Mit Green New Deal kann man den Leuten nicht kommen, wenn ihr Job gerade verlagert wird  

Sozial-ökologische Modernisierung war das Versprechen, das die Koalition ins Amt getragen hat. Gemeint ist die rot-grüne Koalition vor bald 25 Jahren, nicht die aktuelle Ampelregierung. Sehr weit ist diese Modernisierung seither nicht gediehen. Woran lag es damals und woran liegt es heute? Als Bremser des Projekts waren einmal die Gewerkschaften ausgemacht; den Herren Schröder und Fischer galten sie als solche. Die Unternehmerverbände waren von Rot-Grün durchaus angetan. Die Außenpolitik bezüglich Russlands traf auf höchstes Lob. Den Unternehmensvorständen galt das zerfallene Sowjetimperium als günstige Gasstation, dem man obendrein noch ein paar Gaskraftwerke verkaufen konnte. Das will man heute nicht wahrhaben, ist ja auch schon so lange her. Die damals verkündete ökologische Modernisierung hat es nicht sehr weit gebracht. Womit auch?

Mit der Einführung des Pfands für Plastikflaschen, eins der großen Reformprojekte von Rot-Grün? Wer in den Automobilunternehmen zu tun hatte, konnte von Aufbruch damals nichts sehen. Toyota kam mit dem Hybridmotor schon bald um die Ecke, aber VW & Co winkten ab. Der Golf lief und lief und die fetischisierten Autos der Mittel- und Oberklasse verkauften sich auch wie geschnitten Brot. Die Zulieferer aus der Batteriesparte hatten sich gerade selbst abgewickelt. Die Autokonzerne kauften das Commodity-Produkt billig aus Fernost ein. In der Batterietechnik waren die deutschen Unternehmen einmal führend gewesen. Heute rennt man der Technologie hinterher und muss sie mit Milliarden von Steuergeldern wieder aufpäppeln.

Auch die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ist als Schlagwort schon lange im Umlauf. Aber die Versöhnung ist auf der Tagesordnung ganz weit nach hinten gerutscht. Der Krieg ist daran schuld, dass ein grüner Wirtschaftsminister US-Flüssiggas kaufen muss. Von den USA wollte man einmal partout kein Chlorhühnchen haben, nun muss man mit der Fördermethode des Frackings seinen Frieden machen. Die amerikanische Kritik an Nordstream 2 war noch vor wenigen Wochen mit dem bei Konservativen wie Sozialdemokraten beliebten Argument abgefertigt worden: Die US-Regierung rede von Sicherheit und Bündnistreue, in Wahrheit wolle sie nur ihr unökologisches Zeug verkaufen.

Jana Flemming hat ein Buch geschrieben, das die wohlfeilen Schlagworte des Politjargons abtun und stattdessen Begriffe bringen will. Es ist ein Buch, welches dem Problem der Gewerkschaften mit der Ökologie gewidmet ist, aber vor dem Hintergrund der nun völlig umgeworfenen Nachkriegsordnung liest es sich als eine Untersuchung der Frage: Wieviel an ökologischem Paradigma bleibt übrig, wenn es an die ökonomische Substanz einer Industriegesellschaft geht?

Wer braucht schon Kohlekumpel

Die Gewerkschaften verbreiten in der Ökologiedebatte immer schlechte Laune, weil sie an die Existenzbedingung der Lohnarbeit erinnern. Wer braucht schon Kohlekumpel? Plötzlich ist die Existenzangst aber nicht mehr auf eine anachronistische Arbeiterschicht beschränkt. Wenn die Werke von BASF in Ludwigshafen und Bayer in Leverkusen still stehen, weil Putin den Stecker gezogen hat, dann trifft es die Chemikerin und den Verfahrensingenieur und den IT-Fachmann und die Marketing-Managerin. Deren Jobs über die Runden zu bringen angesichts eines Zaren, der hinter die von Max Weber formulierte Zweckrationalität zurückfällt, ist das Gebot der Stunde.

Eine Gesellschaft, in der die Produktionsprozesse in der Regie der Angestellten liegen, macht gerade eine Phase durch, in der die Gesellschaftsmitglieder mit der Handlungslogik der von Arbeitern gegründeten Gewerkschaften unmittelbar d’accord sein müssten. Solange die auf dem Verkauf der Arbeitskraft gegründete Existenz nicht gesichert ist, haben alle anderen Themen Luxuscharakter. So müssen jetzt selbst Habeck und Baerbock denken. Dass die deutschen Gewerkschaften Jahr für Jahr eine halbe Million Mitglieder verlieren, komme von ihrer fehlenden ökologischen Kompetenz, sagen die Gebildeten unter ihren Verächtern. Das leuchtet nur ein, wenn man von einer Institution der Gesellschaft die Quadratur des Kreises verlangt, ein Kunststück, an dem die Gesamtgesellschaft seit Jahr und Tag scheitert.

Die Autorin dieses Buchs beleuchtet ihren Gegenstand einmal von innen, einmal von außen. Sie führt qualitative Interviews mit Gewerkschaftsleuten und sie führt durch die Theoriegeschichte des Naturbegriffs. Erfrischend ist es, beim Menü nicht wählen zu müssen: Will man was Empirisches auf Kosten theoretischer Substanz, oder will man letztere und riskiert eine Abstraktionsebene, die dem Gegenstand nicht gerecht wird. Jana Flemming hat mit dieser vermiedenen Alternative ein Buch geschrieben, das nicht nur für Gewerkschaftsfuzzis (so die Invektive gehobener Managerkreise) von Interesse ist. Das von ihr beschriebene Dilemma ist das der in größte Not geratenen Industriegesellschaften. Die Not der reichen Industrienationen: ihre vom falschen ökonomischen Prinzip untergrabene Naturbasis.

Die auf schwachen Schultern ruhende Last

Flemming schreibt nicht im Geist eines Romantizismus, der die Natur gleichsam unberührt wiederhaben will, weder erkenntnistheoretisch, noch als phantasiertes unberührtes Objekt. Jede Gesellschaft beruht auf Naturaneignung, eine ewige Notwendigkeit (jedenfalls so lange wie der zweite thermodynamische Satz nicht sein Recht fordert und die Erde ihrem Ende entgegensieht). Ihr Naturbegriff ist von der Kritik der instrumentellen Vernunft geprägt, wie ihn die Kritische Theorie formuliert hat. Die losgelassene zweckrationale Vernunft, die den Menschen zum Mittel einer Naturaneignung degradiert, die ihm doch zweckdienlich sein soll – an dieses Theorem knüpft Flemming an und unterfüttert es mit den ökologischen faux frais, die Adorno und Horkheimer noch gar nicht vor Augen standen. Wie dieser losgelassenen, mit allen ökonomischen und technologischen Potenzen ausgestatteten Maschinerie in die Speichen greifen, wenn es das eingreifende Subjekt nicht mehr gibt? Von diesem revolutionären Subjekt haben die genannten Autoren schmerzlich Abschied nehmen müssen; die Katastrophe des 20. Jahrhunderts zwang dazu.

Liest man die Textpassagen, in denen Jana Flemming ihre Gespräche mit den IG Metall-Leuten wiedergibt, spürt man förmlich die auf schwachen Schultern ruhende Last. (Auch wenn sich mancher gerne an der Eigenreklame von der größten Einzelgewerkschaft der Welt berauscht). Die politischen Sekretärinnen und Sekretäre wollen in ihrer Mehrzahl an einer emanzipatorischen Politik festhalten, die beides einlösen soll, Existenzsicherung und ein Ende des Raubbaus an der Natur. Es ist das alte Thema der Frankfurter Schule: Die Naturbeherrschung ist selbst zu beherrschen, eher kann es eine Versöhnung nicht geben. Keiner der Interviewten ist von den Industrien, die er (oder sie) als Funktionär einer Industriegewerkschaft zu betreuen hat, so besoffen, dass ihm der ökologische Pferdefuß verborgen bleibt.

Diese hauptamtlichen Gewerkschafter muss keiner zum Jagen tragen, aber sie kommen nicht wirklich voran, will ihre Klientel doch meist nicht mehr als einen halbwegs gesicherten Status quo. In Krisenzeiten allemal. Dann ist der Funktionär der IG Metall ihre Hoffnung; er soll es richten. Mit Green New Deal kann man den Leuten nicht kommen, wenn ihr Job gerade verlagert wird.

Zu viele Autos, aber zu wenig von VW (BMW, Mercedes etc.)

Kulturkritik ist schnell bei der Hand, über die Doofen herzuziehen, an denen man die Kritik der reinen Unvernunft demonstrieren kann, meist mit dem hübschen Nebeneffekt, das eigene, aufgeklärte, ökologische Bewusstsein vorzuführen. Konservative Kulturkritik denunziert die Individuen, aber die Verhältnisse, die die bessere Individualität hintertreiben, denunziert sie nicht. Diese Masche wird man bei Jana Flemming nicht finden.

Eine Frage wirft das Buch auf: Wer hat in den Gewerkschaften das Sagen, der in den Medien präsente Vorsitzende oder die nicht weniger präsenten Betriebsratsvorsitzenden? Zur Selbstdarstellung gehört der Schwur: Wir sind doch beide IG Metall oder IG Chemie. Aber die Chemie muss keineswegs immer stimmen. Die Betriebsräte der Großkonzerne sitzen am langen Hebel, denn sie ‚bringen‘ die Mitglieder. Ihr Einfluss ist in Flemmings Buch unterbelichtet. In der Logik des Betriebssyndikalismus gilt: Ja, es fahren zu viele Autos in der weiten Welt herum – aber leider zu wenige von VW.

Auch ein theoretisches Problem wäre weiter zu durchdenken. Flemming hält an dem Ansichsein der Natur fest. Sie gilt ihr nicht als bloß gesellschaftliche Konstruktion, wie die Letzte-Schrei-Philosophie gerade behauptet. Die Kritik der politischen Ökonomie spricht dem Naturstoff eine innere Form zu. Diese Form muss die menschliche Arbeit beachten, nur ihr gemäß kann sie produzieren. Aus Holz lässt sich ein Tisch, aber kein Segment für die Herstellung des Farbstoffs Rot herstellen. Die Naturwissenschaften, vor allem die Physik, sind das theoretische Gerüst des Produktionsprozesses. Naturwissenschaft kommt ohne Reflexion ihrer erkenntnistheoretischen Grundlage aus. Sie muss nur funktionieren und sie erweist ihre Wirksamkeit im Experiment und dann in der industriellen Praxis. Kritische Gesellschaftstheorie kann es sich nicht so einfach machen. Flemming versichert sich des Begriffs der Nichtidentität. Das ist gute Frankfurter Schule. Mit Karl Heinz Haag hat der hier zur Debatte stehende Zusammenhang einen für den Naturbegriff entscheidende Neufassung erfahren. An Haags Metaphysik wäre anzuknüpfen. Mit ihr lässt sich formulieren, woran die hemmungslose Naturaneignung krankt.

Mit Kants Ding an sich ist es nicht vorbei

Sie krankt daran, dass sie der Natur ihr Wesen abspricht. Das ist erkenntnistheoretisch falsch gedacht, aber für den kapitalistischen Produktionsprozess äußerst praktisch. Auch wenn es zur Herstellung der Farbe Rot keine Krapp-Pflanze mehr braucht, weil die Farbsegmente sich synthetisch herstellen lassen, ist es mit Kants Ding an sich nicht vorbei. Das ist kein Spezialthema für philosophisch Eingeweihte, sondern von eminenter Bedeutung. Denn daran hängt der Herrschaftsanspruch der Gesellschaft über die Natur. Wenn diese als mit den Mitteln der Naturwissenschaften völlig zu entschlüsseln gilt, ist der Machtanspruch nicht zu begrenzen. Es kann dann angesichts der Weltbevölkerung geboten sein, nicht noch zusätzlich Menschen zu klonen. Aber ein prinzipielles Verbot lässt sich daraus nicht ableiten. Woher soll das Wahrheitskriterium kommen?

In seinem Werk gewinnt Haag den Begriff des Wesens, indem er eine Kritik der naturwissenschaftlichen Vernunft schreibt. Was vermag sie; wo liegt ihre Grenze? Naturgesetze setzen einen metaphysischen Rahmen voraus. Er ist geradezu die Bedingung ihrer Möglichkeit. An der Entstehung einer Pflanze, des Färberkrapps beispielsweise, sind viele Naturprozesse beteiligt. Die Photosynthese regiert nur einen Teilprozess des Pflanzenwachstums; damit eine Pflanze erzeugt wird, braucht es mehrere solcher, von Naturgesetzen regierte Prozesse. Stickstoffbasierte Reaktionen starten das Keimen des Samenrhizoms, das erzeugte Blattgrün absorbiert das Sonnenlicht, der als Sog wirkende Unterdruck im Pflanzeninneren zieht, entgegen dem Prinzip der Schwerkraft, das die Pflanze versorgende Grundwasser nach oben. Wird die Krappwurzel gemahlen und dem Sonnenlicht ausgesetzt, entsteht das Alizarin, das bis zum Mittelalter bewährte Mittel, um die Baumwolle rot zu färben. Jedes der beteiligten Naturgesetze klärt uns über einen separierten Teilprozess auf und lässt sich durch ein Experiment bestätigen. Alle Einzelprozesse müssen zweckmäßig zusammenwirken, damit ein Naturding entsteht. Die Naturgesetze, denen die chemischen, zellbiologischen, genetischen Prozesse gehorchen, sind notwendige Mittel der Erzeugung des Pflanzenkörpers, aber sie sind nicht das Ganze. Es braucht ein Prinzip, das sie auf ein Ganzes hin anordnet.

Wäre die Natur nur ein Chaos, ließen sich keine Gesetze finden

Das zweckmäßig anordnende Prinzip lässt sich nicht selbst als ein Naturgesetz fixieren, und per Experiment demonstrieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an. Von ihr kann Metaphysik nur sagen, sie sei zwar empirisch nicht fassbar, aber ohne diese Dimension Natur zu denken, sei unvernünftig, irrational. Naturwissenschaften könnten keine Gesetzmäßigkeit fixieren, wenn ihre Gegenstände ungeordnet wären. Wäre die Natur nur ein Chaos zerstreuter Einzeldinge, ließen sich keine experimentell beweisbaren Aussagen treffen. Die Genese einer Pflanze verliefe einmal so, einmal anders. Naturgesetze, also identische Abläufe für denselben Art- und Gattungszusammenhang formulieren, wären unmöglich.
Worin jedes Naturding sein Wesen hat, das es seiner Art und Gattung zuordnet und zugleich als Individuelles entstehen lässt, bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. Das Prinzip, das die nach ihren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Naturprozesse so organisiert, dass jeweils ein zweckmäßiges Naturgebilde entsteht und in ihrem Zusammenwirken ein geordnetes Universum, kann, so Haag, nur ein allmächtiges sein. Wenn ein solches determinierendes Prinzip ausgeschlossen ist, bleibt als logische Alternative der Zufall. Sich auf rein physikalisch Fassbares bei der Naturauffassung zu beschränken, spricht dem Zufall eine unglaubliche Bedeutung zu. Er nimmt dann gleichsam selbst die Stelle Gottes ein.

Eine als wesenlos ausgegebene Natur passt völlig zu einer Ökonomie, die die äußere und die menschliche Natur als bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ausgibt. Diesem ökonomischen Prinzip gilt Natur als zur Brandschatzung freigegeben. Die Kritik des Nominalismus, der mit dem sich entwickelnden Kapitalverhältnis seinen Siegeszug antrat, wäre nachzuvollziehen. An dieser Kritik hängt die Chance einer zweiten Aufklärung, die einmal hegemonial werden will.

Jana Flemming: Industrielle Naturverhältnisse. oekom Verlag, 2022. 296 Seiten, 28,00 €

Unter dem Titel „Die ernüchterte Ökologie“ erschien der Beitrag zuerst auf Glanz&Elend

Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

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