Putins Realität und die Wirklichkeit

Bild: Asar Studios auf wikimedia commons

Russland sei bereit zu „Friedensverhandlungen auf dem Boden der Realität“ lässt Vladimir Putin verkünden, um dann sogleich realitätsferne Maximalziele zu nennen. Der Westen und die Ukraine haben Putins Forderung nach weiteren Gebietsabtretungen, Regimewechsel in Kiew, Demilitarisierung, Aufhebung der Sanktionen und Ausschluss einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft unmittelbar zurückgewiesen. Putins Maximalforderungen sind nicht nur völkerrechtswidrig und kompromisslos, sie haben nichts mit der Realität zu tun. Was ist die Realität am Boden?

  • 1. Die Ukraine ist inzwischen ein enger Partner der NATO. Um es klar auszusprechen: sie ist ein de facto Mitglied.
  • 2. Über die Regierung in der Ukraine bestimmt das ukrainische Volk. Putin hat in der Realität keine Möglichkeit zu beeinflussen oder gar zu entscheiden, wer in Kiew regiert.
  • 3. Russland hat keine Möglichkeiten den Westen zur Aufhebung der Sanktionen zu zwingen und hat keinen Zugriff auf 300 Milliarden russisches Auslandsvermögen. Die Vermögenswerte sind in den Händen des Westen. Sie sind für Russland verloren. Ausgehend von dieser Realität stehen diese Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine zur Verfügung.
  • 4. Russland hält einen Teil der Ukraine besetzt, aber keineswegs das gesamte Territorium jener vier Oblaste, die es auf dem Papier annektiert hat.

Ein Waffenstillstand auf der Grundlage der Realität würde also einerseits bedeuten: Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, demokratische Wahlen in der Ukraine und Verwendung der russischen 300 Milliarden für den Wiederaufbau und Fortbestand der Sanktionen solange Russland keinen Friedensvertrag mit der Ukraine unterzeichnet. Andererseits würde Russland weiterhin völkerrechtwidrig die eroberten und von russischen Bomben schwer verwüsteten Teile im Osten der Ukraine besetzt halten. Was die Russen zerbombt haben, müssten sie dort selbst wiederaufbauen. Wie viele Ukrainer und Ukrainerinnen allerdings dann dort unter russischer Besatzung noch leben wollen oder sich lieber in die freie Ukraine aufmachen, ist eine offene Frage.

Siegen durch friedlichen Wiederaufbau

Die Ukraine kann den Krieg gegen Russland nicht gewinnen, aber sie hat alle Chancen, sobald die Waffen schweigen, im Frieden zu siegen. Das von Putin in 25 Jahren herabgewirtschaftete Russland hat sich als unfähig erwiesen, seinen Bürgern ein gutes Leben zu ermöglichen und das Land zu entwickeln. Der Krieg mag das Putinregime stabilisieren, aber im Frieden wird seine Unzulänglichkeit zur Unzufriedenheit führen. Eine sich mit westlicher Hilfe erholende und entwickelnde Ukraine hat dagegen das Potential, ein überzeugendes demokratisches Gegenmodell zu werden: vergleichbar der Überlegenheit Westdeutschlands gegenüber der DDR oder Südkoreas gegenüber dem Norden. Im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wettkampf mit der russischen Klepto-Diktatur kann die Ukraine siegen, wenn es ihr gelingt, der eigenen Korruption Herr zu werden, und der Westen bereit ist, eine industriepolitische Wiederaufbaustrategie der ukrainischen Volkswirtschaft zu unterstützen.

Selenskyjs Zehn-Punkte-Friedensplan ist moralisch unbestreitbar gerechtfertigt, aber nicht realitätstüchtiger als Putins Vorstellungen. Im Gegensatz zur zunehmend illusionären Lösung durch jahrelangen Krieg die vollständige Befreiung des ukrainischen Territoriums erreichen zu wollen, wäre ein Waffenstillstand auf der Basis der oben genannten Realitäten nicht nur ein Weg, das tausendfache Sterben zu beenden und die militärische Eskalationsgefahr zu stoppen, sondern auch die beste Chance durch den friedlichen Wiederaufbau letztendlich zu siegen.

Bleibt die Frage, wie kann es gelingen, Putin auf den Boden der Realität zu bringen. Eine klare Antwort darauf hat niemand, aber anders als auf dem Bürgenstock könnte wohl kaum eine Regierung dieser Welt einem solch weitreichendem Friedenszugeständnis der Ukraine die Unterstützung versagen. Eine Bereitschaft der Ukraine, den Landraub zwar in keiner Weise anzuerkennen, aber auf das Ziel der militärischen Rückeroberung zu verzichten, hätte das Potential, Russland international zu isolieren. China, Indien und andere, die sich bisher in dem Konflikt prorussisch oder neutral verhalten haben, wären gefordert, auf Russland einzuwirken, das Schießen einzustellen. Parallel zu einem solchen Vorschlag müsste Putin signalisiert werden, dass Russland sich im Falle der Ablehnung auf eine noch weitergehende, massivere und entschlossenere militärische Unterstützung der Ukraine einstellen muss.

 Es besteht zweifellos die Gefahr, dass Putin sich in seiner aggressiven Außenpolitik bestärkt fühlt, wenn er einen beträchtlichen Teil der Ukraine unter seiner Gewalt behält, aber genauso besteht die Gefahr, dass ein aus den besetzen Gebieten militärisch vertriebenes Russland mit aller Kraft an einer Revanche arbeiten wird. So wie im Frieden von Versailles ein deutscher Revanchekrieg bereits angelegt war.

Wenn es einer kann, dann er

Foto: The Presidential Office of Ukraine auf wikimedia commons

Es gibt wenig Grund, bei einem Waffenstillstand Putin zu vertrauen, und Putin wird fürchten, dass ein Waffenstillstand der Ukraine die Atempause verschafft, mit Hilfe westlicher Aufrüstung eine Rückeroberung der geraubten Gebiete zu versuchen. Gegenseitige Abschreckung und defensive Aufrüstung scheinen in einer ersten Phase unweigerlich geboten, damit die sich Misstrauenden den fragilen Waffenstillstand nicht zu brechen wagen und ein weiteres Vorrücken Russlands ausgeschlossen ist. Von da ist es ein langer Weg, um irgendwann wieder zu einer Annäherung zu kommen. Ob, wie und wann dies möglich sein kann, ist heute nicht nur Spekulation, sondern angesichts der Realitäten am Boden völlig verfrüht. Doch dass solche Wege gefunden werden können, zeigen historische Beispiele von der französisch-deutschen Aussöhnung, über das friedliche Ende des Apartheidregimes bis hin zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Vietnam und den USA.

Darf man einen solchen Vorschlag machen, der den Landraub des Diktators im Kreml als momentan nicht zu änderndes Unrecht hinnimmt? Diejenigen, die dazu empört „nein“ sagen, müssen glauben, dass der Krieg militärisch gewonnen werden kann bzw. zumindest die Ukraine ihre Position auf dem Schlachtfeld wesentlich verbessern kann, und sie müssen das Risiko einer sich immer weiterdrehenden Eskalationsspirale geringschätzen. Ich teile den Optimismus nicht, noch möchte ich mich auf Putins Vernunft verlassen müssen, dass er, auch wenn er am Verlieren ist, auf eine Eskalationen bis zur Nuklearoption verzichtet.

Kann der ukrainische Präsident nach all den Opfern einer solchen Vorschlag aussprechen, ohne dass Vertrauen seines Volkes und insbesondere der kämpfenden Männer und Frauen zu verlieren? Wenn es einer kann, dann er.

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Frank Hoffer
Dr. Frank Hoffer ist ehemaliger Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und Associate Fellow an der Global Labour University Online Academy. Zuvor war er als Sozialreferent in der Deutschen Botschaft in Moskau und Minsk sowie als Geschäftsführer der Initiative ACT tätig, die sich für existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie einsetzt.

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