.

Nun gibt es einen Punkt, den die Kritiker in diesem Fall aufgreifen, an dem sich vielleicht viele stören. Denn: In der im Unterricht gestellten Aufgabe, die ja zum Nachdenken und Diskutieren anregen soll, werden zwei gleichermaßen brisante Themen verknüpft: das Thema Zwangsehe mit dem Erschleichen eines legalen Aufenthalts. Aber warum soll dieses Thema nicht genauso aufgegriffen werden? Erstens ist diese Verknüpfung nach Aussagen von Experten und Helfern, die damit regelmäßig zu tun haben, sehr wohl realistisch. Zweitens sollten im Unterricht ethisch-philosophische Fragen möglichst konkret und nicht nur abstrakt behandelt werden. Und drittens steht es weder einem türkischen Elternverein noch einer Shitstorm-Gemeinde oder anderen Außenstehenden an, Schulbücher, Lehrer oder den Unterricht zu zensieren zu versuchen; kritisieren immer, zensieren nicht.

Es geht um Straftaten

Die Gesetzeslage ist jedenfalls eindeutig. Zwangsehen sind in Deutschland eine Straftat. Darauf stehen bis zu fünf Jahre Haft und gegebenenfalls die Ausweisung. Auf Betreiben auch von CDU und FDP wurde im Jahr 2011 auf Antrag des Bundesrats dieser Straftatbestand im „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Änderungen“ noch einmal verschärft. Eben weil Zwangsverheiratungen in den entsprechenden Kulturkreisen Realität sind: brutale Gewalt an Mädchen und jungen Frauen, die um ein selbstbestimmtes Leben gebracht und von ihren ungewollten Ehemännern oft auch noch in ihnen fremde „Heimatländer“ verschleppt werden.

Weit fortgeschrittene Anfänge

Und wenn nun Aufgeregte einwenden, es könne mit offiziellen Statistiken gar nicht belegt werden, dass Zwangsehen in Deutschland mehr als Einzelfälle seien, dann stimmt das. Denn es gibt diese Statistiken nicht. Das beweist jedoch keineswegs, dass es solche Zwangsehen nicht in großer Zahl gibt. Das beweist nur, wie zaudernd, geradezu fahrlässig dieses brisante Thema von Politik und Wissenschaft anhaltend behandelt wird. Das Bundesfamilien- und Frauenministerium hat schon vor Jahren eine empirische Untersuchung dazu angekündigt. Bis heute liegen keine Ergebnisse vor. In einer mehr als zehn Jahre alten Studie des Ministeriums gab die Hälfte von mehr als 1000 befragten Beratungs- und Hilfestellen an, bei ihnen meldeten sich Mädchen und junge Frauen vor allem aus türkischen und arabischen Familien wegen Zwangsverheiratungen und bäten deswegen um Hilfe. Mit anderen Worten: Von Einzelfällen kann keine Rede sein.

Nun sollte man den Vorfall in NRW nicht hochjazzen. Allein um den Kulturrelativisten und Islamisten, die Täter zu Opfern ummünzen, nicht auch noch einen Gefallen zu tun. Doch es gilt auch bei uns den weit fortgeschrittenen Anfängen zu wehren. In Paris wurde der Lehrer Samuel Paty 2020 von einem Islamisten enthauptet. Auch er hatte im Unterricht Gewalt in und aus der migrantischen Gemeinschaft thematisiert: die Terrorangriffe gegen die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen. Auch dort protestierten Eltern arabischer Schüler. Bis der Täter zum Messer griff.

Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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