Die deutsche Sozialdemokratie muss dazu geprügelt werden, sich mit ihrer deutschlandschädlichen Russlandpolitik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zu beschäftigen. Und wenn sich ihre jetzigen und früheren Spitzenleute — Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig, Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder — heute äußern, dann vor allem um eine durchgezogene Linie von Willy Brandt bis heute, von 1969 bis 2022, zu ziehen. Ihre Devise: Was damals erfolgreich war, ist heute nicht falsch. Und: Willy wurde damals für seine Ostpolitik geprügelt, wir heute auch. Die These: Die Ost- und Entspannungspolitik von Brandt und Bahr hat mit den Russland-Geschäften der SPD der letzten 20 Jahre so gut wie nichts zu tun. Brandts Ost- und Scholz+Schwesig+Steinmeier+Gabriel+Schröders Russlandpolitik müssen mit einer politischen Firewall getrennt bleiben.
Aber Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder ziehen da gemeinsam an einem anderen Strang: Sie sehen keine Fehler, sehen sich als Opfer und behaupten eine lange Kontinuität der Ost-, Friedens- und Entspannungspolitik — von Willy Brandt bis heute. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) verglich jüngst in einer Sitzung der SPD-Landtagsfraktion nach Angaben von Teilnehmern und Medienberichten ihre Situation mit der des ehemaligen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt. Der sei seinerzeit für seine Ostpolitik auch stark kritisiert worden, habe das aber durchgestanden. Schwesig steht momentan politisch wegen ihrer Stiftung „Stiftung Klima- und Umweltschutz MV“ unter Druck, mit der sie die Gaspipeline Nord Stream 2 bis zum bitteren Ende gegen alle Sanktionen der USA verteidigen wollte; ein Vorgehen, das sie inzwischen bedauert. SPD-Kanzler Olaf Scholz jammert: Es werde heute „ein Zerrbild von sozialdemokratischer Politik“ gezeichnet. Mit diesem Zerrbild meint Scholz die mehr als berechtigte kritische Frage: Hat die kooperations- und profitorientierte Entspannungs- und Dialog-Politik westlicher, vor allem deutscher Regierungen, dem Kremlregime Vorschub geleistet, den jetzigen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu riskieren?
Scholz jammert, Schwesig sieht Willy neben sich
Schon die Frage scheint dem Kanzler als ungehörig. Dabei ist es wichtig, Verfehlungen und einseitige Orientierungen in der Russland-Politik aufzuarbeiten, beeinflussen sie doch möglicherweise bis heute in hohem Maße die aktuelle Kriegs- und Krisenpolitik. Ob Embargo oder Waffenlieferungen, die Regierung Olaf Scholz folgt immer einer Prämisse: wir helfen der Ukraine möglichst wenig und möglichst spät; eben erst wenn der Druck von EU und USA nicht mehr zu ertragen ist. Nun argumentiert der Kanzler: Er mache das so, weil er so umsichtig und überlegt sei. Der Grund kann auch ein anderer sein: Er handelt so zögerlich und halbherzig, weil er zusammen mit führenden Sozialdemokraten unverändert in den verhängnisvollen Denkschablonen der alten SPD-Russlandpolitik steckt. Denn seine zögerliche Politik hat, ob ungewollt oder nicht, mindestens diese Wirkung: Der Ukraine wird weniger geholfen, Russland wird weniger geschadet, das Gerhard Schrödersche Energie-Geschäftsmodell für sich und für die deutsche Industrie (billige Energie egal auf welche Kosten!) kann wenigstens noch ein bisschen weiterlaufen, nach dem Motto: Jeder neue Tag ist ein Gewinn.
(K)Ein Akt von Besserwisserei!
Es ist sinnvoll zu unterscheiden: Was wollten Brandt und Bahr mit ihrer Ost- und Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt? Was wollten Scholz/Schröder und deren Crew mit ihrer Russlandpolitik? Ist das eins, unterscheidet es sich im Detail oder gar im Prinzip? Die hier behandelte These: Ich kann das politische Konzept der Kooperation, des Dialogs und der Entspannung umsichtig anwenden, aber auch riskant und fahrlässig. Die Behauptung: Letzteres machten die eben genannten SPD-Granden, mit markanter Unterstützung der langjährigen CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die politischen Nachfahren von Willy Brandt haben dessen ebenso kühne wie erfolgreiche Ost- und Entspannungspolitik zu einem billigen Geschäftsmodell für die deutsche Industrie verkommen lassen, unter rigider und anhaltender Vernachlässigung politischer Dimensionen wie gesellschaftlicher und nationalstaatlicher Freiheit, Sicherheit und Souveränität. Ist diese Behauptung in einem Vergleich ausreichend zu begründen?
Heute eine kritische Aufarbeitung der sozialdemokratischen Russland-Politik der letzten 20 bis 30 Jahre einzufordern, ist kein primitiver Akt der Besserwisserei. Vielmehr ist es nützlich zu klären und festzuhalten, wer — aus der Sicht von heute — in den vergangenen 20 bis 30 Jahren taub, dumm, ignorant, gierig und geistig begrenzt war und wer nicht. Nur so können irreführende Denkschablonen zerstört und neue Sensibilitäten und Perspektiven geschaffen werden, damit Fehler der Vergangenheit möglichst nicht wiederholt werden; eventuell gegenüber Katar, China … und nach einigen Jahren sogar erneut gegenüber Russland.
Eine Mafia-Tankstelle?
Was wird der heutigen Sozialdemokratie vorgehalten, die in den vergangenen 20 Jahren einige Jahre den Kanzler (Schröder, Scholz), viele Jahre den Bundespräsidenten (Steinmeier), sehr viele Jahre den Außenminister (Steinmeier, Gabriel), den für Energiepolitik zuständigen Wirtschaftsminister (Gabriel) und den Vizekanzler (Steinmeier, Gabriel, Scholz) stellten? Der entscheidende Vorhalt lautet: Obwohl die russischen Regierungen seit Anfang der 2000er Jahre immer wieder Kriege führten und Vereinbarungen brachen, wurde bis wenige Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine die Abhängigkeit Deutschlands in der Energieversorgung ständig erhöht und auf alle Verfehlungen von Wladimir Putin nur mit folgenlosen Worten reagiert. Dabei war die Liste von Putins Verbrechen bereits vor der Krim-Annexion im Jahr 2014 recht überzeugend: zwei Kriege ließ er äußerst brutal in Tschetschenien (1999-2009) und in Syrien (2017-2021) führen, seit 2008 besetzt Russland 20 Prozent des Territoriums von Georgien. Trotzdem blühten die Energie-Geschäfte. Mit einem Staat, den der us-republikanische Senator John McCain, inzwischen verstorben, im Jahr 2014, nach der Annexion der Krim, so charakterisierte: Bei Russland handle es sich um „eine von der Mafia betriebene Tankstelle, die sich als Staat tarnt“.
Der Stand der deutsch-russischen Energiebeziehungen zu Beginn des russischen Vernichtungs-Krieges: 55 Prozent des Erdgases, das Deutschland importiert, kommt aus Russland; in der EU liegt der Anteil bei 40 Prozent. Und ein Drittel des von Deutschland importierten Erdöls kommt aus Russland. Und seit 2014, also nach der Annexion der Krim, wurde diese Abhängigkeit sogar noch erhöht.
Und trotz der Kriege und Wortbrüche von Putin: Ob Frank Walter Steinmeier, Olaf Scholz, Angela Merkel, Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Manuela Schwesig, sie alle kämpften unbeirrt und auch im Alleingang — gegen den zunehmenden Widerstand der USA und vieler EU-Staaten — bis Tage vor der Ukraine-Invasion für die Gaspipeline Nordstream 2 als ein angeblich rein „privatwirtschaftlichen Projekt“.
Als die Regierung Schröder Energiesicherheit neu buchstabierte: G A Z P R O M
In einer langen Analyse kommt Martin Hellweg, renommierter Volkswirt, von 2000 bis 2004 Vorsitzender der unabhängigen Monopolkommission, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende April zu dem Schluss: Mit der Energiepolitik der Regierung Gerhard Schröder sei das Wort Versorgungssicherheit neu buchstabiert worden, nämlich „mit den Buchstaben G-A-Z-P-R-O-M“. Ab diesem Zeitpunkt schrumpfte die deutsche Ost- und Entspannungspolitik zu einem profitorientierten Gas-Geschäftsmodell für die hiesige Industrie und später für Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ein Geschäftsmodell, das nicht nur von SPD und Union, sondern auch von der deutschen Wirtschaft gefördert und verteidigt wurde. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft organisiert Kontakte und Projekte mit Osteuropa, vor allem mit Russland; der Ausschuss besteht aus 350 Mitglieds-Unternehmen und Wirtschaftsverbänden wie BDI und DIHK. So waren es auch diese Kreise, die in den letzten Jahren, Monaten und Wochen immer bis zuletzt gegen Sanktionen plädierten und zuerst für deren Aufhebung.
Wie aus Entspannungspolitik ein Gas-Geschäft wurde
In einem langen Porträt über diesen Ostausschuss schildert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Selbst als Anfang März schon ukrainische Städte unter Beschuss standen, sagte der Ost-Ausschuss eine als Ersatz für die üblichen persönlichen Gespräche geplante Videokonferenz mit Putin offiziell nicht etwa aus Protest ab, sondern mit dem Hinweis auf Terminschwierigkeiten.“
Wenn nun Politiker der SPD auf diesbezügliche Kritik überhaupt eingehen, dann sagen sie sehr gerne: WIR ALLE haben uns getäuscht. Und fügen hinzu: WIR ALLE wurden doch von Putin getäuscht. Weder das eine noch das andere stimmt. Denn: Diese Russland-Politik, unter anderem verkörpert in dem Nord Stream 2-Projekt, wurde in den vergangenen 15 Jahren zunehmend zu einem Alleingang deutscher Regierungen — rigoros und damit bewusst und wissentlich sollte dieses Projekt gegen viele EU-Staaten und die USA durchgeboxt werden. Noch vor gut einem Jahr warb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für das „privatwirtschaftliche“ Projekt Nord Stream 2, sei es doch eine der letzten Brücken nach Russland. Also: Nicht WIR haben uns geirrt, vor allem regierungsverantwortliche Sozialdemokraten waren es. Und Putin täuschte nicht ALLE, haben doch viele, nicht nur baltische und osteuropäische und us-amerikanische Regierungen schon vor Jahren vor ihm gewarnt.
Fünf Unterschiede — zwischen Brandt und seinen Erben
Es waren die deutschen Regierungen Schröder, Merkel/Müntefering, Merkel/Steinmeier und Merkel/Scholz die Putin-Russland in den beiden letzten Jahrzehnten in die Rolle des Energie-Schlüssellieferanten für Deutschland und die EU hievten.
Was haben Brandt und Bahr wesentlich oder gar grundsätzlich anders gemacht?
Sie haben verhandelt, auf Kooperation und Dialog gesetzt und zugleich auf Vorsicht und Stärke, auch auf militärische: Die Bundesrepublik Deutschland verfügte in diesen 1970er Jahren über eine weitgehend einsatzfähige Bundeswehr mit etwa 500.000 Soldaten. Während der Kanzlerschaft Brandts erhöhte sich zwischen 1970 und 1972 der Anteil der deutschen Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt (BIP) von 3,2 auf 3,4 Prozent. Zudem galten auch während der Entspannungspolitik in den 1970er und 1980er Jahren durchweg Wirtschaftssanktionen; vom Handel mit der Sowjetunion waren beispielsweise rüstungsrelevante Techniken immer ausgeschlossen. So war diese Entspannungspolitik immer begleitet von einer Art Eindämmungsstrategie gegenüber der Sowjetunion.
Deutsche Regierungen machten in den vergangenen Jahren genau das Gegenteil: So lag 2015, ein Jahr nach der Krim-Annexion, der Verteidigungsetat bei etwa 1,2 Prozent des BIP und anstelle von Wirtschaftssanktionen wegen der Krim-Annexion machte sich Deutschland zunehmend abhängig von russischer Energie; siehe oben.
Das ist der erste Unterschied. Stärke, Nato, Eindämmung, Sanktionen, Dialog — Brandts Palette
Und der zweite: Die Entspannungspolitik von Willy Brandt war immer eingebettet in den Schutzschirm der Nato. Brandt sorgte immer dafür, dass seine Entspannungspolitik speziell von den USA mitgetragen wurde; da gab es Spannungen, aber keine politischen Risse. Davon konnte in den vergangenen Jahren nicht die Rede sein. Putin konnte also immer auf eine zerstrittene EU und auf verlockende Alleingänge Deutschlands hoffen.
Der dritte Unterschied: Brandt und Bahr (und später dann Kanzler Helmut Kohl) hatten es damals mit einer Sowjetunion unter Leonid Breschnew, Juri Andropow und Michail Gorbatschow zu tun, die seit vielen Jahren „nur noch“ auf Erhalt von Terrain und Macht und nicht auf imperialistische Expansion aus war; Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger charakterisierten bezeichnenderweise Michail Gorbatschow als „Helden des Rückzugs“. Ein bedeutender Aspekt, auf den Michael Wendl aufmerksam macht.
Es liegt auf der Hand: Eine Entspannungspolitik, die unter den damaligen Bedingungen funktionierte, kann auf keinen Fall ungeprüft mit einem Putin-Russland fortgesetzt werden, das ganz andere Ziele hat als die frühere Sowjetunion.
Aus einer Position der Stärke verhandeln
Denn: Unter Wladimir Putin verfolgte Russland von Anfang an den Plan, ein großrussisches Reich wieder herzustellen, um die Schmach der Auflösung der Sowjetunion wenigstens in Teilen wieder zu heilen; von Anfang nachlesbar und von Putin öffentlich zigfach dargelegt. Und zu diesem Plan gehörte schon immer, sich die Ukraine möglichst unblutig einzuverleiben, war die Ukraine nach Ansicht von Putin doch noch nie eine Nation gewesen, deshalb auch ohne Anspruch auf einen souveränen Staat; eine Bewertung, die in Deutschland zumindest der weithin verehrte Staatsmann Helmut Schmidt mit ihm teilte.
Und der vierte Unterschied: Die damalige Sowjetunion hat sich, abgesehen von dem Überfall auf Afghanistan im Jahr 1979 und dem Überfall auf die Tschechoslowakei in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968, zumindest in Europa immer an die mit dem Westen vereinbarten Regeln und Verträge gehalten; bei beiden Invasionen war klar, dass sie regional begrenzt bleiben würden. Auch das ein grundlegender Unterschied zur Politik der heutigen russischen Regierungen.
Keine Imperialisten, sondern Helden des Rückzugs
Und fünftens blieb das Konzept der Brandtschen Ost- und Entspannungspolitik immer pragmatisch begrenzt. Das heißt: Sie setzte von Anfang an auf einen Frieden, der auf dem Erhalt der Blöcke und dem machtpolitischen Status Quo beruhte. Entsprechend wurden beispielsweise Dissidenten und Bürgerrechtler in osteuropäischen Gesellschaften, auch die unabhängige polnische Gewerkschaftsbewegung solidarnosc, zwangsläufig zu Störenfrieden, die tunlichst ignoriert und nie unterstützt wurden; Freiheit hatte es auch damals schwer gegenüber dem Wert des Nicht-Krieges und des Friedens. So dachte natürlich 1968 im Westen niemand daran, der Tschechoslowakei bei ihrem Freiheitskampf („Prager Frühling“) gegen die Warschauer Pakt-Invasoren zu helfen. Es gibt also auch keinen Grund, die weithin erfolgreiche Ostpolitik von Brandt zu glorifizieren. Brandt reagierte in den Tagen nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ mit diesen Hinweisen: Auf die Stärkung der Nato zu setzen, das könne nie ein Ersatz für eine aktive Ostpolitik sein. Man müsse jetzt eine Strategie erarbeiten, welche die Sowjetunion nicht als Drohung empfinde, aber auch nicht als Ausdruck westlicher Feigheit, und auf keinen Fall sollte es zu einem neuen Rüstungswettlauf kommen; so damals die Skizze seiner im Entstehen begriffenen Ost- und Entspannungspolitik.
Was haben dagegen Schröder, Steinmeier, Gabriel, Merkel, Schwesig, Scholz und andere gemacht? Sie haben diese Politik der Kooperation, der Entspannung und des Dialoges wie Geisterfahrer auch dann noch ohne Besinnung fortgesetzt als das Gegenüber die Regeln bereits mehrfach demonstrativ gebrochen hatte — die Liste der geradezu provozierenden Regelbrüche war ja bereits zum Zeitpunkt der Besetzung der Krim ziemlich lang. Sie betrieben faktisch eine reine Russland-Politik — unter Vernachlässigung der oft gegenteiligen Interessen der Osteuropäer und Balten — der westlichen Vorleistungen ohne russische Gegenleistung. Ihr Name: Annäherung via Verflechtung.
Russland-Geschäft statt Ost-Politik: Hauptsache billige Energie
Diese Politik hatte unter anderem eine kulturelle und mentale Schlagseite, die jahrelang nicht einmal problematisiert wurde. So wurde das Russland von Putin mit der ehemaligen Sowjetunion gleichgesetzt. Das heißt: Der Überfall von Hitlerdeutschland wurde zum Überfall auf Russland allein, dem zu gedenken ist; dass er auch einer auf die Ukraine und andere heutige souveräne Staaten war, die heute jedoch gegenteilige Sicherheitsinteressen zu denen von Russland haben, das fiel bis vor kurzem unter den Tisch. Dazu der Osteuropa-Experte Karl Schlögel: Das Bewusstsein der Schuld für die deutschen Verbrechen auf sowjetischem Boden erstreckte sich auf Russland – bis in die jüngste Zeit jedenfalls –, und ein Projekt wie Nord Stream 2 sei entsprechend vom Bundespräsidenten vor noch nicht langer Zeit sogar mit einem Verweis auf deutsche Schuld und Wiedergutmachung für deutsche Verbrechen legitimiert worden.
Der entscheidende Denkfehler: Diese Russland-Politik der letzten 20 Jahre war nach und nach aller politischen Kriterien entkleidet worden, sie wurde entpolitisiert, bis es nur noch um das Geschäft ging. In dem Projekt Nord Stream 2, das vor allem führende Sozialdemokraten bis zuletzt als rein privatwirtschaftliches Projekt charakterisierten, wurde der Charakter dieser Politik deutlich; denn auch Nordstream 2 war von Anfang vor allem ein geopolitisches Vorhaben gewesen. Wenn das Geschäftliche überwiegt, dann ergeben sich die großen Fehler alle von alleine — weil alles Politische, beispielsweise die Sorge um Sicherheit, Souveränität, Unabhängigkeit, Freiheit, um einheitliche Positionen der EU und des Westens dann keine oder eine zu geringe Rolle spielen.
Aus einer ebenso fairen wie rücksichtslosen Aufarbeitung könnte deshalb gelernt werden: Wie Willy Brandt und Egon Bahr ihr Konzept einer dialogischen Ost- und Entspannungspolitik klug und umsichtig und erfolgreich anwendeten. Und wie Schröder, Steinmeier, Gabriel, Scholz und Merkel mit einer Politik unter derselben Überschrift und mit demselben Anliegen eher zu einem Krieg beitrugen.
Und wer schützt die an Konstruktivität und Radikalität – im Sinne von sich an Begriffen abzuarbeiten ( und nicht an Olaf Scholz) – interessierten Bruckstückeleserinnen vor SPD-Ortsgruppenprosa, mag sie auch leitartikelig geschult daherkommen? Es wäre wünschenswert, wenn sich die Bruchstücke-Redaktion auf den sprach-, blogkritischen Weg machen und über den war-turn „aufklären“ würde. D.h., sich die Frage zu stellen, warum gerade dieser Krieg, dieser Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands zu medial forcierten, vermeintlichen Expertinnentum
in partei-, friedens-, verteidigungspolitischen, geo- und militärstrategischen Fragen führt. Auch wenn sich Bruchstücke im Feld einer fragmentierten, fluiden Aufmerksamkeitsökonomie beweisen muss (Es hat klick gemacht!) und auf die Trigger von Ereignis- und Katastrophen reagiert, so doch bitte konstruktiv und radikal!
In diesem Sinne und mit freundlichen Grüßen,
Leo Gin
@ Leo Gin: Danke für Erinnerung, Ermahnung und Ermunterung. Wenn ich lese, wie der System-Star Armin Nassehi angesichts dieses Krieges zum Vorreiter für die Reduktion von Komplexität wird und von der Leiter der Beobachtung zweiter Ordnung herabsteigt, dann kann es auch für Bruchstücke keine Schande sein, Beobachtungen erster Ordnung – auf einem (wie ich, durchaus befangen, finde) erfreulichen Niveau – anzubieten. Trotzdem oder gerade deshalb gebe ich Ihnen recht, wir müssen mehr in die Beobachtung zweiter Ordnung investieren. Wäre es leicht, hätten wir es schon gemacht. Sind Ihnen gute Beiträge schon anderswo begegnet?
Lieber Herr Arlt, methodisch muss dafür der Redaktionsblick nicht in die Ferne schweifen. Denn die Texte von Klaus West zum Beispiel, mögen diese auch im Themenportefolio Ihres Blogs eher Abseitiges, vom tagespolitischen Sujetdiktat Befreites behandeln, zeugen doch von einer gelungenen Weise, den formulierten Anspruch von Bruchstücke in lesewerte Texte zu übersetzen.
Ich meine, es ist gerechtfertigt die Frage nach den wirtschaftlichen Interessen der USA zu stellen. Deutschland wechselt gerade von einer Abhängigkeit in die Nächste(n), von einem Despoten zu den Nächsten. Wenn glaubwürdige Quellen daran erinnern, dass es einst Überlegungen der US-Administration gab, China und die Sowjetunion mittels dem Einsatz von Atombomben zu vernichten, scheint das heute in den bürgerlichen Medien nicht mehr erwähnenswert. 1+2
Es scheiterte übrigens daran, dass die US-Regierung bei einem Gegenschlag den Tod von 70.000 US-Amerikanern und den damit verbundenen Verlust ihrer Macht befürchtete.
Natürlich wollten und will die US-Regierungen den Kommunismus aus der Welt bomben, stand er als Konkurrenz den alten Kolonialmächten bei der Unterwerfung der Weltbevölkerung im Weg. In der Folge war die Frage immer aktuell, was kommt beim Raub von Bodenschätzen teurer, Krieg oder Wirtschaftsverhandlungen.
Der heute praktizierte Kommunismus ist durchaus ein Unterdrückungsinstrument gegen das Freiheitsverständnis der Menschen und so werden, was hartnäckig übersehen wird, friedliche Wege gesucht zu einem friedlichen Miteinander.
In Polen, als dort Solidarność noch aktiv war, oder der Machtwechsel in der Tschechoslowakei, waren friedliche Revolutionen und mittels Generalstreik erfolgreich. Es bedurfte keiner Lieferung von Massenvernichtungswaffen, wie jene, die heute an die Ukraine geliefert werden. In der Ukraine scheiterten Versuche an der Geldgier, der vom internationalen Kapital finanzierten Julia Timoschenko, die in focus 25.03.2014) verkündete: „[…] Es wird Zeit, dass wir unsere Gewehre ergreifen und losziehen, um diese verdammten Russen zusammen mit ihrem Führer zu töten.“ Es unterscheidet sich unwesentlich von dem was Florence Gaub kürzlich bei Lanz von sich gab.
Das bedeutet nicht, dass in der Ukraine ein Kampf für die Freiheit im ursprünglichen Sinn stattfindet. Freiheit bedeutet in Deutschland beispielsweise auch, dass man täglich straflos 30.000, teils minderjährige Mädchen und Frauen gegen ein geringes Entgelt vielfach sexuell missbrauchen kann. Die Quelle ist hierbei die deutsche Kriminalstatistik (Menschenhandel).
Tönnies ist ein symbolträchtiges Vorzeigeunternehmen um entschlossenes rechtsstaatliches Handeln gelegentlich vorzutäuschen, während Millionen Arbeiterinnen aus Osteuropa in völlig unzureichenden Unterkünften, in der Altenpflege, Bau- und Reinigungsunternehmen, in Bordellen, wie auch Transportwesen und Landwirtschaft wie Sklaven gehalten werden und dabei immer noch auf Freiheit und Freizeit hoffen. Wo bleibt das Recht auf einen im gesamten EU-Europa geltenden gleich hohen Mindestlohnstandart. Wie kann man es wagen von einem geeinten Europa zu sprechen, wenn der Mindestlohn Osteuropas bei 1,87 Euro je Stunde beginnt und ansteigend in Litauen mit 3,72 Euro endet oder überhaupt nur 22 EU-Mitgliedsstaaten über gesetzliche Mindestlohnregelungen verfügen.³ Die vom Sozialdemokraten Olaf Scholz verkündete Zeitenwende bedeutet nichts anderes als die vor über 100 Jahren verkündete Zeitenwende, dass man es für möglich hält, Russland und als nächstes Ziel China militärisch zu unterwerfen.
Um Schaden vom amerikanischen Kontinent abwenden hat man als Austragungsort für die kommende, vermutlich atomare, Völkerschlacht Europa, vorrangig Deutschland, ausgewählt.
Der Glaube an die vielbeschworene europäische Einheit und ein konfuses Freiheitsverständnis ist indes allenfalls bei den sich duzenden Freunden in Regierungen und einer von MTV-Spots verseuchten, umfragehörigen, mittelständischen Bevölkerung feststellbar.
Während der sogenannte heldenhafte ukrainische Widerstand im Donbass pausenlos herausposaunt wird, vermisse ich eine Berichterstattung über erneute Generalstreikaktivitäten gegen die ukrainische Kriegsregierung. Die dortigen Basisgewerkschaften fordern höhere Löhne, Erhöhungen der Sozialausgaben, ein Grundeinkommen für alle und versammeln sich zudem unter der Losung „Raus aus dem Krieg“ gegen Krieg und Kriegswirtschaft. Grüne, FDP, Sozialdemokraten und Wirtschaftsunternehmen buchen dagegen in Katar womöglich bereits VIP-Lounges für die Fussball WM. Nach Meinung der Anwältin und Leiterin des „Zentrums für bürgerliche Freiheiten in der Ukraine“, Oleksandra Matwijtschuk, verdienen es die Verteidiger des Asow-Stahlwerkes, dass über sie in Zukunft Bücher geschrieben und Filme gedreht werden.
(1) Der Vernichtungsfeldzu der US Air Force: Napalm über Nordkorea https://taz.de/!662464/ (2) USA wollten 91 Ziele in Ost-Berlin mit Atombomben treffen https://www.bz-berlin.de/archiv- artikel/usa-wollten-91-ziele-in-ost-berlin-mit-atombomben-treffen (3) Mindestlöhne in der Europäischen Union https://www.eu-info.de/arbeiten-europa/jobsuche-arbeiten-europa/mindestloehne/