AUCH DAS NOCH! | Mai 2022

  • „Calling you, baby, took my very last dime“ 
  • Ein Player namens Musk
  • “Krise kann auch geil sein”
  • Ein Diplomat als Superstar der Meinungsfreiheit
  • Geliebt, gehasst, gebraucht

„Calling you, baby, took my very last dime“ 

Eine Sprecherrolle bekam sie nie, trotzdem stand sie manchmal im Zentrum des Geschehens.
In der Harry Potter Saga dient sie als Fahrstuhl, um in das unter der Erdoberfläche gelegene Ministerium für Zauberei zu gelangen. In Kriminalfilmen wird sie für anonyme Anrufe gebraucht. Auch Fans von Dr. Who wissen, wovon die Rede ist: TARDIS, eine fiktive Raum-Zeit-Maschine – hat die Form einer Telefonzelle; zum Anfassen steht sie als Fan- und Touristenattraktion am Bahnhof “Earls Court Station” in London.
Die öffentliche Telefonzelle ist aus vielen Filmen als Requisit kaum wegzudenken. Im realen Alltag geht ihre Ära zu Ende.

144 Jahre nachdem die erste der Welt errichtet wurde, übrigens in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut, hat sich New Yorks letzte öffentliche Telefonzelle auf dem Weg ins Museum gemacht. Sie stand in der Nähe des Times Square, bis ein Kran jetzt ihr Schicksal besiegelt hat. Als Ausstellungsstück kann sie demnächst im Museum of the City of New York besichtigt werden in der Sonderausstellung „Analog City“.

Ob mit Stolz oder mit Bedauern vorgetragen, die Kommentare sind eigentlich immer dieselben: Wieder hat der technische Fortschritt das Ende einer Ära eingeläutet, von der Pferdekutsche zum Auto, vom Zeppelin zum Weltraumflug, von der Telefonzelle zum Smartphone.
Statt in Euphorie oder in Nostalgie zu verfallen, lohnt es sich vielleicht zu fragen, ob sich hier nicht mehr abspielt als ein Triumph neuer Technik. Was nämlich auch noch passiert ist: Das, was einst für alle da war, ist verschwunden, weil jetzt jeder seines und jede ihres hat.

Der Abbau der letzten öffentlichen Telefonzelle in der amerikanischen Metropole kann auch als eine Etappe auf dem Siegeszug des Privaten über das Allgemeine, des Individuellen über das Kollektive gesehen werden. Interessant daran ist, wie vielfältig und wie unterschiedlich der Widerstreit ausgetragen wird zwischen öffentlichen Angelegenheiten und Privatangelegenheiten.

  • Ob man öffentliche Verkehrsmittel nimmt oder mit dem Privatauto fährt,
  • ob sozialer Wohnungsbau oder private Immobilienunternehmen Vorrang haben,
  • ob es auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten braucht oder nur Privatsender und Internetplattformen,
  • ob es ein staatliches Gewaltmonopol geben oder jeder seine eigene Waffe im Schrank haben soll,
  • ob es sinnvoll ist, Steuern zu bezahlen, oder ob nicht alle ihr Geld am besten nur für sich selbst ausgeben so wie es große Konzerne machen,
  • ob Kommunikation und Verkehr, Gesundheit und Bildung, Energie, Wasserversorgung und Müllabfuhr überhaupt noch eine öffentliche Hand benötigen – an das Verschwinden einer kleinen Telefonzelle lassen sich viele und große Fragen stellen.

Werden Angebot und Nachfrage vollständig privatisiert, dann wird alles, das ist klar, zur Preisfrage. Dann entscheidet sich auf dem Markt, wer sich was leisten kann, dann genießt das größte Privateigentum die meisten Wahlfreiheiten.

„Calling you, baby, took my very last dime, I’m in a phone booth, baby!” singt der Blues-Gitarrist Robert Cray, der seine letzten Groschen in einer Telefonzelle versenkte.
Am Ende wird auch das Museum, in dem die letzten Kollektivgüter ausgestellt werden, einem privaten Investor gehören. Der elektronische Museumsguide wird davon berichten, wie schrecklich es im 20. Jahrhundert war, als Menschen vor Telefonzellen Schlange stehen mussten und man mit Telefonen auch nicht ins Internet kam, ja nicht einmal ein Selfie machen konnte.


Ein Player namens Musk

Über Elon Musk, den gegenwärtig reichsten Menschen auf Erden, zerbrechen sich viele den Kopf – in Gesprächen, in sozialen Netzwerken, in Medienredaktionen. Nachrichten über Musk sind immer aufregend, die Legenden, die erzählt, und die Spekulationen, die angestellt werden, türmen sich so hoch wie sein Vermögen, das auf etwa 240 Milliarden US-Dollar geschätzt wird.

Elon Musk, das unlösbare Rätsel, so präsentiert er sich selbst am liebsten. Aber die Lösung ist ganz einfach: Musk ist ein Spieler. Sein Playground reicht von Texas über Brandenburg bis ins All. Aus dem All stellt er zum Beispiel der Ukraine sein Satellitennetzwerk Starlink zur Verfügung, in Brandenburg sorgt seine Tesla-Fabrik für Wasserknappheit.
Musk spielt nach der Devise „the winner takes it all“. Er gewinnt so oft, weil er sich kaum an Regeln hält, sondern möglichst seine eigenen macht. Dazu, hier sind wir am entscheidenden Punkt, braucht es immer andere, die das mit sich machen lassen.

Die Börsen jedenfalls spielen mit. Auf jeden Spielzug des dreifachen Staatsbürgers, und sei es nur ein Tweet, reagieren sie, als habe eine Weissagung des Propheten das irdische Dasein erleuchtet. In diesen Wochen gehen Blitz und Donner über Twitter hernieder. Seine Ankündigung, den Mikrobloggingdienst kaufen zu wollen, war so verschwommen, dass die meisten davon ausgingen, er hätte ihn bereits gekauft – und zwar für 44 Milliarden Dollar. Nachdem er eine Weile schon Chef gespielt hat, ohne es tatsächlich zu sein, redet er inzwischen sein neues Spielzeug erst einmal schlecht, um den Kaufpreis zu drücken.

Weltweit sind zur Zeit rund 345 Millionen Twitter-Accounts registriert. Musk verkündet auf Twitter, der Anteil der Spam- und Fake-Accounts sei viel höher als die vom Unternehmen geschätzten maximal fünf Prozent. Seiner Meinung nach machten Bots mindestens 20 Prozent aus; es könnten aber, so spekuliert er, auch 90 Prozent sein und regt an, dass die Börsenaufsicht die Angaben des Konzerns überprüft. Auf die Versuche von Twitter-Chef Parag Agrawal, die Problemlage zu erläutern, reagierte Musk mit einem Kothaufen-Emoji und der süffisanten Frage, ob Twitter schon probiert habe, die verdächtigen Accounts schlicht und einfach mal anzurufen.

Das Geplänkel verrät viel über die virtuelle Welt. Mit wem man gerade kommuniziert, weiß man nie so genau: Mit anderen Menschen oder mit einem Computer, der sein Programm abspult. Wie viele User Roboter sind, wie viele Follower im Paket gekauft wurden, wer weiß es schon und wer will es überhaupt wissen.

Ob Twitter einen neuen Eigentümer bekommen wird und falls ja, zu welchem Preis und mit welchen Folgen für die Geschäftspolitik, gehört gegenwärtig zu den offenen Fragen. Donald Trump und mit ihm andere Rechtspopulisten machen sich Hoffnung auf wachsenden Einfluss, hat Musk doch getwittert, er werde in Zukunft Republikaner wählen; denn aus den Demokraten sei eine „Partei der Spaltung und des Hasses geworden“. Die politische Öffentlichkeit lässt allerdings nicht ganz so willfährig mit sich spielen wie die Börse.

Unter den tausend Fragen, die Musk umschwirren wie Motten das Licht, kommt die wichtigste nur sehr selten vor, die Frage nämlich, wie irre es eigentlich ist, dass ein einzelner Mensch über solche Geldsummen verfügt und damit quasi alles machen kann, was ihm so einfällt.
Sämtliche Staatsausgaben der Schweiz des Jahres 2019 zusammengenommen, des Bundes, der Kantone der Gemeinden und der Sozialversicherungen, betrugen rund 225 Milliarden Schweizer Franken, also weniger als das Vermögen von Elon Musk. Das heißt, in der Hand einer einzelnen Person liegt so viel Geld wie die öffentlichen Hände der Schweiz, wahrlich kein armes Land, in einem ganzen Jahr ausgegeben haben.

Elon Musk ist nur das weithin sichtbare Symptom fundamentaler Fehlentwicklungen der sozialen Frage und der Machtfrage.
Der Luxusgütermarkt boomt, der globale Umsatz an Luxuswaren, also an Waren, die niemand braucht, lag 2021 bei 283 Milliarden Euro – rund 40 Milliarden über dem Vermögen von Musk. Auf seinem Album „Luxus“ singt Herbert Grönemeyer treffend: „Umgeben uns nur mit Kashmir und mit Seide, alle Wünsche sind erfüllt, Ideale verkauft, Hoffnungen Hirngespinste, Luxus ist das, was uns zusammenhält“.

Was uns auseinander treibt, ist die Tatsache, dass gleichzeitig die Zahl der Menschen wieder steigt, die an Hunger sterben oder selbst in reichen Industrieländern am Existenzminimum leben müssen.

Es geht aber nicht nur um die Verteilungsfrage, sondern auch um Machtfragen. Superreiche wie Elon Musk machen zwar keine Gesetze, aber – siehe Tesla in Brandenburg – können großen Einfluss darauf nehmen. Mit ihren Investitionsentscheidungen steuern sie technische und wirtschaftliche Entwicklungen. Wohin? Global gesehen in soziale und ökologische Abgründe.


“Krise kann auch geil sein”

‚Da sieht man es mal wieder, auch die Guten sind gierig. Wir haben Fynn Kliemanns flauschige Geschichte gerne geglaubt, dass er der coole Typ ist, der die Welt besser macht. Verdrängt haben wir dabei, dass es am Ende immer ums Geldmachen geht.‘ So klingt die allgemeine öffentliche Reaktion auf einen Skandal, der vom ZDF Magazin Royal aufgedeckt wurde.

Herausgestellt hat sich bei dem Entertainer und Unternehmer Fynn Kliemann schlicht und einfach Betrug, vor allem bei großangelegten Corona-Schutzmasken-Deals. Die ersten Strafanzeigen wurden gestellt. Der Sonderpreis des Next Economy Awards der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis wurde Kliemann wieder aberkannt, weil er, so die offizielle Begründung, „unlautere Methoden angewendet und uns mit Greenwashing hintergangen hat“.

In seinen Reaktionen auf den Skandal bleibt sich Kliemann treu. „Krise kann auch geil sein“, sagte er über die Coronakrise, als er noch auf ihren Wellen surfte. Er präsentiert sich auch jetzt als Wellenreiter, immer oben bleiben, jede Welle ausnutzen, egal woher sie kommt und wohin sie führt. „Ich saß zwischen den Stühlen, ich war nicht Auftraggeber, nicht Verkäufer, nicht Käufer und habe nicht daran verdient. Ich war nur die Galionsfigur und habe mich nicht gewehrt, wenn ich dafür gefeiert wurde.“ Alles Betrügerische sei, wenn es denn überhaupt geschah, ohne sein Zutun und Wissen passiert.

Ich denke, das zugrundeliegende Problem hat gar nicht den Namen Kliemann.
Die westlichen Gesellschaften von San Francisco bis Helsinki haben sich eine gigantische Zwickmühle gebaut, in der viele, die groß hinaus wollen, Gefahr laufen, klein gemahlen zu werden. Verlangt werden auf der einen Seite privater unternehmerischer Erfolg, der sich an der wachsenden Habenseite der Bilanz bemisst; und auf der anderen Seite gemeinwohlorientiertes, ökologisch und sozial verantwortliches Verhalten.

Wie ist dieser Spagat zu schaffen? Wie gelingt es, das private Kapital und das öffentliche Ansehen gleichzeitig zu vermehren? Tatsächlich ist dieser Spagat immer weniger zu schaffen, weil auf beiden Seiten die Ansprüche steigen: Die globale Konkurrenz wird härter, die gesellschaftlichen Erwartungen an Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit steigen.

Herausgekommen ist eine Scheinlösung, die den englischen Familiennamen „Washing“ hat und farbige Vornamen wie green, blue, pink und social; wobei Social-Washing auch Redwashing heißen könnte. Praktisch bedeutet es: Die Wirtschaft arbeitet so rücksichtslos, dass ihre Hände notwendigerweise schmutzig werden, präsentiert sich der Öffentlichkeit aber frischgewaschen in den prächtigen Farben ökologischer und moralischer Verantwortung, sexueller Toleranz und sozialen Engagements.

Die Bürgerinnen und Bürger ahnen, dass da etwas nicht stimmen kann, Wählerinnen und Wähler wissen nicht mehr, was und wem sie glauben sollen. Das macht sie misstrauisch und das ist auch gut so, damit es am Ende nicht wie bei Michael Jackson heißt: “You’ve been hit by, You’ve been struck by a smooth criminal“.

Kein Podcast kann so lang sein, dass er alle aufgedeckten Fälle der letzten Jahre auflisten könnte. Hier nur fünf allgemein bekannte Beispiele:

  • Ikea verkündet das Motto „Waldpositiv“, lässt aber wie andere auch Möbel mit Holz aus illegalen Rodungen produzieren.
  • VW lobt sich als integer und gesetzestreu, hat aber wie andere auch den Dieselskandal am Hals.
  • Nespresso nennt sich umweltfreundlich, verkauft aber wie andere auch Kaffee in Alukapseln.
  • Der Energiekonzern RWE lässt sich für seinen kreativen Markenauftritt feiern, bekommt aber auch den Schmähpreis „Goldener Geier“ als „dreistester Umweltlügner“.
  • H&M spricht von seiner nachhaltigen Concious choice Kollektion, treibt aber wie andere auch den Fast Fashion Boom weiter: Die großen Modehändler reden von Kreislaufwirtschaft, aber ihre Billigwaren werden in afrikanischen Ländern als Müll auf offenen Feuern verbrannt und die Plastikreste ins Meer gespült. Der Natur werden Unmengen an Rohstoffen entzogen, die Gesundheit nimmt Schaden wegen giftiger Chemikalien und die Arbeit findet oft unter menschenunwürdigen Bedingungen statt.

Was sagen uns die vielen Einzelfälle? Dass wir ein Grundsatzproblem haben. Der kleine Fisch Fynn Kliemann hängt am Haken, ein Einzelfall wird skandalisiert, aber die Sache selbst geht in großem Stil weiter. Flauschige Fakes verhüllen schmutzige Fakten.


Ein Diplomat als Superstar der Meinungsfreiheit

Der ukrainische Botschafter Andrij Jaroslawowytsch Melnyk wird wohl die Ehrennadel des Deutschen Fleischerverbandes bekommen, weil er – unter unfreiwilliger Mithilfe des deutschen Bundeskanzlers – die Leberwurst zeitweise auf Platz eins der Twitter-Trendthemen gebracht hat. Ein Diplomat als Superstar der Meinungsfreiheit, das hat Seltenheitswert. Aber es ändert sich gerade sehr viel mehr als diplomatische Gepflogenheiten.

Durch den russischen Krieg erscheint die Vergangenheit in einem ganz anderen Licht, Gegenwart und Zukunft verdunkeln sich. Themen und Probleme, über die sich streiten lässt, vermehren sich explosionsartig. Denn sobald sich die Umstände ändern, kann sich als Fehler erweisen, was gestern noch zu 99 Prozent richtig schien; und was als berechenbare Zukunft galt, löst sich in wüste Drohungen und wilde Spekulationen auf.

Dabei entsteht ein interessantes Phänomen: Je unübersichtlicher die Lage, desto lauter die Ansprüche, recht zu haben. Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal das Maul aufreißen. Als ob reale Unklarheiten verschwinden würden, sobald man sich selbst zum Pächter der einen Wahrheit ernennt und Menschen mit anderer Meinung beschimpft und beleidigt.
Für die Kommunikationsmaschinen der professionellen und der sozialen Medien ist das alles ein gefundenes Fressen. Erregte und empörte Stimmen, die zu Wort kommen und zitiert werden wollen, bieten sich im Dutzend billiger an. Der offene Brief – ich unterschreibe, also bin ich – dient gegenwärtig als schärfste Waffe im Meinungskampf.

Bei Erregung und Empörung steht der Unterhaltungswert im umgekehrten Verhältnis zum Informationswert. Mit Erregung und Empörung zu reagieren, das geht immer und zwar gerade dann, wenn man nichts verstanden hat. Sich empören und Nachdenken vertragen sich nicht. Wenn die Emotion hoch geht, sinkt die Reflexion unter Null.

Sich als einzelner und als einzige aufzuregen, das bringt es allerdings auch nicht; man läuft sogar Gefahr, als Idiot dazustehen. Erregung und Empörung brauchen die Rudelbildung. Der erste Blick gilt der Frage, wer ist für mich, wer ist gegen mich und dann fallen die Rudel übereinander her.
Die gesellschaftlichen Zustände sprechen, wohin man blickt, wahrhaftig für Aufregung, Kritik und Protest. Aber die Antwort auf Krisen und Krieg kann doch nicht die Eskalation der politischen Unvernunft sein. Nach Corona wird jetzt der russische Krieg verschwörungsideologisch aufgeladen. Dass es – wie Umfragen zeigen – Wählerinnen und Wähler der AfD sind, die hier mit großem Abstand vorwegmarschieren, kann nicht überraschen. Ungeimpfte und Menschen, die auch zu Protesten gegen Coronamaßnahmen neigen, sehen im russischen Krieg eine weitere Weltverschwörung von Eliten.

Doch das ist nur die Spitze der Narretei. Das politisch-kulturelle Klima kippt insgesamt in diese Richtung von Empörung, Beschimpfung und Verteufelung. „Und der Rest liebt die Empörung, mal Skandal und mal Verschwörung“ singt Marcus Gather auf seiner CD „Das neue Narrenschiff“.
Meinungsfreiheit ist eine feine Sache, solange alle einer Meinung sind, am besten meiner. Wie bei jeder anderen Freiheit kommt es darauf an, welcher Gebrauch von ihr gemacht wird. Argumentieren und widersprechen, ist etwas ganz anderes, als beschimpfen und beleidigen.

In einer Biografie des Aufklärers Voltaire kann man lesen: “ I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it” – Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Das klingt irgendwie schön… irgendwie nach zivilisierteren Zeiten. Irgendwie so, als sollten wir zu dieser Haltung zurückkehren.


Geliebt, gehasst, gebraucht

Man verflucht mich, man liebt mich, man hasst mich, ohne mich geht es nicht.
Aber ich will mich erstmal vorstellen: Guten Tag, mein Name ist Arbeit. Ich muss dringend meine work-life-balance verbessern.
Workspaces, Co-Working, workload, workflow, remote work, work and travel… im modernen Leben bin ich allgegenwärtig. Das Leben und ich werden überhaupt gerne in einem Atemzug genannt. Gute Arbeit und ein gutes Leben, das wünschen sich alle. Als Symbol dieses Wunsches dient der Tag der Arbeit.
Arbeit, so sagen kluge Leute über mich, sei eine Tätigkeit für andere. Aber eben auch für sich selbst, nicht nur materiell, weil Gebrauchswerte und Tauschwerte entstehen; sondern auch sozial, weil ich Kontakte und Kooperationen fördere. Es kann viel Spaß machen, etwas zu erarbeiten; mitzumachen, wenn eine neue Idee Gestalt annimmt und am Ende das fertige Produkt zu genießen.

Es gibt mich übrigens in einer bezahlten Variante und in einer unbezahlten. Für die unbezahlte Arbeit hat der liebe Gott in weiser Voraussicht Frauen erschaffen.
Leider bin ich auch ein abschreckendes Beispiel dafür, wie Menschen aus einer guten Sache Krisen und Katastrophen machen. Mir ist schon klar, dass ich auch eine destruktive Seite habe, das ist mir durchaus bewusst. Um etwas herzustellen, muss oft etwas anderes kaputt gemacht werden: nach Öl gebohrt, der Baum gefällt, das Schwein geschlachtet. Aber wer sagt denn, dass diese Zerstörungen so weit gehen müssen, dass Tiere gequält und die natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten verwüstet werden?

Hegen und Pflegen ist auch eine Arbeitsleistung, ich hindere niemanden daran, sich ökologisch verantwortungsvoll und sozial gerecht zu verhalten. Ich bin dazu da, dass sich alle mit den notwendigen und mit den schönen Dingen des Lebens versorgen können.

Das Attraktive an mir ist, dass ich zwei Seiten habe, nämlich die Leistung und den Konsum. Meine Produkte und meine Dienste sind begehrt. Aber ich fürchte, meine zwei Seiten sind zugleich mein Verhängnis.

Schon immer haben rücksichtslose Leute mit Gewalt und mit ideologischen Tricks anderen die Leistungen aufgezwungen und selbst den Konsum beansprucht. Sklaven und Großgrundbesitzer, Mägde und Herren, Bauern und Adlige, Werktätige und Oligarchen – die Grundkonstellation ist stets dieselbe: Unterdrückung und Ausbeutung auf der einen Seite, Herrschaft und Luxus auf der anderen.

„Sklavenhändler, hast du Arbeit für mich?“, singen Ton Steine Scherbe. „Sklavenhändler, ich tu’ alles für dich. Ich verkauf’ dir meine Hände. Ich verkauf’ dir meinen Kopf. Ich versprech’ dir, nicht viel zu denken und ich schau’ dir nicht in deinen Topf.“

Keine Revolution, auch nicht die bürgerliche, nicht einmal die sogenannte sozialistische, konnte daran bisher etwas ändern. Seit allerdings das Kapital die Regie über mich übernommen hat, geht es mit mir stetig bergab. Alle reden von „Drecksarbeit“, „Bullshit-Jobs“, „gigwork“, „crowdwork“, das Wort Arbeiter ist inzwischen schon fast ein Schimpfwort.

Wer Arbeiter oder Arbeiterin sagt, meint Menschen, die es zu nichts gebracht haben. Karl Marx ist einer der wenigen, die Arbeiter klasse fanden. Aber sein dickes Hauptwerk hat er dann doch nicht über die Arbeiterklasse geschrieben, sondern lieber über das Kapital.
Es geht heute gar nicht mehr um mich, es geht nur noch ums Geld. Ich bin das Opfer von Spekulanten geworden. Wie Kinder vor ihren aufgetürmten Bauklötzchen stehen die Milliardäre vor ihren Geldbergen und vergleichen, wer den höchsten hat. Aus mir ist eine Geldmaschine geworden, die Tag und Nacht am Laufen gehalten wird; ob von lebendigen Menschen oder von Robotern ist lediglich eine Kostenfrage.

Es war mir schon immer verdächtig, dass die Leute an meinem Tag, am Tag der Arbeit, lieber nicht arbeiten. Aber ich kann es ihnen nicht verdenken. Am 5. August ist übrigens der Tag des Bieres. Cheers.

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