Der Hessische Rundfunk hat einen Kanal für Podcasts unter dem Titel STUDIO KOMPLEX eingerichtet. Hier werde „Show gewordener Journalismus“ dargeboten, heißt es in der Selbstdarstellung. Auch wolle man „die schmerzhaften Graubereiche des Lebens“ ergründen. Von dieser Programmankündigung, die in der Tat schon Pein bereitet, weil sie wie Durchschnittsware von Werbeagenturen verfasst ist, haben sich Hörer:innen des hr nicht abhalten lassen. So mussten sie eine unheimliche Entdeckung machen.
Moderator David Ahlf erzählt in seinem Beitrag Rettet den Pazifismus! die Geschichte eines Traums. Darin wird er von Skrupeln geplagt, weil er sich „in Rekordzeit vom Wehrdienstverweigerer zum Befürworter von Waffenlieferungen an die Ukraine gewandelt“ habe. In diesem Rahmen ruft er für die zwei Seelen, die in seiner Brust wohnen, Zeugen auf, damit sie ihm sein gutes Gewissen wiederherstellen. Interviewt werden eine Philosophin, eine Soldatin, ein Kriegsdienstgegner und eine Historikerin, die keine Pazifistin mehr sei und in dem Beitrag kollegial als Vero angesprochen wird. Sie alle meinen es gut mit der Welt, und so darf David am Ende des Traums mit der Erkenntnis aufwachen, dass die Waffenlieferungen leider alternativlos seien.
Vero ist, wie schon an der Stimme leicht zu erkennen, die Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland, Mitarbeiterin des Marburger Herder-Instituts, Osteuropa-Expertin und mittlerweile auch Co-Leiterin eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema Erweiterte Sicherheit. Sie hat sich einen hohen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit erarbeitet, aber nicht wegen ihrer beruflichen Herkunft, sondern als Publizistin, die vehement für Atomkraft eintritt und den Ausstieg aus dieser Energieform unermüdlich geißelt. Inzwischen kommt sie in nahezu allen Medien einschließlich des Fernsehens zu Wort, wenn man nach einer redegewandten und argumentativ geschulten Fürsprecherin der Atomenergie sucht. Ihre Einarbeitung in sehr spezielle Themen der Nukleartechnik verdient Respekt, ihre Ausdauer bei der Vorhersage von Stromengpässen und Blackouts, die dann doch nicht eintreten, ist irgendwie auch bewundernswert, ihre wiederholte Selbstvermarktung, wonach sie als Anti-Atom-Kind erzogen wurde, um schließlich zu erkennen, wie falsch das alles gewesen sei, wirkt peinlich. Da gehorcht sie den Gesetzen des Spektakels.
Da der deutsche Atomausstieg in wenigen Wochen, am 15. April, vollzogen werden soll und folglich in seine Endphase eingetreten ist, wäre es höchste Zeit für Wendland, noch einmal vor dem Untergang der deutschen Industrie, dem Verlust von Arbeitsplätzen und Wohlstand zu warnen und einen dramatischen Appell für sichere, saubere und billige Energie zu starten, die Leitbegriffe der nuklearen Propaganda. Das wird sie in den nächsten Tagen sicher auch tun und dafür die üblichen Mitstreiter finden.
Sie macht ‚den Melnyk‘
Gleichwohl hat sich der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs deutlich verschoben. Sie präsentiert sich jetzt als Vorkämpferin für die bedingungslose Unterstützung der Ukraine. Sie macht ‚den Melnyk‘ in einer Atomgemeinde, die sich durchaus in einem Zwiespalt befindet, weil sie von russischem Uran abhängt, sogar mit steigender Tendenz, wie der Spiegel zu berichten weiß. So kommt die Historikerin zu ihrer Rolle bei der Pazifismus-Aussprache im hr und äußert sich zu Fragen, die mit ihrem Kernthema auf den ersten Blick nichts zu tun haben.
Von David Ahlf nach den Perspektiven der Ukraine befragt, antwortet Wendland (ab Minute 44:20 des Podcasts): „Meine Prognose ist eine Art Israelisierung. Solange sich in Russland nichts ändert, wird die Ukraine so leben müssen wie Israel, das heißt schwer bewaffnet mit schwerster Verteidigung nach außen, damit möglichst wenige Raketen da durchkommen.“ Nach dem Krieg gebe es letztlich nur zwei Möglichkeiten, deren erste die Aufnahme der Ukraine in die NATO wäre. Wendland hält das für wenig realistisch, weil es voraussetzen würde, dass ihr Territorium von Russland vollständig geräumt wird. Sie müsste „mitsamt der Krim in die NATO eintreten. Über die Wahrscheinlichkeit dieser Option können wir uns Gedanken machen.“ Die nach Wendlands Worten unerfreuliche, aber nicht unmögliche Alternative „wäre tatsächlich die nukleare Option, dass nämlich die Ukraine Atomwaffenstaat wird. Die Ukraine hat dafür sowohl die Ressourcen als auch die Skills und das Personal.“ Gefährlich sei allerdings der Weg, „bis die Atomwaffe dann wirklich installiert ist und die Bewaffnung auch funktioniert. Bis das der Fall ist, ist so ein Land sehr verwundbar.“
„Das sind nicht so schöne Perspektiven“
Es folgt ein kurzer Rückblick auf die neunziger Jahre. Schon damals habe es Stimmen gegeben, die die Ukraine davor warnten, ihr noch aus der Sowjetunion stammendes Atomarsenal abzugeben. Denn das sei – bei ausbleibender Integration in die westlichen Bündnisse – ihr einziger Schutz gewesen. Diese Warner hätten, so Wendland, vollkommen recht gehabt. „Das sind natürlich nicht so schöne Perspektiven, aber es sind Perspektiven, mit denen man sich beizeiten auseinandersetzen sollte.“ Wendland möchte sie mit gewohntem Elan auf die Tagesordnung setzen.
Die Reaktion des Träumers Ahlf auf diese Offenbarung ist vielsagend. Über den Vorschlag einer nuklearen Bewaffnung der Ukraine verliert er kein Wort. Doch der Gedanke an eine Israelisierung lässt ihn „erschauern“. Das kommt ihm vor wie eine, so wörtlich, „dauermilitarisierte Hölle“. Mit solchen Spontanreaktionen wird sich der Hessische Rundfunk sicher nicht beschäftigen, so was fällt dem Show gewordenen Journalismus gar nicht erst auf. Wir hingegen dürfen uns unsere Gedanken darüber machen, was ein Rundfunkjournalist beim Stichwort Israel urplötzlich assoziiert.
Zurück zu Vero. Den bisher bekannten Prozessen – Haubitzen ja, aber keine Leoparden, Leoparden doch, aber keine Kampfjets, Kampfjets vielleicht, aber keine U-Boote – greift sie weit vor. Schon dadurch, dass sie eine nukleare Bewaffnung der Ukraine ins Gespräch bringt, die „auch funktioniert“, also Trägerraketen einschließen müsste, dreht sie extrem verantwortungslos an der Eskalationsschraube. Auch ihre nonchalante Missachtung des von der Ukraine wie auch von der Bundesrepublik unterzeichneten Atomwaffensperrvertrags ist beispiellos. Eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt lässt es widerspruchslos stehen. Die Zeitenwende macht anscheinend vor gar nichts halt.
P.S. Anna Veronika Wendland war von 2016 bis 2021 auch als Fachberaterin der Heinrich Böll-Stiftung tätig, der parteinahen Stiftung der Grünen.
Russland hat den Atomwaffensperrvertrag ebf. unterzeichnet. Er verpflichtet die Atomwaffenmächte, nuklear abzurüsten, und verbietet, mit dem Einsatz von Atomwaffen auch nur zu drohen. Putin-Russland tut das Gegenteil.
Als die Ukraine die A-Waffen auf ihrem Territorium abgab, verpflichtete sich Russland im Budapester Memorandum , die Souveränität und territoriale Unverletzlichkeit des Landes zu achten. Seit 2014 tut es das genaue Gegenteil.
Statt sich über legitime Ansichten einer Osteuropa-Expertin aufzuregen, sollten Sie sich daher empören über den anhaltenden Völkerrechtsbruch und den Völkermord Russlands in der Ukraine, Syrien, Georgien, Republik Moldau. Gegen Angriffskriege sind nach der UN-Satzung alle militärischen Mittel erlaubt, auch Gegenschläge gegen das Territorium des Aggressors.
Die Ukraine gehört zu den Gründungsstaaten der UN.
Ein Krieg wie ihn Wladimir Putin und seine Clique gegen die Ukraine führen, bringt solche Stimmen hervor, wie sie im Text von Detlef zum Winkel beschrieben werden. Sie sind so gesehen nicht neu, sollten auch nicht überraschen. Wer die laufenden Diskussionen zum Thema ihres ideologischen „Designs“ entkleidet, kommt auf drei Punkte: 1. Welchen Beitrag leisten Putin und seine Clique, um den Krieg zu beenden? 2. Gibt es eine irgendwie gesicherte Vermutung, dass diesen Leuten an den Spitze Russlands zu trauen ist? Und 3. : Jeder und jede sollten diesen Krieg sehr persönlich nehmen.
Bisher wird von Putin und seinen Leuten zwecks Beendigung des Kriegs gegen die Ukraine nichts gefordert, was diese in Bedrängnis bringen könnte. Sie brauchen ja nicht mal Furcht zu haben, wie die Nazi-Spitzen vor einem Nürnberger Tribunal zu landen. Eine gesicherte Vermutung, dass Putin und Konsorten letztlich Vertrauen entgegen gebracht werden könnte, die gibt es nicht. Es sind notorische Eid- und Vertragsbrecher. Schließlich sollten wir bitte nicht so tun, als handle es sich in diesem Krieg um so eine Art „in Rutschen gebrachte Balance“ zwischen Mächten und Mächtegruppen, ein Geschehen, auf das wir aus der Entfernug schauen. Das ist ja das, was Frau Wagenknecht und anderen vorschwebt. Man müsse das alles objektiv sehen, heißt es, dann sähe man Ursachen und Folgen.
Tatsächlich geht jeden und jede dieser Krieg persönlich an. Und zwar aus folgendem Grund: In der Gegend um Kaliningrad stehen russische Iskanderraketen – startbereit. Ob sie atomar bestückt sind oder nicht, wissen wir nicht. Sie würden, gestartet, Berlin rascher erreichen als eine Zigarettenlänge dauert. Diese Raketen sind zur Verfügung Putins aufgestellt. Dem nicht zu trauen ist. Auf der anderen Seite, in Bremen oder Augsburg, Prag oder Kopenhagen stehen solche Raketen nicht. Nachweislich nicht. Daraus schließe ich, dass der russische Präsident nur die Sprache Churchills versteht. Wag es nicht.
Danke für den heiter lesbaren und treffend geschriebenen Beitrag an DZW. Auf den Punkt, Treffer versenkt. Eigentlich ein tragisches Thema, und tragische Personen, wie die dubiose und irgendwie immer auf der falschen Seite stehende Technikhistorikerin #Wendevero. Meine Vermutung inzwischen: Sie nutzt bewusst und geschickt die gesellschaftliche Gegenposition, um zu polarisieren und sich so zu vermarkten. Rein strategisch und aus individuellem Gewinnstreben. Koste es was wolle (Eskalation des Krieges, Langzeitfolgen der Hochriskotechnik Atomkraft wie verstrahlte Landschaften durch Uranabbau, Dauerstrahlung der AKW, weitere Produktion von hochradioaktivem Atommüll für tausende Generationen usw.). Tragisch vor allem, dass das immer wieder aufgeht, und ihr die Medien für ihre Show eine Bühne bieten. Insofern nochmal zurück zum Text: Danke das auch mal kritisch zu beleuchten.
Schönen Gruß von der Wendevero, Herr Anonymus „Klimagerechtigkeit“, dem Duktus nach vermutlich Herr Döschner, denn der ist der einzige, der zusammen mit Annika Joeres diese Wortwahl pflegt („Seitenwechslerin“, „WendeVero“), und damit zu verstehen gibt, die Änderung einer Position sei nur dann glaubwürdig, wenn dies einen Seitenwechsel zu seiner eigenen Position impliziert.
Ihre wie auch Herrn zum Winkels Replik ist so durchzogen von ad hominem, dass es sicherlich müßig ist, mit Ihnen eine Sachdiskission über Kerntechnik oder gar die Ukraine führen zu wollen – beides Gebiete, über die ich wissenschaftlich arbeite und auf dieser Grundlage spreche. Unter anderen habe ich eine lange Rezension des Standardwerks über die ukrainische Atom-Abrüstung geschrieben, die Sie vielleicht einmal lesen sollten: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-98561, bevor Sie sich zum Richter aufschwingen.
Ich werde meine Erwiderung auf dieses sonderbare Stück von Herrn zum Winkel an die Herausgeber schicken, aber das nicht mit Leuten wie Ihnen diskutieren, denen es alleine um eine Delegitimierung von Menschen geht statt um einen Streit in der Sache.