Wie gelingt es den Vermögenden, sogar in größten Krisen weitgehend ungeschoren davon zu kommen? Dieses Thema des Buchautors Martin Schürz müsste das Thema dieser Monate sein: Wenn die Regierungen in der EU so enorm viele Schulden machen und Steuergelder en masse in die Hand nehmen, um die globale Gesundheits- und Wirtschaftskrise wenigstens halbwegs zu bewältigen — da müssen Millionäre und Milliardäre doch gehörig bluten, um diese exorbitanten Schulden schnell wieder abbauen zu können. Nein? Nein!
Martin Schürz ist Wirtschaftswissenschaftler und Psychoanalytiker, arbeitet mit traumatisierten Jugendlichen und erforscht zugleich seit Jahren die Welt der Überreichen. Sein Buch ist auch reich an Fakten, obwohl seine These lautet: Gerade bei diesem Thema führen Fakten nicht weit. Weil Gefühle ausschlaggebend sind.
Einen Staat, in dem wenige überreich seien und viele arm, habe der griechische Philosoph Platon, Schüler von Sokrates, als „Herrschaft auf Vermögensschätzung“ bezeichnet. Das interessiert Schürz: die Vermögen. Ob jemand als Manager Hunderttausende im Jahr verdient oder einige Millionen, diese Ungleichheit in den Einkommen, die sei wenig relevant. Denn: „Herkunft und Vermögen sind … die zentralen Ursachen von Ungleichheit.“ Es geht ihm also um die Vermögen von dutzenden bis zig hunderten Millionen Euro, die auch ohne Leistung im selbstverständlichen feudalistischen Habitus an Kinder und Kindeskinder vererbt werden; und deshalb bereits in wenigen Generationen erdrückende Ausmaße annehmen. Eine Zahl: In Deutschland gibt es jährlich 1,6 Millionen Erbfälle, von denen potenziell überhaupt nur 23.000 unter die Erbschaftssteuerpflicht fallen; eine Steuer, die wiederum minimal ist.
Ungleichheit in Maßen hält Schürz für kein Problem, „unbegrenzter Reichtum“ ist es dagegen schon. Deshalb ist sein Anliegen: Privateigentum belassen, aber Vermögensgrenzen einziehen. In Deutschland spräche sogar das Grundgesetz dafür: „Eigentum verpflichtet.“ (Artikel 14) Und die Konkretisierung: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“
Aber wer ist überhaupt reich? Und wer gar überreich?
In Frankreich gibt es eine Beobachtungsstelle der Ungleichheiten, ein privates Institut, die jüngst einen Bericht vorlegte. Danach fängt in Frankreich die Welt der Reichen gleich um die Eck-Kneipe bei jedem Mittelschichts-Bürger an — nämlich bei einem Nettoverdienst pro Monat von knapp 3.500 Euro; bei einem Paar beginnt der Einkommensreichtum bereits bei gut 5.200 Euro. Für Deutschland geistern ähnlich niedrige Zahlen herum: Ein Single-Haushalt mit einem verfügbaren Monatseinkommen von 3.400 Euro zählt zu den einkommensreichsten zehn Prozent.
Wie geht es diesen ‚Reichen‘ im Alltag? Sie können in Frankfurt oder München gerade so leben, geht ihnen doch im Zweifel für ihre 80 Quadratmeter-Wohnung schon einmal 1.200 bis 1.500 Euro warm weg. Und das ist reich? Wenn so den oberen 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland ‚eingeredet‘ wird, sie seien reich, dann wundert nicht, dass bei Wahlen alle Mühen linker und linksliberaler Politik scheitern, die Vermögenssteuer wieder zu erheben und die Erbschaftssteuer zu erhöhen. Die Angst, sein eigenes kleines Eigentum zu verlieren, treibt offensichtlich diese Mittelschichten an die Seite der Reichen und gegen eine Politik, die diese höher besteuern will. Alexis de Tocqueville, Historiker, Politiker und Begründer der vergleichenden Politikwissenschaften, hat die Umstände, die dieses Bewusstsein befördern, bereits 1835 in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ so beschrieben:
„Die Menschen aber, die in einem Wohlstand leben, der von Überfluss ebenso entfernt ist wie von Elend, legen auf ihren Besitz gewaltigen Wert. Da sie der Armut noch recht benachbart sind, sehen sie deren Härte aus der Nähe, und sie fürchten sie, zwischen ihr und ihnen steht nichts als ein kleines Erbe, auf das sich ihre Ängste und Hoffnungen alsbald richten.“
Wer ist nach Schürz überreich? Es ist der große Vorzug seines Buches, dass er sein Thema ständig umrundet und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: aus wirtschaftswissenschaftlicher, sprachanalytischer, aus machtpolitischer Perspektive. Schürz: „Überreiche verfügen über Macht und prägen die Gesellschaft, in der sie leben.“ Georg Simmel, Soziologe, beschrieb diese Macht so: Ein Reicher wirke durch das, was er tue, aber auch durch das, was er (noch) nicht tue, in Phantasie und Erwartungen seiner Umwelt aber „tun könnte“. So liefert sich die Umwelt ihm buchstäblich aus, bitte, möge er oder sie doch Geld spenden, sich für jenes verwenden, bitte … . Den Überreichen erwächst aus ihren Vermögen zwangsläufig Macht. Ein Aspekt der Macht, der beispielsweise in der Tages-Berichterstattung und in öffentlichen Debatten kaum eine Rolle spielt, obwohl es der Spruch: „Geld regiert die Welt“ mit leichter Hand in den Sprachalltag geschafft hat. Schürz wehrt sich dagegen, von „Superreichen“ zu sprechen — „Super“ klinge positiv, das verbiete sich. Überreich, ein Begriff, den bereits der Philosoph Platon verwendete, passe dagegen, auch als idealer Gegenbegriff zu arm.
Klar wird: Schürz geht es um diejenigen, die viele oder gar zig tausende Millionen Euro, Milliarden besitzen. Ihnen hält er vor: Sie verletzten zwangsläufig und fundamental den Gedanken der Gerechtigkeit, trügen damit dazu bei, die Demokratie zu zerstören — nicht nur, weil sie bevorzugt würden, sondern weil sie diese Bevorzugung mittels eigener Großzügigkeit und Drohungen selbst systematisch beförderten. Ihr Überreichtum sei in einer Demokratie letztlich nicht zu begründen. Keiner von ihnen könne soviel leisten, um sein Vermögen auch nur annähernd zu rechtfertigen. Gut, es werde gesagt, ein Unternehmer sei innovativ, trage Risiken, aber wer tue das, jeder und jede auf seine Weise, in seinem Leben nicht — und verfüge meist trotzdem nur über wenige 1.000 Euro im Monat, nicht über Millionen. Und: Auf Leistung, berufliche Kompetenzen, harte Arbeit, Erfindungsgeist und Risikobereitschaft seien vielleicht einige Vermögens-Millionen zurückzuführen, aber nicht Dutzende oder gar hunderte.
Zorn gegen Flüchtlingsheime, warum nicht gegen Paläste?
Warum und wie ertragen viele Demokratien und deren BürgerInnen den exorbitanten Reichtum von wenigen? An dieser Stelle eine bekannte Zahl: Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast so viel Vermögen wie alle anderen zusammen. Warum werden die Paläste nicht gestürmt? Wo bleibt der Zorn? Schürz: Der richtet sich gegen Flüchtlingsheime, nicht gegen Paläste. Aber warum?
Schürz trägt diese Antworten zusammen: Überreiche leben abgeschottet in einer eigenen Welt, die, so behaupten sie, niemanden etwas angehe. Sie seien nicht zu beforschen, weil die Daten fehlen, so fehle der Öffentlichkeit seit vielen Jahren das Wissen um Dimension und Bedenklichkeit ihres Reichtums. Schürz: „Je näher man den Lebensverhältnissen der Reichen kommt, desto unbefriedigender wird die Datenlage.“ Ein weiteres Beispiel: Werde in Medien Reichtum bebildert, dann sehe das Publikum Luxus, von der Yacht über die teure Penthouse-Wohnung bis zum Jaguar. Wer wolle das nicht? So sei das Publikum von den Überreichen fasziniert und nicht wütend auf sie.
Warum sind sie unanfechtbar?
Es sei den Reichen und Überreichen gelungen, sich unanfechtbar zu machen. Die Indizien: Es gebe in keinem demokratischen Land angemessen drastische Maßnahmen gegen materielle Ungleichheit, das sei „geradezu tabuisiert“. Auch stünden Überreiche oft offen zu ihren Steuerbetrügereien, indem sie umgekehrt das demokratische Steuersystem als Diebstahl am Privatvermögen brandmarkten; es bestrafe ihre großen Leistungen. Schürz kommentiert dies lakonisch mit den Worten: „Diebe stellen die Eigentumsordnung nicht in Frage, sie missachten sie nur.“ Den Überreichen reiche das nicht. Schürz erinnert: Die weltweite Veröffentlichung der Panama Papers, habe, obwohl sie zeigten, wie leicht Überreiche sich Steuern entziehen könnten, letztlich nur ein Rauschen in den Medien erzeugt, keinen Zorn beim Publikum. Ohne diesen Zorn auf die Ungerechtigkeit seien jedoch die jetzigen Verhältnisse „unüberwindbar.“
Bei der Zementierung der Machtverhältnisse zugunsten der Wohlhabenden spielt nach Schürz „eine Gefühlspolitik zugunsten der Reichen einen bislang unterschätzten Beitrag.“ Er greift auf Adam Smith zurück, den Moralphilosophen und Gründervater der Wirtschaftslehre, der in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759) ausführt, dass und warum viele Menschen Reiche und Mächtige „beinahe göttlich … verehren“ und arme Menschen „verachten“. Überreiche fühlten sich heute sogar so stark, dass sie ihre Privilegien nicht länger verbergen, sondern öffentlich inszenierten, als Tugenden ausstellten, sich als „mitfühlend und großzügig“ darstellten, was „das demokratische Publikum … fasziniert.“ Mit weniger seien die Reichen auch nicht zufrieden. Denn ihnen gehe es auch um Gefühle: Sie wollten anerkannt werden, niemand solle ihre Besitztümer in Frage stellen, im Gegenteil solle ihr Besitz ihnen als verdient zuerkannt werden. Für Schürz entscheidet sich hier, wer die Macht hat: „Erst wenn alle an das moralische Recht der Reichen auf ihren Reichtum glauben, kann eine extreme Ungleichheit Bestand haben.“
Nehmen wir Bill Gates und Dietmar Hopp als Paradebeispiele. Beide verkörpern aktuell das, was Schürz beschreibt.
Heilsbringer auf den Sockeln
Dietmar Hopp, Mitgründer des Softwarekonzerns SAP und deshalb etwa neun Milliarden Euro schwer, finanziert den Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim und viele Bildungs- und Sport-Projekte in seiner Heimatregion Rhein-Neckar. Und wird deshalb auf den Sockel gestellt: In der Region tragen zahllose Straßen, Plätze und Gebäude seinen Namen. Hopp spendet und droht zugleich: So sagte er jüngst in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, wenn in Deutschland die Vermögenssteuer wieder erhoben oder die Erbschaftssteuer erhöht würde, müsse er das Land leider verlassen; sein gutes Recht und zugleich eine milliardenschwer bewehrte Drohung gegen demokratische Politik. Hopp wird von einer kleinen Minderheit, zahlreichen Fan-Clubs, seit vielen Monaten in allen Stadien beschimpft, weil er den Fußballklub finanziert und deshalb Fußball-Kapitalismus pur verkörpert. Aber: Eben jener Hopp investiert seit langem einen Teil seines Vermögens in Biotechnologie-Unternehmen. Eines davon: CureVac in Tübingen, ein Hoffnungsträger bei der Jagd nach einem Corona-Impfstoff; jüngst beteiligte sich der Bund über die staatliche KfW-Bank mit 300 Millionen Euro an dem Unternehmen. Sven Astheimer, FAZ-Kommentator, meinte jüngst: Gelinge Curevac der Durchbruch, gehöre dem Mann — also dem Milliardär, nicht den Forschern — ein Denkmal gesetzt; offensichtlich weiß der Kommentator nicht, dass diese in der Rhein-Neckar-Region bereits stehen.
Unser zweites Paradebeispiel, Bill Gates, Gründer von Microsoft, ist übrigens auch an CureVac beteiligt; mit 46 Millionen Euro. Bill Gates gilt momentan mit etwa 95 Milliarden Euro als derzeit zweitreichster Mann der Welt. Seit 2008 ist er vor allem über seine Bill&Melinda Gates Foundation als Philantroph tätig; die er mit 36 Milliarden Dollar aus seinem Vermögen ausstattete. Sicher: Er wird kritisiert, weil unklar bleibt, mit welchen Methoden seine Vermögensverwaltung das Geld der Stiftung (also seines) mehrt, weil seine Stiftung mit gut 200 Millionen Euro größter privater Spender der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist, und dabei der WHO genau vorgibt, für welche Programme seine Spenden zu verwenden seien. Aber für große Mehrheiten ist Gates derjenige, der sein halbes Vermögen für die gute Sache, den Kampf gegen Krankheiten ausgibt. Was soll daran schon schlecht sein? Gibt es irgendjemanden, der die beiden enteignen will? Oder der sie wenigstens mit der Forderung konfrontiert, die 1936 der demokratische Senator Huey Long in den USA erhob: das Vermögen für jede Privatperson auf 50 Millionen US-Dollar zu begrenzen; das wären heute vielleicht 200 Millionen US-Dollar.
Warum schaden Mäzene der Demokratie?
Was sind also die Befunde? Mit Zahlen und Fakten allein kommt bei diesem Thema niemand weiter, weil es um Gefühle geht, um Neid, Gier, Zorn, Bewunderung, Anerkennung — letztlich auf beiden Seiten. Es reiche auch nicht, allein Gier und Reichtum anzuprangern, so Schürz. Denn: „Jeder kritische Diskurs zu Reichtum ist gefährdet ins Glauben, Meinen und Moralisieren abzugleiten.“ Seine Konsequenz: Es müssten nicht nur die Schattenseiten der Überreichen angegriffen werden, sondern auch ihre Tugenden. Schließlich seien sie nicht nur wegen ihrer Laster (Steuerbetrug etc.), sondern auch wegen ihrer Tugenden (Mäzenatentum etc.) „unvereinbar mit einer Demokratie“. Denn mit ihrer persönlichen Philanthropie rechtfertigten sie ihren übermäßigen Reichtum. Dieses Mäzenatentum sei aber nichts anderes als ein undemokratischer Gegenentwurf zum kollektiven Wohlfahrtsstaat. Allein der biete den BürgerInnen Rechte und kollektiv vereinbarte verlässliche Leistungen. Mäzene wie Hopp und Gates und andere gewähren nach ihrer Gunst Wohltaten, die sie je nach (Wohl-)Verhalten der Empfangenden jederzeit kürzen, streichen, aufheben, für andere Ziele einsetzen können. So seien auch ihre Wohltaten zugleich immer Instrumente der Macht.
USA, 1930: Wie die US-Reichen zur Verantwortung gezogen wurden
Wie könnte es gelingen, den Reichen wirksamer als bisher an den Kragen zu gehen? Gibt es eine Art Gegen-Gefühlspolitik?
Schürz kennt keine Antwort, hat aber ein ebenso spannendes wie irritierendes Beispiel parat: Der us-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, selbst Millionär, hat in den 1930er Jahren gegen die besitzenden Klassen seinen — für heutige Verhältnisse revolutionären — New Deal durchgesetzt. Wie? Die Lage damals: zig Millionen Arbeitslose nach dem Börsencrash von 1929, weitreichende Armut und zugleich enorme private Vermögen. Es gab keinen Wohlfahrtsstaat, und dass der Staat private Armut bekämpft, war undenkbar.
Die Grundidee von Roosevelt: Er wollte mit Umverteilung und öffentlichen Sozial- und Arbeitsprogrammen die Krise bewältigen. Seine Politik brauchte ein Narrativ, eine Erzählung, ein emotionales Fundament. Und: Es durfte keinen Widerstand von Seiten der Reichen geben. Die Konsequenz: Seine Regierung sprach nicht über Ungerechtigkeit, Arm und Reich. Im Mittelpunkt der Regierungspropaganda stand: der Stolz auf die Nation, das zu rettende Amerika, das Leid jedes Einzelnen, der Niedergang und Börsencrash als Naturkatastrophe, die das ganze Land traf. Mit Patriotismus und Barmherzigkeit wurden Einkommen und Vermögen progressiv besteuert, öffentliche Konjunktur- und Arbeitsprogramme finanziert. Und die Überreichen von damals waren vermutlich froh, nur einen Teil ihres Vermögens abgeben zu müssen und um eine Enteignung herumgekommen zu sein.
Martin Schürz: Überreichtum. Campus Verlag, 2019. 226 Seiten, Euro 25,60
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