AUCH DAS NOCH! September 2022

  • Sex, Drugs and Education
  • Cliffhanger, Teaser und andere Lockvögel

Sex, Drugs and Education

„Jeder hat das Recht auf Bildung“, sagt Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Aber es gibt – auch das noch: Bildung kann auch Sünde sein.

So sieht es jedenfalls die täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft der Amischen. Ihre Wurzeln haben die Amischen in der Schweiz und Süddeutschland, ihre größte Gemeinde befindet sich heute in den Vereinigten Staaten, in Berlin, Ohio. Sie pflügen ihre Felder mit Pferden, haben weder Strom noch fließendes Wasser, sie weigern sich, an politischen Wahlen teilzunehmen und halten Fernseher, Computer, Telefone und Handys für Teufelswerk. Über den religiösen Führer einer Amischen-Gemeinde in Ost-Ohio wurde vor einigen Jahren berichtet, er habe Sex mit verheirateten Frauen, um sie “vom Teufel zu reinigen”; Unfolgsame habe er geschlagen oder gezwungen, in einem Hühnerkäfig zu schlafen.

Warum nehmen selbst junge Menschen das alles auf sich, warum brechen sie nicht aus und machen sich auf in die moderne Zivilisation? Die Antwort einer ehemaligen Amisch ist eindeutig: Wegen des gut geführten demütigen Lebens und der strengen Religiösität sei der Eintritt ins Paradies garantiert. Niemand werde gezwungen, bei den Amischen zu bleiben, dennoch sei die Austrittsquote sehr niedrig. Das liege auch daran, dass die Amisch eigentlich ganz froh darüber sind, vom Rest der Welt nicht so viel mitzubekommen und in ihrem eigenen Universum zu leben.
Vom Rest dieser Welt nicht so viel mitzubekommen, das klingt, wenn ich mal so drüber nachdenke, eigentlich ganz verlockend… trotzdem… ich halte mich lieber an die Toten Hosen: „Ich will nicht ins Paradies | Wenn der Weg dorthin so schwierig ist | Ich stelle keinen Antrag auf Asyl | Meinetwegen bleib’ ich hier.“

Die Bildungsfeindlichkeit dieser Glaubensgemeinschaft kann man unter dem Namen Sekte abhaken. Aber es gibt – auch das noch und es passt ins gegenwärtige Bild des Abschieds von alten Ideen wie Menschenrechte, Demokratie, Aufklärung: Man liest 2022 in renommierten Massenmedien, dass linke Bildungsideale ausgedient hätten. Von einer “Gerechtigkeitsindustrie” , der Einhalt geboten werden müsse, ist die Rede. Und “soziale Mobilität nach unten” dürfe kein Tabu sein, die “Abstiegsgesellschaft” sei kein Grund zur Aufregung, sondern ein Stück Notwendigkeit.

Die alte Klage der “Überakademisierung” geistert wieder durch die Lande. Dem deutschen Handwerkspräsidenten dient die sogenannte Überakademisierung als Erklärung für den Fachkräftemangel. Worüber er lieber nicht redet: Deutschland hat mehr als zwei Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren mit niedriger Schuldbildung und ohne Berufsabschluss, die als Ungelernte auf dem Arbeitsmarkt ziemlich aussichtslos dastehen.

Der ungarische Rechnungshof sieht das Problem vor allem bei der Überakademisierung von Frauen. Sie führe zu demografischen Fehlentwicklungen, denn es sinke die Heiratswahrscheinlichkeit und damit die Chance auf Kinder. Auch dass an ungarischen Hochschulen inzwischen mehr Frauen als Männer studieren, wirke sich negativ auf die Geburtenrate aus. Historische Tatsache ist: Gerade Universitäten waren für Frauen jahrhundertelang Sperrgebiet, auch im Land der Dichter und Denker.

Es ist ein alter Verdacht, so eine Art Evergreen der Eliten, dass Bildung den Menschen verdirbt, ihm seine natürliche Demut und Bescheidenheit raubt. Der Ungebildete ist der Unverdorbene, diese Idee hat auch heute noch Anhänger. Ob in Kutten und mit langen Bärten oder im Maßanzug und frisch rasiert: Bevormundung und Unterdrückung zu praktizieren und gleichzeitig gegen mehr Bildung zu sein, Bildung für eine Droge zu halten, die kritisch und aufmüpfig macht, das gehört zusammen.

Eine persönliche Bemerkung zum Schluss. Der Auchdasnoch-Podcast war ein Jahr lang jeden Sonntag auf Sendung – jetzt ist erst einmal Schluss. Joe Kerr nimmt sich eine Auszeit und wird später gelegentlich wieder zum Mikrofon greifen. Thank you for travelling with us zu Bruchstücken des gewöhnlichen Wahnsinns.

Cliffhanger, Teaser und andere Lockvögel

Über die reißerische Schlagzeile als Eyecatcher ist schon lange alles gesagt. Die Heavy Metal Band Exodus hat es drastisch zugespitzt:
„False headlines full of lies to keep us entertained
Promises made to lure you in, yet nothing gained
Draw you in like vultures to a pile of rotting meat“

Unhaltbare Versprechungen, um uns anzulocken, machen aber nicht nur Schlagzeilen. Im Internet muss auch der erste Absatz – der sogenannte Teaser – als Köder dienen, mehr sehen, lesen oder hören zu wollen.

Für den Journalismus von gestern war klar, dass der erste Absatz einer Nachricht die Hauptsache, die wichtigste Information enthalten muss. Dabei galt es, die relevanten W-Fragen zu beantworten, also wer, was, wann, wo und am besten noch warum, damit das Publikum die Nachricht halbwegs einordnen konnte. Die hohe Kunst des ersten Absatzes war ein Meilenstein der journalistischen Ausbildung – und ist es auch geblieben, aber auf eine ganz andere Weise.

Wer sich an eine Öffentlichkeit wendet – und sei es eine Schulklasse, ein Auditorium oder eben das Publikum eines Massenmediums – begibt sich in einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Dieser Tatbestand ist steinalt. Was sich wandelt, sind die Methoden und der Aufwand, der nötig ist, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Zu den raffinierteren Methoden gehört der Cliffhanger.

1873 erschien der Roman A Pair of Blue Eyes des englischen Schriftstellers Thomas Hardy. Er wurde in einer Zeitschrift als Fortsetzungsroman publiziert und jeder Teil sollte Anreize bieten, auch die nächste Folge zu lesen. Um nicht tödlich abzustürzen, hält sich der Protagonist des Romans am Schluss einer Folge an einem Grasbüschel fest, das an einer Klippe wächst. Diese Szene gilt als Geburtsort der Bezeichnung Cliffhanger.

Inzwischen kennt man diese Methode aus zahllosen Film- und Fernseh-Serien und aus der Platzierung von Werbeunterbrechungen. Direkt vor der Werbepause wird es noch einmal richtig spannend, damit das Publikum dabei bleibt.
Wie weckt man den Wunsch, zu wissen wie es weiter geht? Das ist die große Frage, die den Online-Journalismus heute mehr umtreibt als jede andere. Da kann passieren, was will, das Publikum muss zu dem Klick verführt werden, der über den ersten Absatz hinausführt. Klicks sind die Währung der Internet-Ökonomie.


Kein Thema bleibt verschont und sei es noch so schwergewichtig. Krieg, Pandemie, Klimawandel – Online-Nachrichten fallen über das Publikum her wie ein Lockvogel-Schwarm. Köder auszuwerfen, ist zur ersten Journalisten-Pflicht geworden. Das liest sich dann zum Beispiel so:

 Zu den Sternen fliegen? Die Klimakrise bezwingen? Die Menschheit kann alle Probleme lösen, sagt der britische Physiker David Deutsch. Er weiß auch, wie. Bitte klicken, wenn sie es auch wissen möchten.

 Oder: Vor allem junge Männer haben nach der Coronaimpfung ein erhöhtes Risiko von Herzmuskelentzündungen. Eine Studie zieht nun einen historischen Vergleich, der überraschen könnte. Bitte klicken, wenn sie sich überraschen lassen wollen.

 Oder: Wenn Milliardäre Schiffe in Auftrag geben, wird geklotzt und geprotzt, wie ein aktuelles Ranking zeigt. Eines wird sie bald alle übertreffen. Bitte klicken, wenn sie neugierig geworden sind.

Immer wird die scheinbar interessanteste Information zurückgehalten. Jedes Mal wird suggeriert, das Beste kommt noch. Und in aller Regel versprechen die vagen Andeutungen weit mehr, als der Text dann zu bieten hat.

Auf den Boulevard-Plattformen kommt die Anmache, die unter dem Oberbegriff Clickbaiting läuft, in der Regel noch platter daher:
„So haben Sie Boris Becker noch nie gesehen“. Oder: „Dieses Insekt in der Wohnung sollten sie sofort bekämpfen“. Und: „Wir können nicht glauben, dass dies das Auto ist, das Helene Fischer fährt.“ Oder: „Vitali Klitschko: Scheidung nach 26 Jahren! Das ist der wahre Grund.“
Was hier produziert wird, nennt man einen curiosity gap, eine Neugierlücke, in die das Publikum hineintappen soll wie ein Kind in jede Pfütze.

Der Lockvogel-Journalismus hat sich durchgesetzt, er ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Aufmerksamkeitsökonomie des Internets die Kommunikation verändert. Information wird zur Nebensache, Animation zur Hauptaufgabe. Die Redaktionen verlassen sich darauf, dass Oscar Wild recht hat: „Die Öffentlichkeit hat eine unstillbare Neugier, alles zu wissen, nur nicht das Wissenswerte.“ 

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